Münchner Szenen oder Weißwurst vor Zwölf
Verfasst: 10.03.2009, 18:30
Münchner Szenen
oder
Weißwurst vor Zwölf
(Konzeptive Arbeitsgrundlage. Gespielt und/oder gelesen. Das Bühnenbild kann, muss aber nicht den Schauplätzen entsprechen. Es reicht auch ein Stuhl. Denkbar ebenso eine leere Bühne, auf der die Stellplätze der einzelnen Gebäude/Orte mit Kreide aufgezeichnet sind, falls ein solcher Nachahmungseffekt dem Regisseur angemessen erscheint. Die Reihenfolge der Sequenzen sollte unbedingt eingehalten werden. Mundartliche Abweichungen vom Originaltext [soweit nicht vorgegeben], sind regionalen Aufführungsgegebenheiten anzupassen. Eine szenische Ausarbeitung der erzählenden Passagen ist weder unerwünscht noch erforderlich und sollte eine angemessene Schnittmenge aus Inhalt und Interpretationsbereitschaft des Regisseurs darstellen. Der Bub und der Depp haben vorwiegend erzählerische Funktion. Bei der Auswahl der Schauspieler ist also gerade bei diesen Figuren auf Flexibilität und künstlerische Intuition zu achten. Die Straßenszenen unterliegen völlig der freien Gestaltung. Eine personelle Zuordnung ist nicht vorgesehen.)
[align=justify]Erste Straßenszene[/align]
- Wieso schlagen Sie Ihren Hund?
- Weil ich keine Kinder habe.
1. Ausflugsziele
Bub
Depp
Ausländische Touristin
Studenten
„Dann schauen Sie sich das mal an!“
„Im Gegensatz zu dem von Hamburg oder Bremen, ist das Münchner Rathaus ein aschgrauer gotischer Firlefanz, dessen Hauptattraktion sich zu bestimmten Uhrzeiten drehende Holzfiguren sind. Vor dem Gebäude befindet sich der Marienplatz. Ein von Fresshöhlen und Kaufhäusern umsäumtes Areal. In der Sommersaison sind dort einzelne Stände von Reisegesellschaften aufgebaut, die Besichtungstouren anbieten. Gutaussehende Studenten preisen, freundlich lächelnd und mit Schildern in englischer Sprache bewehrt, Ausflugsziele an.
Eine amerikanische Touristin steuert auf einen der Studenten zu, der ein Schild mit der Aufschrift: >Third Reich Tours< in der linken Hand hält.
‚What do you offer?’ fragt die Dame.
Der junge Mann blickt kurz auf sein Schild, als müsse er sich selber erst einmal vergewissern und sagt dann:
‚Well, a great Tour. You will see everthing in connection with the Third Reich. Concentration Camp and so.’
Die Dame überlegt einen Moment und schaut dann zu einem anderen Stand, an dem eine blonde Frau >Hitler Tours< anbietet.
Dorthin zeigend meint sie dann:
‚I think, I will ask over there. Seems they`ve got a bit more to show’”
Zweite Straßenszene
- Biss, die neue Biss!
- Gehns lieber oarbeidn und mochens wos Gescheits.
2. Schutt
Bub
Depp
Passant
Schulkinder
„So einfach ist das nicht!
In den Morgenstunden gehört der Luitpoldpark den Joggern und den Hunden.“
„Dazwischen Berufstätige, auf ihrem Weg zur U-Bahnstation am Scheidplatz.“
„Einer von ihnen...“
„Ein Mann, Mitte Vierzig und alleinstehend.“
„Von einer Laune ergriffen biegt er heute kurz vor dem Schulgebäude ab und geht den Hügel hinauf, der sich am Ostrand des Parks befindet. Oben angekommen, entdeckt er ein Schild, welches darauf hinweist, dass jener Hügel aus den Trümmern der durch Bombenangriffe zerstörten Häuser aufgeschüttet wurde. Die Toten, so wird extra betont, seien auf den städtischen Friedhöfen begraben. Ein eigenartiges Gefühl überkommt den Mann. Er spürt Geschichte unter seinen Füßen.“
„Geschichte, die mittlerweile von einer Menge Gras überwachsen ist!“
„Geschichte, auf der Bänke aufgestellt wurden und von der aus man eine wunderbare Aussicht auf die Stadt hat. Eine kleine Rodelbahn führt sogar den Berg hinunter, nebst einer Skipiste.“
„Der Mann denkt:
‚Wenn man von Nichts wüsste, dann wüsste man von Nichts. Der Ort selbst gibt nichts mehr her von dem, was ihn eigentlich ausmacht. Er braucht Hinweisschilder, um seine wahre Identität zu bewahren. Und überhaupt, warum hat man die Toten nicht zwischen den Trümmern gelassen? Dann hätte niemand hieraus einen städtischen Wintersportort gemacht. Ein Gedenkort, das wäre daraus geworden, ein Friedhof, nicht nur für die Verstorbenen, sondern auch für das, was sie einst umgab und ausgemacht hat. Ihre Häuser und Wohnungen, ihre Einrichtung. Vielleicht lag neben einem der Toten eine Scherbe seiner Lieblingstasse, neben einem Kind der Rest seiner Puppe, neben einem alten Mann der Stiel seiner Pfeife, das Lieblingsbuch oder gar der ein oder andere Brief. Und - man hat von den Toten das entfernt, was sie umgebracht hat. Jene Steine, die sie erschlagen; jene Splitter, die sie zerfetzt; den Rauch, der ihnen das Atmen unmöglich gemacht hat und nun als Ruß an den Steinen klebt. Es wurde separiert, um die Individualität der Toten zu bewahren, auf Kosten dessen, was Teil ihrer sichtbaren Individualität und Ursache ihres Todes gewesen ist. Man hat es zusammengeworfen, in den kollektiven Schutt. Geschichte ist die Summe von Einzelschicksalen, die in fassbare Größen zusammengekehrt werden. So wie der Schutt zusammengekehrt wurde. Zusammengekehrt und aufgeschichtet’“
„Auf das Gras drüber wachse!“
„Und damit dies auch ja geschieht, hat man fein säuberlich die Toten herausgesammelt.“
„Die hätten ansonsten jegliches Grasdrüberwachsen verhindert.“
„ ‚Aber ist das nicht der Sinn von Gedenkorten, dass das Vergessen verhindert werden soll? Warum dann diese Halbherzigkeit? Würden die Toten noch hier liegen, dann wäre das Gefühl, dem ich mich jetzt so hingebe, nicht eines aus mir heraus, sondern würde direkt von diesem Ort ausströmen. Nicht nur in mich, sondern in alle, die ihren Fuß darauf setzen. Aber die Separation verhindert dies.’“
„Auf einer der Bankgruppen, an der Südseite des Hügels, lungern einige Schüler herum, die offensichtlich den Unterricht schwänzen. Der Mann beobachtet die Gruppe eine Zeit, in Gedanken immer noch bei den Toten. Offensichtlich gibt es einen Streit zwischen zwei der Jugendlichen. Es sind Schreie zu hören, die unschwer als Drohungen verstanden werden können. Dann zieht einer ein Messer aus der Hosentasche. In diesem Moment beschließt der Mann einzuschreiten. Er geht auf die jungen Leute zu und sagt das Falsche. Wenige Augenblicke später hat er ein Messer im Bauch und verblutet an Ort und Stelle. Seine letzten Gedanken sind wie die Mehrheit der letzten Gedanken: Unbekannt. Ob er darüber nachdenkt, dass es aufgrund seiner kurz vor seinem Tode angestellten Überlegungen konsequent wäre, sich zu wünschen, man möge ihn dort, wo er gerade stirbt auch beerdigen? Kaum anzunehmen. Möglich aber ist, dass er schon jetzt, kurz vor seinem Tod, spürt....“
„...wie das Gras über ihn zu wachsen beginnt.“
Dritte Straßenszene
- Möchten Sie den Wachtturm lesen?
- Scherts Euch zum Teufel, kommunistisches Faschistenpack muselmanisches, Jessesmariaundjosef!
3. Der Flaneur
Flaneur
Eine Straße
Berühmte Schauspieler und Sportler
Einfaches Volk
„Susanne von Bordosy, Wolfgang Viereck und Gudrun Landgrebe. Alle innerhalb einer Viertelstunde. Die Landgrebe schaut ja mittlerweile wirklich so aus, als wäre sie mal flambiert worden. Der Maximilianstraße sieht man an, dass auf ihr nie demonstriert wird. Die ist politisch wieder richtig jungfräulich. Die Nazis sind ja schon lange weg. Und wie gut die Maximilianstraße alles Politische von sich heruntergewaschen hat, herunterlaufen hat lassen sozusagen, von den teuren Schuhen der vielen A,B und C-Promis und den Schaulustigen, die ihnen hinterherstiefeln. Das macht die Maximilianstraße so schön, das Fehlen des Politischen. Das hat sonst keine Straße hier geschafft. Die Leopoldstraße am wenigsten, selbst die Brienner nicht. Als hätte die Maximilianstraße als einzige gemerkt, dass Geld nicht politisch ist. Da ist der Luca Toni, da vorne, siehst du ihn? Cafe Roma, wo sonst. Ich versteh gar nicht, warum die da noch hingehen. Werden doch laufend angestarrt, von den bettelarmen Flaneuren, die von der Theatinerstraße oder den Platzerlgassen hier hereinschwappen. Den Muff vom Hofbräuhaus an Leib und Seele. Aber auch das passt zur Maximilianstraße, dass sie sich so belaufen lässt, von Allen und Jedem. Das gehört dazu zum Unpolitischsein. Es perlt an ihr ab. Die Fußsohlen, die ihr schaden könnten, die laufen schon lange woanders.“
4. Ordensbrüder
Bub
Depp
Politiker
Verbrecher
„Lesen Sie Zeitung?!“
„Am 11.01.2008 bekam der frischgebackene, und ja mittlerweile wieder zurückgetretene, bayerische Ministerpräsident Kurt Beckstein in Abwesenheit (wegen dringender Freistaatstermine) den Karl Valentin Preis überreicht. Folgende Aussage Becksteins bewog die Jury zu ihrer Entscheidung:
>In der Politik ist das Schöne, dass alles möglich ist, aber auch das Gegenteil.<
Denkt man an die Wahlkampagne von Becksteins CSU-Kollegen Josef Schmidt, der bei der Wahl zum Münchner Oberbürgermeister gegen den dunkelroten und allseits beliebten Christian Ude antrat, so kommt man zu dem Schluss, bei der CSU hieße es eher: >In der Politik ist das Schöne, dass alles erlaubt ist.....< Den Zusatz >oder auch nicht< vergaß man kurzerhand und stellte Wahlplakate auf, die Fotos von jenem unglücksseligen Vorfall in der U-Bahn zeigten, bei dem zwei Jugendliche einen alten Mann verprügelten, weil dieser die beiden an das im U-Bahnbereich geltende Rauchverbot erinnert hatte. Über die Fotos in großen Lettern gedruckt das Versprechen, für Sicherheit zu sorgen.
Man fühlt sich unweigerlich an einen Satz des jungen Musil erinnert: >Wir treiben Politik, weil wir nichts wissen.<
Pechschwarze Gemüter jedenfalls mag diese Art der Wahlwerbung angesprochen haben, die Münchner Allgemeinheit dagegen zeigte sich verwundert bis empört. Da nützte auch Schmidts 3er-BMW-Reihenhausgrinsen nichts. Viel weniger noch, dass er seine Frau kurz vor der Wahl noch mit auf die Plakate zerrte. Dabei hatte der Mann nur die Wahrheit aufgezeigt und Bürgersorgen aufrecht geschultert. Eigenwerbung darf man damit allerdings nicht machen, und so blieb der schale Beigeschmack selbst treuesten Wählern bis zum Urnengang. Was beweißt, ein Bild sagt nicht immer mehr, als tausend Worte. Denn die plakatierte Gewalttat war beileibe kein Einzelfall:“
„Am 29. Dezember 2007 überfielen drei Jugendliche ein älteres Ehepaar im englischen Garten. Einer der Täter konnte identifiziert und festgenommen werden. Es handelt sich um den in Frankfurt geborenen Hakan Üllic, der zu diesem Zeitpunkt immer noch im Untersuchungsgefängnis München Stadelheim einsitzt und dort auf seine Abschiebung nach Hessen wartet.“
Vierte Straßenszene
- Entschuldigen, aber wie komme ich zur Oktoberfestwiese?
- Gehens dahin, wo´s nach Pisse und gebrannten Mandeln stinkt.
- Die ganze Stadt stinkt nach Pisse und gebrannten Mandeln!
5. Die böse Gegenwart
Bub
Depp
Dachauer
Hundebesitzer
Zwei farbige Mädchen
„Passen Sie auf, wenn sie aus dem KZ wieder herauskommen. Es werden Umfragen gemacht, die Sie dazu zwingen könnten, sich über das Gesehene Gedanken zu machen!“
„Die Stadt Dachau ist weltweit immer noch bekannter, als die südlich von ihr gelegene bayerische Landeshauptstadt. Obwohl man seit Jahre alles Mögliche unternimmt, sich ein Image aufzubauen, indem die jüngerer deutsche Vergangenheit nur noch ein Teil, aber nicht mehr die Hauptsache ist. Dennoch musste ein Bürger der Stadt erleben, als er in den Vereinigten Staaten mit einer Kreditkarte der Dachauer Sparkasse bezahlte, wie der Kassierer ihn verwundert anschaute und sagte: ‚Ich wusste nicht, dass die im KZ auch eine Bank haben.’
Aber auch wenn die Geschichte länger lebendig ist, als es so manchem lieb sein mag, verhindert ihre ständige Präsenz in Form von fremdenverkehrstauglicher Gedenkstättenkultur ein allzu tiefschürfendes Nachdenken. Die tägliche Berührung gestattet paradoxerweise keine Berührungspunkte mehr.
So kann man über Jahre hinweg in Dachau wohnen, ja sogar dort aufgewachsen sein und womöglich regelmäßig an den grauen Mauern des ehemaligen Konzentrationslagers vorbeifahren, ohne sich der Dinge, die sich dahinter einst abgespielt haben, wirklich bewusst zu sein. In einer komfortablen und von Wohlstand und Prosperität bestimmten Gegenwart, hat es eine unangenehme Vergangenheit schwer ihren Platz zu behaupten. Aber selbst ein solch gut gebautes Heute hat Löcher. Zu klein vielleicht für das Gestern, doch groß genug, um andere Tragödien zuzulassen. Tragödien, die hineinsickern aus einer Welt, die ebenso abstrakt wahrgenommen wird – nicht durch Gedenkstätten, sondern durch die Medien. Erst die direkte Beobachtung vermag diese Barriere zu durchbrechen (das große Problem der Vergangenheit, da man sie nie direkt beobachten kann, und alle Zeugnisse, die sie hinterlässt, mittelbar sind).“
„So geschehen, bei einem Mann, der sich gerade auf dem Rückweg von der Dachauer Hundeschule befand, im Rucksack ca. 10 kg frisches Kopffleisch für seinen Labrador. Der Weg führte ihn an der Rückseite des Hotels Aurora vorbei. Dort konnte er sehen, wie zwei junge farbige Mädchen sich Fleischreste aus den Essensabfällen heraussammelten, sie sorgfältig in einen Plastikkorb legten und dann wegtrugen.“
6. Widerstand
Vorbestrafter
Unbekanntes Mädchen
Alte Nazisau
„Meine Vorstrafe habe ich der Tatsache zu verdanken, dass ich einen alten Mann geschlagen habe. Niedergeschlagen hieß es sogar in der Urteilsbegründung, obwohl es in Wahrheit nur eine Ohrfeige war. Und jener Mann, beinahe neunzig Jahre alt, ging an Krücken. So hat ihn meine, eigentlich symbolisch gemeinte, Geste der Verachtung niedergestreckt und mir ein Jahr auf Bewährung eingebracht. Hätte ich das vorher gewusst, wäre es wirklich ein Schlag gewesen, nicht nur eine Backpfeife, die mir wie ein handfestes Ausspucken vorkam. Denn Spucken war ja nur etwas Gleichwertiges, hatte der Alte doch auf jene Gedenktafel gespuckt, die sich zwischen dem Gasteig und dem GEMA-Gebäude befindet und an Georg Elser erinnert. Ein richtiger Schlag, das wäre eine passende Antwort gewesen. Eine Antwort, die voll und ganz meinen Empfindungen entsprochen hätte und mich und die für mich daraus erwachsenden Konsequenzen völlig außer Acht gelassen hätte. Doch in dieser Erwiderung meinerseits – mein Spucken mit der Handfläche auf sein tatsächliches Spucken – lag neben der Empörung auch die Angst um mich selbst. Man schlägt keine alten Menschen. Ich muss daran gedacht haben, denn das Erste, was ich tat, nachdem der alte Mann zu Boden gefallen und seine Frau hysterisch zu schreien begann, war mich umzusehen. Zunächst aber schien der Platz leer, außer einer jungen Frau, die nur wenige Schritte von mir entfernt stand und die Hand vor den Mund hielt. Ich sah, wie sie den Kopf schüttelte und nahm an, dass sie alles beobachtete hatte und ihr offensichtliches Unverständnis nicht meiner Tat, sondern der des Alten galt. Für einen Moment trafen sich unsere Blicke. Es war sowohl Einverständnis wie Schrecken in der Art, wie sich mich ansah. Im ersten Moment fühlte ich mich erleichtert, weil ich meinte einen Zeugen zu haben, jemanden, der die Richtigkeit meiner Handlungsweise bestätigen könnte. Doch sobald sich von über all her Menschen näherten, sich dem am Boden liegenden Alten annahmen und seine immer noch wimmernde Frau zu beruhigen suchten, drehte sich die junge Frau um und ging weg. Irgendjemand hielt mich dann fest und kurz darauf kam auch schon die Polizei.
Der Prozess dauerte nur einen Tag. Der alte Mann beteuerte, er habe lediglich niesen müssen. Und ich wäre wüst schimpfend auf ihn zugekommen und hätte ihn ohne Vorwarnung geschlagen. Ich dagegen beharrte auf meiner Version, der Alte hätte mit voller Absicht auf die Gedenktafel, und damit auf Elser selbst gespuckt. Da es außer der Frau des Alten keine Zeugen gab, schenkte der Richter mir keinen Glauben und ich wurde verurteilt. Die junge Frau habe ich nicht erwähnt. Warum auch? Ich habe keine Ahnung, ob sie wirklich alles beobachtet und meine Reaktion wirklich verstanden hatte. Vielleicht fehlte ihr der Mut oder sie war nicht so dumm wie ich. Was hilft es, darüber nachzudenken? Ja, ich hoffe, sie war einfach nur feige. Dafür hätte ich, und vielleicht auch Elser, das meiste Verständnis.
Wirklich schlimm ist nur, dass keine dieser verdammten bayerischen Zeitungen mich um ein Interview gebeten hat.“
7. Der Depp fragt...
Depp
„Wie sagte der Dichter? Die Zeit frisst.......“
8. Die Sprache der Toten
Bub
Depp
Noch ein Depp
Studenten, Passanten und Anwohner
Ein Friedhof
„Die letzte Beisetzung auf dem Alten Nordfriedhof in Schwabing fand 1939 statt, obwohl es die Jahre danach noch reichlich zu Beerdigen gab.
Sieben Jahrzehnte sind aber lange genug, um diesem Ort heute jedwede Andächtigkeit abzusprechen und Pietätlosigkeiten wie Joggen und halbnackt auf der Wieseherumlungern zu tolerieren. So richtig tot ist man selbst auf einem Friedhof erst, wenn kein Nachschub mehr kommt und keine Hinterbliebenen die Gräber mit ihren Trauermienen umstellen. Dann kann aus einem Friedhof ein Freizeitpark werden. Zumal viele der Grabsteine kaum mehr zu entziffern sind und selbst die Enkelgeneration allerhöchstens noch in dem vom Zivi geschobenen Rollstuhl den verblichenen Vorgeborenen einen Besuch abstatten könnte. Also spricht nichts dagegen, seinen knackigen Studentenarsch in der Münchner Sonne da bräunen zu lassen, wo ein dreiviertel Jahrhundert zuvor noch ehrliche und unehrliche Tränen vergossen wurden.“
„Dennoch wurde der Friedhof im Jahr 2006 für einige Tage gesperrt. Wegen der etwas makaber klingenden Tatsache, dass man dort, am Morgen des 24. Dezember, eine Leiche fand. Oberhalb der Grasnarben ist das selbst auf Münchner Friedhöfen etwas Außergewöhnliches. Man identifizierte den Toten sehr schnell als jene Person, die sich schon seit mehreren Wochen täglich auf dem Friedhof aufgehalten hatte, oftmals stundenlang vor einem der Grabsteine kniend. Die befragten Anwohner und Passanten äußerten die Vermutung, der Mann habe versucht, die Inschriften auf den Steinen zu entziffern. Damit hatten sie nicht unrecht, auch wenn die Geschichte dahinter weit weniger banal ist und dem Friedhof für einige Tage wieder zu dem werden ließ, was er früher war: ein Ort, angesiedelt irgendwo zwischen Tod und Leben, zwischen Realität und Traum, Wissen und Hoffen.“
„F. hatte den Friedhof vier Wochen vor seinem Tod das erste Mal besucht und sogleich fiel sein Blick auf einen Grabstein, der den Namen seiner jüngsten Tochter trug. Die Übereinstimmung betraf zwar nur den Vornamen, aber so von der Vielfalt vergangenen und vergessenen Lebens beeindruckt, sah F. darin ein Zeichen. War seine Tochter doch erst vor kurzem verstorben und zwar am gleichen Tag und dem gleichen Monat wie ihre Namensbase, nur exakt hundert Jahre später. Und sofort ergriff die Idee von ihm Besitz, auf einem der Grabsteine auch seinen Namen zu finden und damit verbunden, den Hinweis auf das Datum seines zukünftigen Ablebens.
Zunächst besah er sich alle Grabsteine, deren Inschriften noch gut lesbar waren. Danach wandte er sich denjenigen zu, die sich nur mit Hilfe von Pauspapier, Lupe und den städtischen Personenregistern auskünftig machen ließen. Am Ende kannte er jedes Grab ganz genau und wusste, wer wann wo beerdigt wurde; nicht selten auch, aus welchem Grund. Nur eines der Gräber entzog sich ihm, behielt sein verwittertes Geheimnis für sich, schien gar nicht zu existieren, außer in Form eines nahezu glatten Steines. Dieser musste es sein, dessen war sich F. sicher. Also setzte er sich davor und wartete darauf, dass der Stein zu ihm sprach oder ihm auf irgendeine andere, wundersame Weise mitgeteilt würde, welchen Namen er einst getragen hatte. Darüber vergaß er in besagter Nacht die Zeit, nahm weder Dunkelheit noch Kälte war und fiel kurz vor Mitternacht in einen tiefen Schlaf, aus dem er aufgrund der starken Unterkühlung seines Körpers nicht mehr aufwachte.“
Fünfte Straßenszene
- Eh Oma, haste mal `nen Euro?
- Ha, an Euro woits. Früher woars a Magl, jetzat an ganzen Euro. Und wos woits morng?
- Auf dein Grab pissen, Alte. Auf dein Grab pissen.
9. Der Parlant
Parlant
„Wir leben in einer Zeit, in der das Individuum mit allen Mittel seine Individualität bekämpft, weil es sie als Ursache seiner Einsamkeit ausgemacht hat. Es will deshalb rauschhaft in der Masse untergehen, um den Wegfall familiärer und sozialer Beziehungsgeflechte zu kompensieren und niemanden um Hilfe bitten zu müssen. Der Schulterschluss ist automatisiert, es werden keine Bewerbungen geschrieben. Nur Hände und Blicke verbleiben als Unterscheidungsmerkmal, die aber sind verdeckt und bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Ab und an erhebt sich aus der Masse eine Welle, die an irgendeinem Rand bricht und sich ins Land ausspült. Das Homogene bleibt davon unberührt, atmet weiter auf niedrigster Frequenz, immer den Blick auf sich selbst gerichtet. Die letzte Phase der Urbanität, die ihren Gipfel in der Auflösung aller abgrenzenden Begriffe hat und sich letztlich dem gegenübersehen wird, was heute noch lapidar als Klimawandel bezeichnet wird, in Wirklichkeit aber nichts Schlimmeres ist, als die Zerstörung des Kollektivs.“
10. Der Bub ruft aus...
Bub
„Wie sagte der Dichter? Die Zeit frisst das Leben. Oh Schmerz! Oh welch Schmerz!“
11. Das Ende einer Reise oder Der Bub erzählt einen abschließenden Witz
Bub
Ärzte & Krankenschwestern
Ein Krankenhaus
Eine Bierflasche
Witzelsperger
„Witzlsperger kam gerade aus dem Supermarkt, seinen Rucksack vollgepackt mit einem Dutzend Flaschen Augustiner Bier, als ihn ein Porsche Cayenne rücklings erfasste. Einige von Witzlspergers Knochen zersplitterten, nebst elf Bierflaschen. Die zwölfte jedoch bohrte sich, kraft des Aufpralls, direkt in seinen Rücken.
Im Klinikum Großhadern kannte man so was. Ein spezielles Operationsteam stand bereit, um den mittlerweile narkotisierten Witzlsperger die nötige Behandlung zukommen zu lassen. Zunächst wurde das Rückgrat freigelegt. Oberarzt, Anästhesist, Assistenten und OP-Schwestern sahen auf einen Blick, dass es in diesem Fall nicht gut stand um den Patienten. Zu sehr hatte sich der Flaschenkopf zwischen den Wirbeln verklemmt. Ohne Zweifel würden hier bleibende Schäden entstehen. Der Oberarzt ließ einen ernsten Blick von einem Mitglied seines Teams zum anderen wandern, der von jedem mit einem kurzen Nicken erwidert wurde. Dann packte er die Flasche und zog mit aller Kraft daran. Die löste sich mit lautem Zischen, glitt dabei dem Oberarzt aus den Händen, wurde aber von Oberschwester Adelheid geschickt aufgefangen, wobei sie geistesgegenwärtig den linken Ziegefinger auf die Flaschenöffnung drückte. Noch während die Flasche durch die Luft glitt, lief Schwester Ines aus dem OP und kam mit einigen Pappbechern zurück, in die Schwester Agathe unter dem Applaus des gesamten OP Teams das gerettete Bier gleichmäßig verteilte.
Witzlsperger sah derweil schöne Lichter am Ende irgendeines Tunnels.“
oder
Weißwurst vor Zwölf
(Konzeptive Arbeitsgrundlage. Gespielt und/oder gelesen. Das Bühnenbild kann, muss aber nicht den Schauplätzen entsprechen. Es reicht auch ein Stuhl. Denkbar ebenso eine leere Bühne, auf der die Stellplätze der einzelnen Gebäude/Orte mit Kreide aufgezeichnet sind, falls ein solcher Nachahmungseffekt dem Regisseur angemessen erscheint. Die Reihenfolge der Sequenzen sollte unbedingt eingehalten werden. Mundartliche Abweichungen vom Originaltext [soweit nicht vorgegeben], sind regionalen Aufführungsgegebenheiten anzupassen. Eine szenische Ausarbeitung der erzählenden Passagen ist weder unerwünscht noch erforderlich und sollte eine angemessene Schnittmenge aus Inhalt und Interpretationsbereitschaft des Regisseurs darstellen. Der Bub und der Depp haben vorwiegend erzählerische Funktion. Bei der Auswahl der Schauspieler ist also gerade bei diesen Figuren auf Flexibilität und künstlerische Intuition zu achten. Die Straßenszenen unterliegen völlig der freien Gestaltung. Eine personelle Zuordnung ist nicht vorgesehen.)
[align=justify]Erste Straßenszene[/align]
- Wieso schlagen Sie Ihren Hund?
- Weil ich keine Kinder habe.
1. Ausflugsziele
Bub
Depp
Ausländische Touristin
Studenten
„Dann schauen Sie sich das mal an!“
„Im Gegensatz zu dem von Hamburg oder Bremen, ist das Münchner Rathaus ein aschgrauer gotischer Firlefanz, dessen Hauptattraktion sich zu bestimmten Uhrzeiten drehende Holzfiguren sind. Vor dem Gebäude befindet sich der Marienplatz. Ein von Fresshöhlen und Kaufhäusern umsäumtes Areal. In der Sommersaison sind dort einzelne Stände von Reisegesellschaften aufgebaut, die Besichtungstouren anbieten. Gutaussehende Studenten preisen, freundlich lächelnd und mit Schildern in englischer Sprache bewehrt, Ausflugsziele an.
Eine amerikanische Touristin steuert auf einen der Studenten zu, der ein Schild mit der Aufschrift: >Third Reich Tours< in der linken Hand hält.
‚What do you offer?’ fragt die Dame.
Der junge Mann blickt kurz auf sein Schild, als müsse er sich selber erst einmal vergewissern und sagt dann:
‚Well, a great Tour. You will see everthing in connection with the Third Reich. Concentration Camp and so.’
Die Dame überlegt einen Moment und schaut dann zu einem anderen Stand, an dem eine blonde Frau >Hitler Tours< anbietet.
Dorthin zeigend meint sie dann:
‚I think, I will ask over there. Seems they`ve got a bit more to show’”
Zweite Straßenszene
- Biss, die neue Biss!
- Gehns lieber oarbeidn und mochens wos Gescheits.
2. Schutt
Bub
Depp
Passant
Schulkinder
„So einfach ist das nicht!
In den Morgenstunden gehört der Luitpoldpark den Joggern und den Hunden.“
„Dazwischen Berufstätige, auf ihrem Weg zur U-Bahnstation am Scheidplatz.“
„Einer von ihnen...“
„Ein Mann, Mitte Vierzig und alleinstehend.“
„Von einer Laune ergriffen biegt er heute kurz vor dem Schulgebäude ab und geht den Hügel hinauf, der sich am Ostrand des Parks befindet. Oben angekommen, entdeckt er ein Schild, welches darauf hinweist, dass jener Hügel aus den Trümmern der durch Bombenangriffe zerstörten Häuser aufgeschüttet wurde. Die Toten, so wird extra betont, seien auf den städtischen Friedhöfen begraben. Ein eigenartiges Gefühl überkommt den Mann. Er spürt Geschichte unter seinen Füßen.“
„Geschichte, die mittlerweile von einer Menge Gras überwachsen ist!“
„Geschichte, auf der Bänke aufgestellt wurden und von der aus man eine wunderbare Aussicht auf die Stadt hat. Eine kleine Rodelbahn führt sogar den Berg hinunter, nebst einer Skipiste.“
„Der Mann denkt:
‚Wenn man von Nichts wüsste, dann wüsste man von Nichts. Der Ort selbst gibt nichts mehr her von dem, was ihn eigentlich ausmacht. Er braucht Hinweisschilder, um seine wahre Identität zu bewahren. Und überhaupt, warum hat man die Toten nicht zwischen den Trümmern gelassen? Dann hätte niemand hieraus einen städtischen Wintersportort gemacht. Ein Gedenkort, das wäre daraus geworden, ein Friedhof, nicht nur für die Verstorbenen, sondern auch für das, was sie einst umgab und ausgemacht hat. Ihre Häuser und Wohnungen, ihre Einrichtung. Vielleicht lag neben einem der Toten eine Scherbe seiner Lieblingstasse, neben einem Kind der Rest seiner Puppe, neben einem alten Mann der Stiel seiner Pfeife, das Lieblingsbuch oder gar der ein oder andere Brief. Und - man hat von den Toten das entfernt, was sie umgebracht hat. Jene Steine, die sie erschlagen; jene Splitter, die sie zerfetzt; den Rauch, der ihnen das Atmen unmöglich gemacht hat und nun als Ruß an den Steinen klebt. Es wurde separiert, um die Individualität der Toten zu bewahren, auf Kosten dessen, was Teil ihrer sichtbaren Individualität und Ursache ihres Todes gewesen ist. Man hat es zusammengeworfen, in den kollektiven Schutt. Geschichte ist die Summe von Einzelschicksalen, die in fassbare Größen zusammengekehrt werden. So wie der Schutt zusammengekehrt wurde. Zusammengekehrt und aufgeschichtet’“
„Auf das Gras drüber wachse!“
„Und damit dies auch ja geschieht, hat man fein säuberlich die Toten herausgesammelt.“
„Die hätten ansonsten jegliches Grasdrüberwachsen verhindert.“
„ ‚Aber ist das nicht der Sinn von Gedenkorten, dass das Vergessen verhindert werden soll? Warum dann diese Halbherzigkeit? Würden die Toten noch hier liegen, dann wäre das Gefühl, dem ich mich jetzt so hingebe, nicht eines aus mir heraus, sondern würde direkt von diesem Ort ausströmen. Nicht nur in mich, sondern in alle, die ihren Fuß darauf setzen. Aber die Separation verhindert dies.’“
„Auf einer der Bankgruppen, an der Südseite des Hügels, lungern einige Schüler herum, die offensichtlich den Unterricht schwänzen. Der Mann beobachtet die Gruppe eine Zeit, in Gedanken immer noch bei den Toten. Offensichtlich gibt es einen Streit zwischen zwei der Jugendlichen. Es sind Schreie zu hören, die unschwer als Drohungen verstanden werden können. Dann zieht einer ein Messer aus der Hosentasche. In diesem Moment beschließt der Mann einzuschreiten. Er geht auf die jungen Leute zu und sagt das Falsche. Wenige Augenblicke später hat er ein Messer im Bauch und verblutet an Ort und Stelle. Seine letzten Gedanken sind wie die Mehrheit der letzten Gedanken: Unbekannt. Ob er darüber nachdenkt, dass es aufgrund seiner kurz vor seinem Tode angestellten Überlegungen konsequent wäre, sich zu wünschen, man möge ihn dort, wo er gerade stirbt auch beerdigen? Kaum anzunehmen. Möglich aber ist, dass er schon jetzt, kurz vor seinem Tod, spürt....“
„...wie das Gras über ihn zu wachsen beginnt.“
Dritte Straßenszene
- Möchten Sie den Wachtturm lesen?
- Scherts Euch zum Teufel, kommunistisches Faschistenpack muselmanisches, Jessesmariaundjosef!
3. Der Flaneur
Flaneur
Eine Straße
Berühmte Schauspieler und Sportler
Einfaches Volk
„Susanne von Bordosy, Wolfgang Viereck und Gudrun Landgrebe. Alle innerhalb einer Viertelstunde. Die Landgrebe schaut ja mittlerweile wirklich so aus, als wäre sie mal flambiert worden. Der Maximilianstraße sieht man an, dass auf ihr nie demonstriert wird. Die ist politisch wieder richtig jungfräulich. Die Nazis sind ja schon lange weg. Und wie gut die Maximilianstraße alles Politische von sich heruntergewaschen hat, herunterlaufen hat lassen sozusagen, von den teuren Schuhen der vielen A,B und C-Promis und den Schaulustigen, die ihnen hinterherstiefeln. Das macht die Maximilianstraße so schön, das Fehlen des Politischen. Das hat sonst keine Straße hier geschafft. Die Leopoldstraße am wenigsten, selbst die Brienner nicht. Als hätte die Maximilianstraße als einzige gemerkt, dass Geld nicht politisch ist. Da ist der Luca Toni, da vorne, siehst du ihn? Cafe Roma, wo sonst. Ich versteh gar nicht, warum die da noch hingehen. Werden doch laufend angestarrt, von den bettelarmen Flaneuren, die von der Theatinerstraße oder den Platzerlgassen hier hereinschwappen. Den Muff vom Hofbräuhaus an Leib und Seele. Aber auch das passt zur Maximilianstraße, dass sie sich so belaufen lässt, von Allen und Jedem. Das gehört dazu zum Unpolitischsein. Es perlt an ihr ab. Die Fußsohlen, die ihr schaden könnten, die laufen schon lange woanders.“
4. Ordensbrüder
Bub
Depp
Politiker
Verbrecher
„Lesen Sie Zeitung?!“
„Am 11.01.2008 bekam der frischgebackene, und ja mittlerweile wieder zurückgetretene, bayerische Ministerpräsident Kurt Beckstein in Abwesenheit (wegen dringender Freistaatstermine) den Karl Valentin Preis überreicht. Folgende Aussage Becksteins bewog die Jury zu ihrer Entscheidung:
>In der Politik ist das Schöne, dass alles möglich ist, aber auch das Gegenteil.<
Denkt man an die Wahlkampagne von Becksteins CSU-Kollegen Josef Schmidt, der bei der Wahl zum Münchner Oberbürgermeister gegen den dunkelroten und allseits beliebten Christian Ude antrat, so kommt man zu dem Schluss, bei der CSU hieße es eher: >In der Politik ist das Schöne, dass alles erlaubt ist.....< Den Zusatz >oder auch nicht< vergaß man kurzerhand und stellte Wahlplakate auf, die Fotos von jenem unglücksseligen Vorfall in der U-Bahn zeigten, bei dem zwei Jugendliche einen alten Mann verprügelten, weil dieser die beiden an das im U-Bahnbereich geltende Rauchverbot erinnert hatte. Über die Fotos in großen Lettern gedruckt das Versprechen, für Sicherheit zu sorgen.
Man fühlt sich unweigerlich an einen Satz des jungen Musil erinnert: >Wir treiben Politik, weil wir nichts wissen.<
Pechschwarze Gemüter jedenfalls mag diese Art der Wahlwerbung angesprochen haben, die Münchner Allgemeinheit dagegen zeigte sich verwundert bis empört. Da nützte auch Schmidts 3er-BMW-Reihenhausgrinsen nichts. Viel weniger noch, dass er seine Frau kurz vor der Wahl noch mit auf die Plakate zerrte. Dabei hatte der Mann nur die Wahrheit aufgezeigt und Bürgersorgen aufrecht geschultert. Eigenwerbung darf man damit allerdings nicht machen, und so blieb der schale Beigeschmack selbst treuesten Wählern bis zum Urnengang. Was beweißt, ein Bild sagt nicht immer mehr, als tausend Worte. Denn die plakatierte Gewalttat war beileibe kein Einzelfall:“
„Am 29. Dezember 2007 überfielen drei Jugendliche ein älteres Ehepaar im englischen Garten. Einer der Täter konnte identifiziert und festgenommen werden. Es handelt sich um den in Frankfurt geborenen Hakan Üllic, der zu diesem Zeitpunkt immer noch im Untersuchungsgefängnis München Stadelheim einsitzt und dort auf seine Abschiebung nach Hessen wartet.“
Vierte Straßenszene
- Entschuldigen, aber wie komme ich zur Oktoberfestwiese?
- Gehens dahin, wo´s nach Pisse und gebrannten Mandeln stinkt.
- Die ganze Stadt stinkt nach Pisse und gebrannten Mandeln!
5. Die böse Gegenwart
Bub
Depp
Dachauer
Hundebesitzer
Zwei farbige Mädchen
„Passen Sie auf, wenn sie aus dem KZ wieder herauskommen. Es werden Umfragen gemacht, die Sie dazu zwingen könnten, sich über das Gesehene Gedanken zu machen!“
„Die Stadt Dachau ist weltweit immer noch bekannter, als die südlich von ihr gelegene bayerische Landeshauptstadt. Obwohl man seit Jahre alles Mögliche unternimmt, sich ein Image aufzubauen, indem die jüngerer deutsche Vergangenheit nur noch ein Teil, aber nicht mehr die Hauptsache ist. Dennoch musste ein Bürger der Stadt erleben, als er in den Vereinigten Staaten mit einer Kreditkarte der Dachauer Sparkasse bezahlte, wie der Kassierer ihn verwundert anschaute und sagte: ‚Ich wusste nicht, dass die im KZ auch eine Bank haben.’
Aber auch wenn die Geschichte länger lebendig ist, als es so manchem lieb sein mag, verhindert ihre ständige Präsenz in Form von fremdenverkehrstauglicher Gedenkstättenkultur ein allzu tiefschürfendes Nachdenken. Die tägliche Berührung gestattet paradoxerweise keine Berührungspunkte mehr.
So kann man über Jahre hinweg in Dachau wohnen, ja sogar dort aufgewachsen sein und womöglich regelmäßig an den grauen Mauern des ehemaligen Konzentrationslagers vorbeifahren, ohne sich der Dinge, die sich dahinter einst abgespielt haben, wirklich bewusst zu sein. In einer komfortablen und von Wohlstand und Prosperität bestimmten Gegenwart, hat es eine unangenehme Vergangenheit schwer ihren Platz zu behaupten. Aber selbst ein solch gut gebautes Heute hat Löcher. Zu klein vielleicht für das Gestern, doch groß genug, um andere Tragödien zuzulassen. Tragödien, die hineinsickern aus einer Welt, die ebenso abstrakt wahrgenommen wird – nicht durch Gedenkstätten, sondern durch die Medien. Erst die direkte Beobachtung vermag diese Barriere zu durchbrechen (das große Problem der Vergangenheit, da man sie nie direkt beobachten kann, und alle Zeugnisse, die sie hinterlässt, mittelbar sind).“
„So geschehen, bei einem Mann, der sich gerade auf dem Rückweg von der Dachauer Hundeschule befand, im Rucksack ca. 10 kg frisches Kopffleisch für seinen Labrador. Der Weg führte ihn an der Rückseite des Hotels Aurora vorbei. Dort konnte er sehen, wie zwei junge farbige Mädchen sich Fleischreste aus den Essensabfällen heraussammelten, sie sorgfältig in einen Plastikkorb legten und dann wegtrugen.“
6. Widerstand
Vorbestrafter
Unbekanntes Mädchen
Alte Nazisau
„Meine Vorstrafe habe ich der Tatsache zu verdanken, dass ich einen alten Mann geschlagen habe. Niedergeschlagen hieß es sogar in der Urteilsbegründung, obwohl es in Wahrheit nur eine Ohrfeige war. Und jener Mann, beinahe neunzig Jahre alt, ging an Krücken. So hat ihn meine, eigentlich symbolisch gemeinte, Geste der Verachtung niedergestreckt und mir ein Jahr auf Bewährung eingebracht. Hätte ich das vorher gewusst, wäre es wirklich ein Schlag gewesen, nicht nur eine Backpfeife, die mir wie ein handfestes Ausspucken vorkam. Denn Spucken war ja nur etwas Gleichwertiges, hatte der Alte doch auf jene Gedenktafel gespuckt, die sich zwischen dem Gasteig und dem GEMA-Gebäude befindet und an Georg Elser erinnert. Ein richtiger Schlag, das wäre eine passende Antwort gewesen. Eine Antwort, die voll und ganz meinen Empfindungen entsprochen hätte und mich und die für mich daraus erwachsenden Konsequenzen völlig außer Acht gelassen hätte. Doch in dieser Erwiderung meinerseits – mein Spucken mit der Handfläche auf sein tatsächliches Spucken – lag neben der Empörung auch die Angst um mich selbst. Man schlägt keine alten Menschen. Ich muss daran gedacht haben, denn das Erste, was ich tat, nachdem der alte Mann zu Boden gefallen und seine Frau hysterisch zu schreien begann, war mich umzusehen. Zunächst aber schien der Platz leer, außer einer jungen Frau, die nur wenige Schritte von mir entfernt stand und die Hand vor den Mund hielt. Ich sah, wie sie den Kopf schüttelte und nahm an, dass sie alles beobachtete hatte und ihr offensichtliches Unverständnis nicht meiner Tat, sondern der des Alten galt. Für einen Moment trafen sich unsere Blicke. Es war sowohl Einverständnis wie Schrecken in der Art, wie sich mich ansah. Im ersten Moment fühlte ich mich erleichtert, weil ich meinte einen Zeugen zu haben, jemanden, der die Richtigkeit meiner Handlungsweise bestätigen könnte. Doch sobald sich von über all her Menschen näherten, sich dem am Boden liegenden Alten annahmen und seine immer noch wimmernde Frau zu beruhigen suchten, drehte sich die junge Frau um und ging weg. Irgendjemand hielt mich dann fest und kurz darauf kam auch schon die Polizei.
Der Prozess dauerte nur einen Tag. Der alte Mann beteuerte, er habe lediglich niesen müssen. Und ich wäre wüst schimpfend auf ihn zugekommen und hätte ihn ohne Vorwarnung geschlagen. Ich dagegen beharrte auf meiner Version, der Alte hätte mit voller Absicht auf die Gedenktafel, und damit auf Elser selbst gespuckt. Da es außer der Frau des Alten keine Zeugen gab, schenkte der Richter mir keinen Glauben und ich wurde verurteilt. Die junge Frau habe ich nicht erwähnt. Warum auch? Ich habe keine Ahnung, ob sie wirklich alles beobachtet und meine Reaktion wirklich verstanden hatte. Vielleicht fehlte ihr der Mut oder sie war nicht so dumm wie ich. Was hilft es, darüber nachzudenken? Ja, ich hoffe, sie war einfach nur feige. Dafür hätte ich, und vielleicht auch Elser, das meiste Verständnis.
Wirklich schlimm ist nur, dass keine dieser verdammten bayerischen Zeitungen mich um ein Interview gebeten hat.“
7. Der Depp fragt...
Depp
„Wie sagte der Dichter? Die Zeit frisst.......“
8. Die Sprache der Toten
Bub
Depp
Noch ein Depp
Studenten, Passanten und Anwohner
Ein Friedhof
„Die letzte Beisetzung auf dem Alten Nordfriedhof in Schwabing fand 1939 statt, obwohl es die Jahre danach noch reichlich zu Beerdigen gab.
Sieben Jahrzehnte sind aber lange genug, um diesem Ort heute jedwede Andächtigkeit abzusprechen und Pietätlosigkeiten wie Joggen und halbnackt auf der Wieseherumlungern zu tolerieren. So richtig tot ist man selbst auf einem Friedhof erst, wenn kein Nachschub mehr kommt und keine Hinterbliebenen die Gräber mit ihren Trauermienen umstellen. Dann kann aus einem Friedhof ein Freizeitpark werden. Zumal viele der Grabsteine kaum mehr zu entziffern sind und selbst die Enkelgeneration allerhöchstens noch in dem vom Zivi geschobenen Rollstuhl den verblichenen Vorgeborenen einen Besuch abstatten könnte. Also spricht nichts dagegen, seinen knackigen Studentenarsch in der Münchner Sonne da bräunen zu lassen, wo ein dreiviertel Jahrhundert zuvor noch ehrliche und unehrliche Tränen vergossen wurden.“
„Dennoch wurde der Friedhof im Jahr 2006 für einige Tage gesperrt. Wegen der etwas makaber klingenden Tatsache, dass man dort, am Morgen des 24. Dezember, eine Leiche fand. Oberhalb der Grasnarben ist das selbst auf Münchner Friedhöfen etwas Außergewöhnliches. Man identifizierte den Toten sehr schnell als jene Person, die sich schon seit mehreren Wochen täglich auf dem Friedhof aufgehalten hatte, oftmals stundenlang vor einem der Grabsteine kniend. Die befragten Anwohner und Passanten äußerten die Vermutung, der Mann habe versucht, die Inschriften auf den Steinen zu entziffern. Damit hatten sie nicht unrecht, auch wenn die Geschichte dahinter weit weniger banal ist und dem Friedhof für einige Tage wieder zu dem werden ließ, was er früher war: ein Ort, angesiedelt irgendwo zwischen Tod und Leben, zwischen Realität und Traum, Wissen und Hoffen.“
„F. hatte den Friedhof vier Wochen vor seinem Tod das erste Mal besucht und sogleich fiel sein Blick auf einen Grabstein, der den Namen seiner jüngsten Tochter trug. Die Übereinstimmung betraf zwar nur den Vornamen, aber so von der Vielfalt vergangenen und vergessenen Lebens beeindruckt, sah F. darin ein Zeichen. War seine Tochter doch erst vor kurzem verstorben und zwar am gleichen Tag und dem gleichen Monat wie ihre Namensbase, nur exakt hundert Jahre später. Und sofort ergriff die Idee von ihm Besitz, auf einem der Grabsteine auch seinen Namen zu finden und damit verbunden, den Hinweis auf das Datum seines zukünftigen Ablebens.
Zunächst besah er sich alle Grabsteine, deren Inschriften noch gut lesbar waren. Danach wandte er sich denjenigen zu, die sich nur mit Hilfe von Pauspapier, Lupe und den städtischen Personenregistern auskünftig machen ließen. Am Ende kannte er jedes Grab ganz genau und wusste, wer wann wo beerdigt wurde; nicht selten auch, aus welchem Grund. Nur eines der Gräber entzog sich ihm, behielt sein verwittertes Geheimnis für sich, schien gar nicht zu existieren, außer in Form eines nahezu glatten Steines. Dieser musste es sein, dessen war sich F. sicher. Also setzte er sich davor und wartete darauf, dass der Stein zu ihm sprach oder ihm auf irgendeine andere, wundersame Weise mitgeteilt würde, welchen Namen er einst getragen hatte. Darüber vergaß er in besagter Nacht die Zeit, nahm weder Dunkelheit noch Kälte war und fiel kurz vor Mitternacht in einen tiefen Schlaf, aus dem er aufgrund der starken Unterkühlung seines Körpers nicht mehr aufwachte.“
Fünfte Straßenszene
- Eh Oma, haste mal `nen Euro?
- Ha, an Euro woits. Früher woars a Magl, jetzat an ganzen Euro. Und wos woits morng?
- Auf dein Grab pissen, Alte. Auf dein Grab pissen.
9. Der Parlant
Parlant
„Wir leben in einer Zeit, in der das Individuum mit allen Mittel seine Individualität bekämpft, weil es sie als Ursache seiner Einsamkeit ausgemacht hat. Es will deshalb rauschhaft in der Masse untergehen, um den Wegfall familiärer und sozialer Beziehungsgeflechte zu kompensieren und niemanden um Hilfe bitten zu müssen. Der Schulterschluss ist automatisiert, es werden keine Bewerbungen geschrieben. Nur Hände und Blicke verbleiben als Unterscheidungsmerkmal, die aber sind verdeckt und bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Ab und an erhebt sich aus der Masse eine Welle, die an irgendeinem Rand bricht und sich ins Land ausspült. Das Homogene bleibt davon unberührt, atmet weiter auf niedrigster Frequenz, immer den Blick auf sich selbst gerichtet. Die letzte Phase der Urbanität, die ihren Gipfel in der Auflösung aller abgrenzenden Begriffe hat und sich letztlich dem gegenübersehen wird, was heute noch lapidar als Klimawandel bezeichnet wird, in Wirklichkeit aber nichts Schlimmeres ist, als die Zerstörung des Kollektivs.“
10. Der Bub ruft aus...
Bub
„Wie sagte der Dichter? Die Zeit frisst das Leben. Oh Schmerz! Oh welch Schmerz!“
11. Das Ende einer Reise oder Der Bub erzählt einen abschließenden Witz
Bub
Ärzte & Krankenschwestern
Ein Krankenhaus
Eine Bierflasche
Witzelsperger
„Witzlsperger kam gerade aus dem Supermarkt, seinen Rucksack vollgepackt mit einem Dutzend Flaschen Augustiner Bier, als ihn ein Porsche Cayenne rücklings erfasste. Einige von Witzlspergers Knochen zersplitterten, nebst elf Bierflaschen. Die zwölfte jedoch bohrte sich, kraft des Aufpralls, direkt in seinen Rücken.
Im Klinikum Großhadern kannte man so was. Ein spezielles Operationsteam stand bereit, um den mittlerweile narkotisierten Witzlsperger die nötige Behandlung zukommen zu lassen. Zunächst wurde das Rückgrat freigelegt. Oberarzt, Anästhesist, Assistenten und OP-Schwestern sahen auf einen Blick, dass es in diesem Fall nicht gut stand um den Patienten. Zu sehr hatte sich der Flaschenkopf zwischen den Wirbeln verklemmt. Ohne Zweifel würden hier bleibende Schäden entstehen. Der Oberarzt ließ einen ernsten Blick von einem Mitglied seines Teams zum anderen wandern, der von jedem mit einem kurzen Nicken erwidert wurde. Dann packte er die Flasche und zog mit aller Kraft daran. Die löste sich mit lautem Zischen, glitt dabei dem Oberarzt aus den Händen, wurde aber von Oberschwester Adelheid geschickt aufgefangen, wobei sie geistesgegenwärtig den linken Ziegefinger auf die Flaschenöffnung drückte. Noch während die Flasche durch die Luft glitt, lief Schwester Ines aus dem OP und kam mit einigen Pappbechern zurück, in die Schwester Agathe unter dem Applaus des gesamten OP Teams das gerettete Bier gleichmäßig verteilte.
Witzlsperger sah derweil schöne Lichter am Ende irgendeines Tunnels.“