o.t. die Fortsetzung

Rubrik für Theaterstücke, Szenen, Sketche, Dialoge, Hörspiele, Drehbücher und andere dramatisch angelegte Texte
Epiklord
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Beitragvon Epiklord » 29.01.2022, 16:20

In der Parkanlage hinter
dem alten Herrenhaus,
an einem verwitterten Holzkreuz,
hatte Miriam von Wetzlow
ihre bösen Gedichte angeschlagen.
Sie war damals Zwölf, ich Vierzehn.

Sie hatte ihrem Teddy eine
Schlinge um den Hals gelegt,
ihm mein Namensschild angeklebt,
und ihn an ihr Kreuz gehängt.

Ich hielt Miriam in einer abgründigen
Ecke meines Seelenkellers gefangen.

In Wirklichkeit lebt Miriam
mit ihren Eltern in den USA.
seit zwanzig Jahren.

Als ich neulich in unseren Park ging,
stand sie plötzlich wieder da,
wo das Kreuz gestanden hatte.

Es war Spätsommer, lau und
bereits dämmerig, als die
Leuchtkäfer ihr Schauspiel
aufzogen, und mitten drin
Miriam von Wetzlow mit
immernoch blonden Haaren,
und einem weißen Folklorekleid.

Und ich traute meinen Augen kaum.

Ich erinnerte mich an
die Worte meiner Mutter.
Miriams Eltern hatten in
einer Gewitternacht den Namen
Maria für sie beschlossen;
die Mutter war im neunten
Monat schwanger, als das
Kind ihr heftig stieß und
aus dem Bauch heraus
hörte die Mutter eine
kindliche Stimme:
Wenn ihr den Namen
wählt, bringe ich euch um.

Da der Vater nichts
vernommen hatte, einigte
man sich darauf, dass die
Mutter unter einer
Schwangerschaftspsychose
gelitten habe. Das Kind
nannte man aber Miriam.

Als Miriam im Alter von Fünf
einem Nachbarshuhn den
Kopf bei lebendigem Leib
abgerissen hatte, dachten
die Eltern wieder zurück an
jene mysteriöse Gewitternacht
der Namenswahl, und
nun befürchteten sie, ihre
Tochter sei von
einem Dämon besessen,
oder selbst ein böser Geist.

Ich glaubte nicht an sowas,
ging schnurstracks auf die
Tänzerin im weißen Gewand zu;
stupste sie aber an um sicher
zu gehen: man weiß ja nie.

Sie schaute mich glutvoll an,
ich konnte mich nicht entziehen,
wie damals, als ich sie in
meinen Seelenkeller verbannte.
Sie flüsterte mit Engelszunge:
Ich bin gekommen, mein
Mysteriöses, das man mir andichtete,
zu zerschlagen, denn nicht sie,
sondern der Gärtnerssohn habe
dem Huhn den Kopf abgerissen.
Er habe gedroht, wenn sie es meldet,
würde er unser Doktorspiel verraten,
das er heimlich beobachtet hatte.
So habe sie geschwiegen.

Heute, einen Monat nach Miriams
Rückkehr, haben wir uns erstmals
gegenseitig unsere Liebe gestanden.
Und eine Stunde danach am Abend
hatte man ein Huhn mit abgerissenem
Kopf gefunden, wo einst Miriams
Kreuz gestanden hatte.

Der Gärtnerssohn war in derselben
Nacht aus unerklärlicher Ursache
gestorben.

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