Stadt I

Rubrik für Theaterstücke, Szenen, Sketche, Dialoge, Hörspiele, Drehbücher und andere dramatisch angelegte Texte
lagunkel

Beitragvon lagunkel » 18.10.2010, 19:52

Ich arbeite gerade an einem neuen Stück und wollte euch mal ein paar Szenen zu lesen geben ... (mehr sage ich zunächst nicht dazu :)


Stadt I
eine Groteske


Personen:

ein Mann
eine Frau




Szene Anfang

Zwei Personen stehen mit Koffern in der Hand in Bühnenmitte. Im Hintergrund hört man schwammige, nicht erkennbare Lautsprecherdurchsagen (Bahnhofsatmosphäre)

ER: Fünf Stunden. Es dauert mindestens fünf Stunden, bis der Zug kommt.
SIE: Wo sind wir hier?
ER: Im Bahnhof.
SIE: In welcher Stadt, meine ich.
ER: Irgendeine. Ist das nicht egal? Es ist ein Bahnhof, wie jeder andere und es wird eine Stadt sein, wie jede
andere. Tonnenweise Beton, die man in bewohnbare Formen gegossen hat. Bäume, die man auf Rasenflächen
pflanzte, um es einen Park nennen zu können. Hässliche Läden für hässliche Leute.
SIE: deutet nach schräg oben Hier gibt es Schließfächer. Lass‘ uns die Koffer einschließen und in die Stadt
gehen.

Sie gehen gemeinsam los.

ER: Es ist so widerlich, dass wir hier festsitzen. Zwischen all diesen Menschen. Schau dir an, wie sie uns anschauen.
SIE: Niemand schaut uns an. Es ist fast, als würden sie uns nichtmal sehen.
ER: Du hast Recht. schaut sich um, aufgeregt Du hast Recht. Sie schauen durch uns hindurch. bleibt abrupt
stehen
Vielleicht sind wir tot.
SIE: tritt ihn vors Schienbein
ER: Au!
SIE: Von wegen tot. Du bist ein paranoider Jammerlappen. Mehr nicht.
ER: Was sollte das beweisen?
SIE: Wärst du tot, hätte ich durch dich durchtreten müssen, oder du hättest nichts gefühlt.
ER: Woher willst du wissen, wie es sich anfühlt tot zu sein?
SIE: Und woher willst du es wissen?
ER: Das ist ein Argument.
SIE: beginnt weiterzugehen, zeigt wieder nach schräg oben Da lang. Wir müssen da lang.
ER: Ich muss immer an diese Frau vorhin im Zug denken.
SIE: Die Rothaarige?
ER: Nein. Die dicke Blonde.
SIE: Sie war nicht dick.
ER: Nur, weil du dick bist, muss du doch nicht direkt mit jedem dicken Menschen sympathisieren.
SIE: Ich bin nicht dick!
ER: Du weißt, dass das nicht stimmt. Keinen einzigen Knochen kann man bei dir erkennen. Alles ist umgeben von
Fleisch ... fettigem Fleisch. Nur bist du nicht so dumm, das macht dich erträglich.
SIE: Woher willst du das wissen? Vielleicht bist du nur zu dumm, um zu sehen, wie dumm ich bin.
ER: lacht Genau solche Antworten sagen mir, dass du nicht dumm bist.
SIE: Ich hasse dich. Aber du bist der einzige Mensch, den ich ertragen kann.
ER: Das hast du wundervoll gesagt. Das hätte ich gern als Spruch in meinem Poesiealbum. Es wäre das Ehrlichste,
was sich dort finden ließe.
SIE: Du hast ein Poesiealbum?
ER: Das war nur eine Metapher.
SIE: zeigt nach schräg oben Wir müssen hoch.
ER: Diese Piktogramme sind wirklich furchtbar einfallslos.
SIE: Damit jeder Idiot sie verstehen kann.
ER: Sie aß Bienenstich.
SIE: Wer?
ER: Herrgott, die dicke, blonde Frau. Vorhin. Im Zug.
SIE: Und?
ER: Hast du gesehen, wie sie gegessen hat?
SIE: Wie denn?
ER: Sie wollte vornehm wirken und grazil. Das konnte man ihr ansehen ... Zuerst machte sie ganz kleine Bissen,
aber dann wurde sie immer gieriger. Fast wie ein wildes Tier, das durch den Geruch oder Geschmack von Blut
noch blutrünstiger wird.
SIE: Sie hat nur gegessen.
ER: Sie hat geschlungen! Verteidige sie nicht immer. Sie hat den Rest des Kuchenstücks mit zwei Bissen
verschlungen! Wie eine Schlange. Ich sah noch den Klumpen in ihrem Hals. Sie schlang es unzerkaut hinunter.
Und danach...
SIE: Noch ein Stück?
ER: Nein: Reue. In ihren Augen war Reue. Das war so ein anregendes Gefühl, als ich das sah. Diese fette Frau hat
gerade ein riesiges Stück Kuchen nahezu unzerkaut hinuntergeschlungen und nun bereut sie es.
SIE: Dich regt sowas an?
ER: Ja. Dich nicht?
SIE: Nein.
ER: Mir gibt das ein Gefühl von Macht.
SIE: Warum das?
ER: Weil sie sich nicht kontrollieren kann. Statt das Essen einfach sein zu lassen, wo sie es doch offensichtlich
eigentlich gar nicht will, siegt ihre Gier, ihr Appetit, über ihre Vernunft.
SIE: Sie hatte Hunger. Wer weiß, wie lange sie nichts gegessen hat?
ER: Sie aß die ganze Zeit. Andauernd kramte sie in ihrer hässlichen, beigen Handtasche und zog irgendwelche
klebrigen Bonbons heraus, schaute schnell in die Runde, ob jemand sie beobachtete, richtete ihren Blick dann
wieder aus dem Fenster, wartete noch einen Moment und schob dann blitzschnell mit der rechten Hand das
Bonbon in ihren Mund, tat kurz so, als hustete sie, und starrte dann weiter hinaus, bis ihr Speichel das Bonbon
komplett aufgelöst hatte und das Ganze von Neuem begann.
SIE: bleibt stehen, schaut sich um Hier waren wir schonmal.
ER: Meine Füße tun weh. Ich kann nicht mehr lange laufen in diesen Schuhen.
SIE: Wir sind im Kreis gelaufen.
ER: Herrgott, gerade noch stellst du fest, wie plump diese Piktogramme sind, und dann verläufst du dich
tatsächlich. Anscheinend habe ich dich wirklich überschätzt.
SIE: Du bist doch mit mir gegangen! Du hättest ja auch darauf achten können.
ER: schiebt sie etwas bei Seite, schaut sich die Bilder an So, ab jetzt übernehme ich die Führung. zeigt in
eine Richtung
Da lang.

Sie gehen los.

SIE: Du humpelst ja.
ER: Ich sagte doch, dass mir die Füße weh tun.
SIE: Deswegen muss man ja nicht gleich humpeln.
ER: Du würdest auch humpeln, wenn du kein Fleisch mehr um deine Knöchel hättest.
SIE: Ich sagte ja: Die Schuhe sind zu eng.
ER: Aber sie sehen so wundervoll aus.
SIE: Aber sie passen nicht an deine Füße.
ER: Das sind die schönsten Stiefeletten, die ich je hatte. Und man findet ja so selten Stiefeletten für Herren.
SIE: Du kriegst den Reißverschluss fast nicht zu. Und das, obwohl deine Beine nur Haut und Knochen sind. Ich frage
mich, wem das korrekt passen soll.
ER: fahrig Es passt doch! Wie angegossen!
SIE: Meinetwegen. Mir ist das egal. Hör‘ nur auf zu jammern. Das ist widerlich.
ER: zeigt nach oben Jetzt rechts herum.
[...]




Szenen Mitte

[...]
ER: Weil Schmerz die einzig wahre Emotion ist. Eine logische Emotion — das ist eigentlich ein Paradoxon, eine
logische Emotion.
SIE: Dann dürftest du es eigentlich nicht als Emotion bezeichnen. Es ist eine Körperreaktion.
ER: Und eine Emotion.
SIE: Nenn‘ es, wie du willst. Ich kann jedenfalls nachvollziehen, dass man das von Außen als masochistisch
wahrnimmt.
ER: Was hast du denn auf ein Mal? Dauernd ritzt du dir lustige Muster in die Oberarme, und dann verteufelst du es?
SIE: Ich sage doch nichts dagegen. Ich sage nur, dass ich die Reaktion der Leute nachvollziehen kann.
ER: Ich hasse diese humanistische Ader an dir.
SIE: Ich auch.
ER: Einmal schnitt ich so tief, das war eher ein Versehen. Der Schmerz war atemberaubend, doch sekundenlang
starrte ich auf die klaffende Wunde an meinem Arm — Nichts. Kein Blut. Ich sah alle sonderbaren
Hautschichten und musste an den Biologieunterricht in der siebten Klasse denken. Und erst, als ich daran
dachte, dass da ja eigentlich Blut sein müsste, erst dann spritzte es heraus. Wie im Horrorfilm.
[...]

[...]
SIE: Ich kann diesen ganzen Kunstkram nicht mehr sehen. Das ist alles nur affektierter Müll. Alle Kunst ist
affektierter Müll. Niemandem nützt es. Und je größer das Format, desto eindrucksvoller der Müll. Und dann
stehen sie davor und denken und denken und interpretieren und sprechen von Phasen und Zyklen und
Perioden. Ich habe auch Perioden und könnte fünf Tage wandeln über große Leinwände. Und auch davor
würden sie stehen und es nicht verstehen und was man nicht versteht, das ist Kunst. Und wenn man für den
Feuilleton einer großen Zeitschrift schreibt, muss man ab und zu alles scheiße finden, um den Eindruck zu
erwecken, man hätte eine Meinung. Vielleicht sogar eine, die auf etwas soliderem basiert, als auf der eigenen
Affektiertheit, der subjektiven Wahrnehmung. Und ich stünde daneben, mit kalter Miene, und ich würde sie alle
hassen.
ER: Zu Recht.
SIE: Und sie würden große Worte finden für das, was sie nicht verstehen und ich würde schweigen zu dem, was ich
nicht verstehe. Und ich fühlte mich selbst wie ein Museum für all diese sinnlosen Gefühle. Und ich könnte gar
nicht so tief schneiden mit dem Skalpell, dass ich wieder mich fühle, meinen reinen Schmerz, ungefärbt.
[...]

[...]
ER: Wenn man halbwegs intelligent ist, kann man nicht zufrieden sein. Jeder depressive Mensch ist tausendmal
gesünder, als diese ganzen lachenden, zufriedenen Affen. Es ist widerlich zu erkennen, dass man nichts ist.
Nichts. Wir haben den Kampf gewonnen. Und die Krone der Schöpfung? Die haben wir uns einfach aufgesetzt
und niemand wagt in den Spiegel zu schauen, weil man ahnt, wie lächerlich der Anblick sein wird.
SIE: Er nennt‘s Vernunft und braucht‘s allein, nur tierischer als jedes Tier zu sein.
ER: Ich mag Goethe nicht.
SIE: Du magst niemanden.
[...]




Szene Gegen Ende

[...]
ER: Wenn wir nicht endlich einen Korkenzieher finden für diese dämliche Flasche, dann werde ich den Flaschenhals
abschlagen und den Wein mit Splittern trinken.
SIE: Dann könntest du wenigstens nicht mehr jammern. Nur noch blutige Würgelaute von dir geben — die könnte
ich leichter überhören.
ER: Du kannst dir nicht vorstellen, wie sich das anfühlt! Wahrscheinlich sind meine Schuhe schon voll Blut gelaufen,
jeden Moment wird es herausrinnen, ich werde eine Blutspur hinter mir herziehen. Nie wieder werde ich diese
Schuhe ausziehen können. Meine Füße sind nur noch zerschundene, blutige Stummel, die nur von meinen
Schuhen zusammengehalten werden.
SIE: Gib mir die Weinflasche. Da vorne ist der Laden, wo du sie gekauft hast. Ich werde sie jetzt umtauschen; dann
hast du wenigstens Geld, um deinen idiotischen Koffer abzugeben.
ER: reicht ihr die Weinflasche Schlag sie ihm über den Kopf! Ich will kein Geld, ich will den Wein.

SIE: kehrt zurück mit der Weinflasche, lächelnd Er hat sie nicht zurückgenommen.
ER: wütend Gib sie her. Das reicht! Ich werde jetzt dort hinüber humpeln und ihm die Weinflasche in irgendeine
Körperöffnung rammen.
SIE: Er hatte einen Korkenzieher. Er hat sie geöffnet und den Korken vorsichtig wieder hineingedrückt.
ER: Wir sind gerettet.

Sie setzen sich auf die Bank, er nimmt die Flasche an sich und versucht den Korken herauszuziehen

ER: Dieser Idiot hat den Korken zu tief hineingesteckt!
SIE: Gib her. So dumm kann man doch gar nicht ... probiert den Korken zu entfernen Ok, man kann so dumm
sein.
ER: Ich schlage jetzt wirklich einfach den Flaschenhals ab.
SIE: Dann kann ich nichts davon trinken. Ich habe eine Nagelfeile dabei, lass uns versuchen den Korken irgendwie
herauszupopeln holt eine Nagelfeile aus ihrer Tasche, beginnt am Korken rumzudoktern
[...]

Quoth
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Beitragvon Quoth » 18.10.2010, 20:50

Hallo, Lagunkel,
die ersten und die letzten Szenen gefallen mir gut. Sie zeigen die beiden Protagonisten in Situationen von einiger Absurdität. Im mittleren Teil wird mir zu viel "Weltanschauung" verzapft, ohne dass ich einen Anlass dafür erkenne. Dramatisch ist es für mich immer nur, wenn Entscheidungen anstehen, bei Erörterungen verliert sich die Dramatik und es wird irgendwie gemütlich, auch wenn die erörterten Positionen noch so ungemütlich sind.
Gruß
Quoth
Nachtrag: d e n Feuilleton?
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.

RäuberKneißl

Beitragvon RäuberKneißl » 17.11.2010, 22:57

Hallo Lagunkel,
wenn nur zwei Personen auf der Bühne sind, muss sich ganz schön viel zwischen ihnen ereignen, um ein Stück zu tragen. Ich hatte den Eindruck, dass die beiden eine Art von symbiotischer Beziehung haben, trotz aller zur Schau getragenen Antipathie. In dieser Hinsicht ähneln sich die Szenen für mich (zu) sehr - ich erkenne an den Ausschnitten den 'Arc' noch nicht, den Entwicklungsbogen in den Personen oder ihrer Beziehung. Oder besteht das Groteske im Verzicht auf die drei großen A: Arc, Appeal, Action?
Die Schlitzer-Thematik aus der Mitte empfinde ich nicht konsistent zu den Figuren; weder zur dicken Frau noch zu dem über seine Schuhe jammernden Mann. Geht es dabei tatsächlich um Kunst - oder deuten die ... auf eine ganz andere, spätere Textstelle? Jedenfalls hast du dich auf einen schwierigen, dornigen, aber auch mutigen Weg begeben, falls die Idee ist, außerhalb der gängigen Dramatik des empathischen Mitfühlens Zuschauer ins Theater zu locken.


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