Cora im Chat

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 31.08.2009, 01:04

Cora im Chat

Seit Cora in die Vorstadt gezogen ist, fühlt sie sich zuweilen recht einsam.

Anfangs gab es im Keller ihres Altbauhäuschens Mäuse und riesige Spinnen. Cora musste den Kammerjäger holen, der das Geziefer mit Stumpf und Stiel ausrottete. Der Keller ist eine weiß getünchte Einöde, in der die Waschmaschine und ein kleines Trockengestell einander Gesellschaft leisten. Cora hat niemanden mehr.

Abends, wenn die ersten kühlen Lüftchen durch die weit geöffneten Fenster ihres Hauses streichen, setzt sie sich an den Rechner und beamt in ihren Chatraum. Sie hat ein paar Wochen suchen müssen, um den richtigen Chatraum zu finden, mit netten Teilnehmern, die zuverlässig wiederkommen. Bald stehen Mister Spock, Macbeth, Winnetou und wie sie alle heißen ihr näher als die eigene Nachbarschaft.

Die Sommernächte sind lang und heiß. In den Nachbargärten qualmen die Grillsteaks, sülzt Xavier Naidoo aus einem Kofferradio, übt jemand Kastagnettenklappern – Cora ist alles egal. Sie chattet. Wenn es gar zu laut wird, holt sie ihren MP3-Player aus dem Wohnzimmer, steckt sich die Stöpsel in die Ohren und gönnt sich ein paar Streichquartette. In ihrem Chatraum kann sie sich gehen lassen. Sie kann die Bluse ausziehen; niemand sieht die Speckfältchen um ihre Taille. Überhaupt kann hier keiner wissen, dass Cora klein und rund ist, mit einem Anflug von Doppelkinn. Niemand nimmt Anstoß daran, dass sie meistens vergisst, sich die Beine zu rasieren, und ihr krauses Haar schon lange keinen Friseur mehr gesehen hat. Im Chatraum tritt Cora als »Freia, die Fee« auf. Freia hat keine Mitesser auf der Nasenspitze oder verkrüppelte Zehennägel. Groß und schlank ist sie und so biegsam wie ein Schilfrohr im Wind, ihre Haut ist zart und weiß wie Milch, ihr Gang selbstbewusst. Ja, das ist Freia!

Über ihre Chatpartner macht sich Cora keine Illusionen. Mister Spock ist wahrscheinlich im reallife untersetzt und mausohrig und frisiert Bilanzen. Macbeth ist weit davon entfernt, den Schlaf zu morden, sondern schlägt sich allenfalls chattend die Nächte um die Ohren. Und Winnetou könnte ein Rohrleger sein oder Teppichfliesen verkaufen. Mit Sicherheit hat er keinen blauschwarzen Haarwasserfall oder kann sein Bowiemesser punktgenau werfen. Alles Schmus, ebenso wie Freia, die Fee. Aber was macht das schon aus?


USER IN LOBBY: Freia, Macbeth, Winnetou
Freia: ich geh noch kaputt vor hitze.
Winnetou: ich hab auch nur nen lendenschurz an
Macbeth: und ich einen kilt mit nichts drunter. aber das wollt ihr nicht wirklich sehen.
Winnetou: *prust *
Macbeth: *zapft eine runde guiness * cheers!
Freia: thanx, auf dein ganz spezielles! *schlürf *


Und so weiter. Natürlich erzählt jeder das Seine im Chat. Winnetou langweilt sich; sein Leben sei zu arm an Herausforderungen. Macbeth hat Eheprobleme – nichts glaubhafter als das. Die Unsterblichkeit, sei es auch bloß die literarische, macht das Leben eben auch nicht leichter. Und Freia, die Fee, lebt allein auf einem verwilderten Grundstück (dass der Keller gründlich saniert wurde, muss ja keiner wissen) und lässt sich den Mittsommernachtwind durch die flatternden blonden Haare streichen. O ja!

Boppo Wischbüdel, der Hobbit, mischt sich ein. Auch er leidet unter der Hitze und unter einer verständnislosen Nachbarschaft. Natürlich hat er nichts gegen gegrillte Schweinesteaks und dick gebutterte Knoblauchbrötchen, aber die laute Popmusik dazu geht ihm auf die Nerven.


USER IN LOBBY: Boppo Wischbüdel, Freia, Winnetou
Freia: das kenn ich, dieser ätzende krach! ich mag lieber was klassisches.
Boppo Wischbüdel: andré rieu?
Freia: streichquartette, haydn und so.
Boppo Wischbüdel: spielst du selbst?
Freia: ja, flöte und geige.
(Was glatt gelogen ist, aber es gehört zu Freias Feen-Attitüde.)
Boppo Wischbüdel: das ist sicher schön. ich spiel ein bisschen klampfe. nur so zum mitsingen.
Freia: und du, winnetou? du hast doch sicher eine trommel aus büffelfell. oder so was.
Boppo Wischbüdel: du, ich glaube, der ist eingeschlafen. Ist schon zwei uhr vorbei. bestimmt ist er mit dem kinn auf die tastatur geknallt.
Freia: *prust *
Boppo Wischbüdel: aber erzähl doch von dir. du hast sicher einen großen garten? mit zwergen drin?
Freia: ja, ich hatte zwerge, aber xavier naidoo hat sie vertrieben.
Boppo Wischbüdel: um so besser. ich wäre sowieso lieber allein mit dir. lass uns im gras liegen, unter den himbeerbüschen, und zur milchstraße hinaufschauen. gibt es auch rosensträucher in deinem garten? ich bringe eine flasche wein mit.


Man merkt, Boppo ist den angenehmen Dingen des Lebens nicht abgeneigt. Gemütlichkeit, ein guter Tropfen, die Gesellschaft schöner Frauen … Boppo Wischbüdel ist ein guter Unterhalter. Es geht auf drei Uhr früh, Macbeth hat schon lange den Chatraum verlassen und Winnetou ist zwar noch eingeloggt, schreibt aber nichts mehr – vermutlich schläft er vor dem Bildschirm. Nur Boppo führt die Unterhaltung mit Fee Freia auf hohem Niveau weiter. Noch nie hat Cora sich so freundlich angenommen gefühlt.

Der Sommer erreicht seinen Höhepunkt, in den umliegenden Gärten quengeln liebestrunkene Katzen, und Cora sitzt Abend für Abend vor dem Computer, die Füße in einer Waschschüssel mit kaltem Wasser, und chattet mit Boppo Wischbüdel. Natürlich ist ihr auch jeder andere Gesprächspartner willkommen, aber Boppo ist der netteste. Er hat die gleichen Interessen wie sie, die gleichen Ansichten, er teilt ihre Vorliebe für Halbedelsteine und warme Wollsocken (wenn der Herbst endlich kommt) und kennt die gleichen Lieder. Nur für Streichquartette hat er nichts übrig, aber mit etwas gutem Willen gewöhnt er sich sicher daran: Hobbits sind ja bekannt für ihre Tapferkeit und Fähigkeit, sich ins Unvermeidliche zu fügen. Immer öfter stellt Cora sich in ihrer computerfreien Zeit vor, wie nett es wäre, könnte man mal etwas zusammen unternehmen ... Sie sprechen nie darüber, aber Cora ist überzeugt, dass er sogar die gleiche Partei wählt wie sie.

Und so ist es ganz natürlich, dass irgendwann die Rede auf ein Treffen kommt, ein richtiges Kennenlernen, nicht virtuell, sondern im reallife.

Auf neutralem Boden, darauf besteht Cora, und er hat keine Einwände. Er wohnt auch gar nicht so weit entfernt. Bloß etwas über hundert Kilometer liegen zwischen ihnen. Boppo wird zu ihr kommen; er ist gern unterwegs. Sie verabreden sich in einem Café in der Innenstadt.


USER IN LOBBY: Boppo Wischbüdel, Freia
Boppo Wischbüdel: die straße gleitet fort und fort, weg von der tür, wo sie begann ...
Freia: tolkien?
Boppo Wischbüdel: das hat er mir auf den leib geschrieben.
Freia: boppo, weißt du was? Ich freu mich wahnsinnig auf dich.
Boppo Wischbüdel: * ist ganz gerührt * ich freu mich auch.
Freia: sag mal, wie alt bist du?
Boppo Wischbüdel: na, sagen wir, am ende der zwiens.
Freia: die gehen bis 33, oder?
(Cora kennt sich nicht aus mit Hobbitsitten; sie hat natürlich Tolkien gelesen, aber das meiste längst vergessen.)
Boppo Wischbüdel: und wie alt bist du? wenn ich fragen darf?
Freia: natürlich darfst du. ich bin 208.


Keiner kann behaupten, sie hätte sich jünger gemacht. Aber eigentlich wollte sie nur dezent zur Sprache bringen, wie sie einander in diesem Café erkennen sollen? Boppo löst das Problem zwanglos. Er würde ihr ja gerne Blumen mitbringen, aber die würden welken auf der langen Fahrt.

Boppo Wischbüdel: tut es vielleicht auch ein schöner kürbis?
Freia: den würde ich mindestens so gern nehmen wie blumen.
Boppo Wischbüdel: das ist gut, also ein kürbis. bitte nicht böse sein. ich würde dich natürlich gern mit rosen überschütten, aber darauf komm ich später zurück, ja?
Freia: ich mag kürbis total gern. und der passt auch viel besser zu einem hobbit.


Und zu ihr, Cora, auch. Aber das behält sie für sich.

Als der große Tag gekommen ist, wuselt Cora schon früh morgens aufgeregt in ihrem Haus herum. Es könnte ja immerhin sein, dass sie sich gleich vollkommen sympathisch sind! Schließlich liegen sie in fast allem auf derselben Wellenlänge, dafür hat sie Beweise! Es könnte sein, dass sie sich veranlasst fühlt, ihn zu sich nach Hause einzuladen? Natürlich erst, wenn sie sich ausgiebig beschnuppert haben. Es könnte sogar so kommen, dass er – nun ja – über Nacht bleibt? Jedenfalls muss das Haus vorzeigbar aussehen. Cora putzt und wienert Küche und Bad, prüft nach, ob sie notfalls alle Zutaten für ein spontanes gemeinsames Abendessen im Haus hat und vor allem ein, zwei Flaschen Wein. »Alten Wingert« hat sie leider nicht, aber dafür jungen Zweigelt!

Die letzte halbe Stunde verbringt sie vor dem Kleiderschrank und die allerletzte halbe Stunde im Badezimmer. Die Beine rasieren, diesmal vergisst sie es nicht, und ihr schönstes Paar Ohrringe anlegen. Ein letzter prüfender Blick: nun ja, sehr feenhaft sieht sie nicht aus. Aber die Ohrringe sind nicht ohne Eleganz: leuchtende Mondsteine in einer Silberfassung. Ja, so etwas passt sogar zu Freia, der Fee.

Beflügelt steigt sie in den Bus, lässt sich in die Innenstadt tragen.

Ein fürchterliches Gedränge herrscht in der Fußgängerzone. Wenn er nun in dem Café keinen freien Platz findet? Aber dann wird er sicher irgendwo in der Nähe warten. Sie braucht nur nach dem Kürbis Ausschau zu halten. Auf jeden Fall kann es nicht schaden, wenn er früher eintrifft als sie; dann kann sie ihn schon mal aus der Ferne mustern. Mit klopfendem Herzen schlendert sie herum, nähert sich dem Cafe auf Umwegen, beobachtet die Passanten – mit Blumen gehen viele, auch einzelne Männer, aber keiner mit einem Kürbis.

Das Café ist keineswegs voll. Cora schweift in weitem Bogen um die Tische und Stühle unter den Sonnenschirmen, kann nichts erkennen und kommt diskret näher. Ach was, sie braucht gar nicht besonders vorsichtig zu sein – er weiß ja nicht, wie sie aussieht. Da hinten ist ein Tisch mit einem Kürbis, einem großen. Und einem Glas Wasser. Und es sitzt ein einzelner Mann davor.

Cora verhält mit stockendem Atem, zieht sich zwei Schritte zurück, sinkt auf einen freien Stuhl.

Er wendet ihr die linke Seite zu, aber sie kann erkennen, dass er einen Vollbart hat. Braun und lockig. Und lange, dichte, ebenfalls braune Haare. Aus seinem Gesicht ragt eine dünne weiße Pfeife, aus der Rauchwölkchen aufsteigen. Das Gesicht kann Cora nicht sehen, wohl aber die Füße unter dem Tisch. Sie sind riesig. Riesige, nackte, mit krausen braunen Haaren bedeckte Füße. Sie reichen gerade bis auf den Boden. Er kann nicht viel größer sein als ein zwölfjähriges Kind. Doch das ist ja eher groß für einen Hobbit. Wirklich, er sieht nicht übel aus. Er trägt ein Leinenhemd und darüber einen grünen Umhang, der am Hals mit einer silbernen Spange geschlossen ist. Elbenschmuck, denkt Cora. Ein Hobbit, der herumgekommen ist. Er wendet plötzlich den Kopf, sein Blick fällt für Sekundenbruchteile auf sie und gleitet dann weiter. Hat er ihr Erröten bemerkt?

Jetzt dreht er sich in seinem Stuhl halb um und schaut hinüber auf die andere Straßenseite. Er sucht Freia, die Fee. Und unwillkürlich folgen ihre Augen seinem Blick, als müsse es so sein, dass jetzt Freia die Szene betritt: zart, geschmeidig, blond, biegsam wie ein Schilfrohr, von einem Seelenwindchen bewegt. Coras Hand irrt an ihr Ohr, betastet den Mondstein – ja, er ist noch da; niemand macht ihn ihr streitig. Freia kommt nicht. Doch dann sieht sie ihn, auf der anderen Seite, gerade da, wo Boppo hinschaut: einen einzelnen Mann inmitten der Menge, gut einen Meter achtzig groß, stark, dunkeläugig, mit einer mächtigen blauschwarzen Haarmähne. Er trägt Hosen aus weichem, besticktem Leder. Aber keine Silberbüchse, das wäre zu auffällig in der Fußgängerzone.

Er nickt Boppo zu und zuckt in einer bedauernden Pantomime mit den Achseln. Natürlich hat er keine Armbanduhr. Indianer tragen keine Uhren. Aber an der Wand hinter ihm hängt eine Digitaluhr, auf die er mit einer knappen Geste hinweist: Es ist schon lange über die Zeit, Freia kommt sicher nicht mehr.

Coras Hobbit senkt den Kopf. Klopft die Pfeife aus, trinkt sein Wasser. Er steht auf, überquert die Straße. Den Kürbis lässt er liegen.
Tröstend legt Winnetou ihm eine Hand auf die Schulter. Gemeinsam gehen sie davon. Doch als Cora ihnen nachschaut, dreht Winnetou sich plötzlich um und sieht Cora in die Augen. Er hat sie erkannt. Er sagt es nicht weiter. Sein Blick ist betrübt, aber verständnisvoll: der Blick eines Unsterblichen.

@Anna Rinn-Schad
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
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Mucki
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Beitragvon Mucki » 31.08.2009, 19:56

Hi Zefi,

wunderbar flüssig und anschaulich geschrieben. Ich musste es in einem Rutsch lesen und war so gespannt auf das Ende! Und auch dies finde ich sehr gelungen. Der Hobbit sieht tatsächlich wie ein Hobbit und Winnetou tatsächlich wie ein Indianer aus. Cora ist hier die einzige, die den anderen etwas vorgegaukelt hat.
Und dass sich der eine Chatter den anderen als Verstärkung mitbringt, und ausgerechnet dieser Cora erkennt, ist wirklich überraschend. Ich hätte mit allem gerechnet, aber nicht damit! *g*
Am Ende denke ich: schade, eigentlich hätten Cora und der Hobbit gut zusammengepasst. ,-)
Deine Geschichte hab ich verschlungen!

Saludos
Mucki

Max

Beitragvon Max » 31.08.2009, 20:55

Liebe Zefi,

das ist toll.
Bis zu drei Vierteln war ich völlig von der Frage gefesselt, wie es wohl enden wird. Gleichzeitig ging mir durch den Kopf, dass sowohl die Chatszenen erschreckend realistisch sind, die Gedanken vermutlich sehr gut getroffen und dass der Text hier im salon eine zusätzliche selbstbezügliche Note bekommt, denn das leichte Korrigieren kleiner Fehlern, das in andere Personen schlüpfen ist ja auch durchaus ein Aspekt in den Diskussionen hier ...
Die Auflösung schließlich ist Dir grandios gelungen. Ein Text, der zwischen Leichtigkeit und Tiefe schwebt und vom Leichten und Schweren das Beste hat.

Liebe Grüße
Max

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 01.09.2009, 17:56

Danke euch :-)
Cora ist meine Serienheldin ...
Lieben Gruß von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
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(Ikkyu Sojun)

Max

Beitragvon Max » 01.09.2009, 17:57

Oh, dann zeig mal am besten alles, was es von Cora gibt :-)

Liebe Grüße
Max

Sam

Beitragvon Sam » 02.09.2009, 18:18

Hallo Zefira,

auch mir gefällt diese Geschichte sehr gut. Du schaffst es, jedwedem Klischee aus dem Weg zu gehen (und ja, ich habe nur darauf gewartet, dass etwas kommt, wo ich denke - na siehste!) und lässt die Geschichte auf eine überraschende Art ausgehen. Aber nicht nur überraschend, sondern auf eine angenehm melancholische Art. Coras Einsamkeit und die daraus resultierende Verstellung wird hier nicht nur einfach bloßgestellt. Sie wird durch die Art wie du schreibst (und du kannst wirklich beneidenswert gut schreiben!!!) und wie du die Sache ausgehen lässt, nicht einfach nur als Chatroomlooser dargestellt, der an der Konfrontation der virtuellen mit der realen Welt scheitert, sondern daran, dass sie von sich so zweifelsfrei auf andere schliesst. Das geht weit über den eigentlichen Rahmen der Geschichte hinaus, betrifft also nicht nur die einsamen und vereinsamenden Internetjunkies, sondern eigentlich jeden Menschen und dessen Einschätzung seiner Umwelt.

Wirklich sehr gelungen!


Liebe Grüße


Sam

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 03.09.2009, 00:46

Danke, Sam, von Dir bedeutet mir das viel ...

Sie wird durch die Art wie du schreibst und wie du die Sache ausgehen lässt, nicht einfach nur als Chatroomlooser dargestellt, der an der Konfrontation der virtuellen mit der realen Welt scheitert, sondern daran, dass sie von sich so zweifelsfrei auf andere schliesst.


Ich könnte mir vorstellen, dass jemand, der sich so auf Chat-Kommunikation konzentriert wie Cora, immer in so einer Art No-Win-Situation ist, wenn er die virtuellen Bekanntschaften in reale überführen möchte. Mit anderen Worten - ich habe keine Ahnung, wie Boppo Wischbüdel hätte aussehen müssen, um das zu sein, was Cora sich vorgestellt hat. Vermutlich sind da so viele einander widersprechende Erwartungen im Spiel, dass kein Mann allen gerecht werden könnte.

Ich persönlich glaube nicht, das Cora enttäuscht nach Hause gegangen ist. Wenn ich versuche, mich in sie hineinzuversetzen, sehe ich sie zugleich abgeklärt und bereichert.

Schönen Gruß von Zefira
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Lisa
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Beitragvon Lisa » 03.09.2009, 20:30

Liebe Zefi,

umso mehr Texte ich von dir kenne (und das sind immer noch viel zu wenig), desto deutlicher wird mir, dass deine Erzählkust zwar auch von technischem Können abhängt (immer ausgefeilt, wohlüberlegt und gesetzt), aber im besonderen doch dein Gespür für Menschen mich anzieht, das sind ganz feine Nuancen, die man gar nicht konkret benennen könnte, aber Sam hat es gut getroffen: Man wartet zum Teil sogar, dass es irgendwann Richtung Oberflächlichkeit, Klischee oder Gag abdriftet, aber du hältst alles immer ganz fein zusammen. Die Figuren sind so..nah, obwohl sie irgendwie Versagertypen sind, sind sie doch gefestigt, gesichert, sie haben eine echte Würde, weshalb einen deine Geschichten traurig aber nicht hoffnungslos machen lassen...es ist ein wenig, als ob man an einem wachen, weichen Tag auf einem Platz Menschen beobachtet...

Ich finde wirklich, dass du richtig toll und berührend schreiben kannst!

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Rosebud

Beitragvon Rosebud » 03.09.2009, 22:04

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Zuletzt geändert von Rosebud am 26.06.2015, 18:58, insgesamt 1-mal geändert.

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Beitragvon Zefira » 05.09.2009, 00:24

Danke euch Lieben :hide:

Und wer wie Cora auch noch das letzte Natürliche "ausrotten" lässt, damit die Technik in Form einer Waschmaschine (weiß vor weiß) wenigstens die akustische Einöde beseelt, der braucht ganz folgerichtig einen "Chatroom".


Das ist ein wenig ungerecht gegenüber Cora, aber das kannst Du nicht wissen: das Kammerjäger-Drama ist die erste Geschichte, die über Cora entstanden ist. Hier mag ich sie im Moment nicht zeigen, sie ist nicht gut genug. Jedenfalls war Cora, was den Keller betraf, in einer klaren Zwangslage - die Mäuse und Ratten drohten die Überhand zu gewinnen. Dass der Kammerjäger dann derart gründlich aufgeräumt hat, war ihr eigentlich gar nicht recht ...

Schönen Gruß von Zefira!
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(Ikkyu Sojun)

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 05.09.2009, 10:33

Hallo Zefira,

Was "Cora" betrifft bin ich geteilter Meinung. Gefallen hat mir die Sprache, z.B. diese Stellen :

Er hat die gleichen Interessen wie sie, die gleichen Ansichten, er teilt ihre Vorliebe für Halbedelsteine und warme Wollsocken (wenn der Herbst endlich kommt) und kennt die gleichen Lieder.

wegen der absoluten Banalität

Er wendet plötzlich den Kopf, sein Blick fällt für Sekundenbruchteile auf sie und gleitet dann weiter.

wegen der feinen, sehr anschaulichen, knappen Beschreibung

Aber etwas in mir wehrt sich gegen die Tolkinisierung des Chatsraums.
Während ich schreibe, fällt mir allerdings ein, dass der Zusammenhang zwischen Karl May - Winnetou - dem deutschen Wohnzimmer und der willentlichen Ausgestaltung des Chatraums sehr gut passt (auch die Waschmaschine).

Der Hobbit, Winnetou, Freya = rechtslastige Volksikonen? Der Chatraum als Verbrämung der Unfähigkeit im reallife zu sein?

Mir gelingt es nicht, zu Cora den nötigen Abstand zu finden. Das Zusammenspiel von Realität und Chatwelt wird mir nicht klar : Warum tauchen Bilbo und Winnetou als reale Gestalten auf, warum nur Winnetou 'unsterblich' (als Helden der Literatur sind sie es beide)?

Mir hätte ein rotgesichtiger, kürbiskopfiger Rentner mit Hawai-T-shirt besser gefallen. Einer, der grade vom Türkeiurlaub zurückkommt ...

Vielleicht habe ich nicht verstanden, warum du am Ende reallife und Chatraum gegenüber stellst.

Ich würde mich über deine Antwort freuen.

liebe Grüße
Renée

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 05.09.2009, 23:32

Warum tauchen Bilbo und Winnetou als reale Gestalten auf, warum nur Winnetou 'unsterblich' (als Helden der Literatur sind sie es beide)?


Liebe Renée,

dass Boppo (nicht Bilbo!) "sterblich" sei, wird ja im Text nirgends gesagt. Von Winnetou und Macbeth heißt es ausdrücklich so, aber das bedeutet nicht, dass es nicht auch für Boppo gälte. (Übrigens sind Winnetou und Macbeth natürlich auch "echter" als ein Hobbit, der zwar einen Hobbitnamen hat, aber so bei Tolkien nicht vorkommt.)

Mir ist ein wenig unbehaglich bei Deiner Frage, weil das ein Punkt ist, auf den ich oft angesprochen werde (oder jedenfalls früher wurde). In meinen Geschichten gibt es in den meisten Fällen keine klare Trennung zwischen Realität und Illusion. In dieser Geschichte hier deutet sich das ja schon an, als Cora überlegt, dass Boppo sich schon an ihre Musikvorlieben gewöhnen wird, weil Hobbits allgemein tapfer und anpassungsfähig seien. Das ist nicht ironisch gemeint. Cora sieht ihren Chatpartner in diesem Augenblick als Hobbit; sie kennt ihn ja auch gar nicht anders als so.

Mit rechtslastigen Volksikonen hatte ich aber rein gar nichts im Sinn - da wird mir richtig mulmig, vielleicht sollte ich Freias Namen ändern ...?

Schönen Gruß von Zefira
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ferdi
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Beitragvon ferdi » 06.09.2009, 02:54

Hallo Zefira,

ist "Freia" ein passender Name für eine Fee?! In meinen Ohren klingt das etwas seltsam... Aber natürlich ist er ein Stückweit auch ein "sprechender Name", oder? Von daher, lass ihn. "Rechtslastige Volksikonen" sind mir jedenfalls nicht erkennbar ;-) Dass dir der Text an sich sehr gut gelungen ist, wurde ja schon erwähnt, glaube ich :-)

Ferdigruß!

PS Bzgl eines deiner Kommentare: Die Oberhand gewinnen bzw. Überhand nehmen ;-)
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 06.09.2009, 07:25

Liebe Zefira,

Wenn du Tolkien und Karl May + Ideologie googelst, findest du Hinweise auf diese (vermeintliche) "Rechtslastigkeit". Es hätte ja von dir durchaus auch so beabsichtigt sein können (trotz Macbeth). Ich habe deinen Text allerdings nicht so empfunden, der Gedanke ist mir erst gekommen, als ich mich beim Schreiben nochmal fragte, warum du gerade diese Namen oder Fantasiewelten ausgewählt hattest. Es ist vielleicht einfach auch eine Art Kinder/Jugend-welt, (wieder mit Ausnahme von Macbeth).
Ich finde die Beschreibung von Coras Realität in ihrer Einsamkeit, in ihrem Chatraum, in ihrer Ilusion eines Treffens sehr bewegend, nur dieser Einsatz der drei männlichen "Figuren" bleibt mir rätselhaft.

liebe Grüße

Renée


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