Die Geschichte ohne Ende

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Sam

Beitragvon Sam » 28.08.2009, 18:04

Die Geschichte ohne Ende



Gestern erzählte mir ein Bekannter eine Geschichte, von der er behauptete, sie habe sich tatsächlich so zugetragen.

Ein junger Mann, der sich viele Gedanken über die Vorhersehung und den Zufall machte, wollte sich durch ein mutiges Experiment Klarheit über diese Dinge verschaffen. Der Versuch sah folgendermaßen aus:
Seinen beiden engsten Freunden gab er zwei versiegelte Briefumschläge und bat sie, zu einer genau festgelegten Zeit gegeneinander zu würfeln. Der Gewinner würde einen der Umschläge auswählen, ihn aber erst öffnen, nachdem er den anderen Umschlag verbrannt hätte. Zur gleichen Stunde, in der die Freunde ihr Würfelspiel beginnen sollten, ließ der junge Mann sich von einem Fremden an einem bestimmten Ort in einer Holzkiste vergraben. In einem der Umschläge war auf einem Zettel dieser Umstand und der Ort genau beschrieben. Der andere Umschlag enthielt einen Abschiedsbrief des jungen Mannes, in dem er mitteilte, er hätte aus persönlichen Gründen das Land verlassen und würde sehr lange auf Reisen sein.

An dieser Stelle brach mein Bekannter seine Erzählung ab, mit der Bemerkung, er wisse leider nicht, was mit dem jungen Mann geschehen sei und wie die Sache endete. Aus diesem Grund nahm ich an, seine Geschichte wäre erfunden.

Seither denke ich ständig an den jungen Mann, der in jener Holzkiste liegt und nicht weiß, ob dies nun sein Grab werden wird oder nicht.

Ich frage mich, wie die Geschichte endet. Erwählt der Gewinner des Würfelspiels den richtigen Umschlag, werden die Freunde den jungen Mann aus seinem Gefängnis befreien. Öffnen sie den Umschlag mit dem Abschiedsbrief und haben sie den anderen Umschlag vorher verbrannt, so wird der junge Mann in seinem Grab verbleiben und für immer dort beerdigt sein. Es sei denn, der Fremde, der ihn dort vergraben hat, beschließt zurückzukehren um nach dem jungen Mann zu sehen, trotz des Geldes, das er erhalten hat und der strikten Anweisung, die Stadt sofort zu verlassen.
Vielleicht haben aber die Freunde den zweiten Umschlag doch nicht verbrannt und öffnen ihn, nachdem sie den Abschiedsbrief gelesen haben, und der junge Mann wird noch gerettet. Eine weitere Möglichkeit bestünde darin, dass die beiden Freunde keine richtigen Freunde sind, der junge Mann in ihren Augen ein eitler Schwätzer ist, dieses Würfelspiel nie stattfindet und die Umschläge ungeöffnet fortgeworfen werden. Oder die Freunde würfeln zwar nicht, lesen aber aus Neugier die Briefe. Sie können dem, was darin geschrieben steht, Glauben schenken oder auch nicht. Möglicherweise werden sie dem jungen Mann helfen. Sind sie aber neidisch auf dessen Intelligenz oder Mut, beschließen sie, ihn nicht zu befreien. Vielleicht fahren sie sogar zu der Stelle, an der er vergraben ist und erfreuen sich an dem Gefühl ungeheurer Macht, da ja die Entscheidung über Leben oder Tod des jungen Mannes in ihren Händen liegt.
Denkbar aber auch, dass sie die Uhrzeit verpassen, das Würfelspiel hinauszögern, irgendetwas dazwischen kommen lassen. Das Spiel findet noch statt, sogar der richtige Umschlag wird erwählt, aber sie kommen zu spät und der junge Mann ist inzwischen in seinem Grab erstickt. Sie könnten das Spiel auch zu früh beginnen und, im bestimmten Falle, an den Ort kommen und den Fremden gerade dabei antreffen, wie er den jungen Mann begräbt. Es mag zu einem Kampf kommen und womöglich sterben die Freunde durch die Hand des Fremden, der vorher schon ein Verbrecher war oder dadurch zu einem Verbrecher wird.


Der junge Mann jedenfalls liegt wartend in seinem Grab, und die Dinge, die passieren könnten, sind so vielfältig, dass er sie gar nicht alle zu denken vermag.

Heute erzähle ich die Geschichte einem Freund. Bis zu jener Stelle, an der auch mein Bekannter aufhörte und bemerke, ich wisse leider nicht, wie die Sache mit dem jungen Mann ausging. Mein Freund glaubt mir nicht, obwohl ich beteuere, die Geschichte sei wahr.

Ich stelle mir vor, mein Freund erzählt die Geschichte wiederum einer anderen Person. Auch diese behält sie nicht für sich, und irgendwann, so hoffe ich, wird jemand sie zu Ende erzählen, damit der junge Mann in seinem Grab endlich erfährt, was mit ihm passiert ist.

Ein kleines "h" hinzugefügt. Vielen Dank an Mucki!
Zuletzt geändert von Sam am 30.08.2009, 17:02, insgesamt 3-mal geändert.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 28.08.2009, 20:04

Hi Sam,

diese Geschichte ist gemein, weil
-
ich mich ärgere, da ich das Ende nicht erfahre, gerade, als es so spannend ist
-
du mich als Leser nun selbst dazu verführt hast, alle möglichen weiteren Varianten zu überlegen, was geschehen sein könnte, die was-wäre-wenn-Kette in Gang gesetzt hast
-
mir der junge Mann in seiner Holzkiste auch nicht mehr aus dem Kopf geht

diese Geschichte ist sehr raffiniert geschrieben, weil
-
du keinen besseren Titel hättest wählen können
-
du hier mit dem Thema Vorhersehung und Zufall, welches ja der Auslöser der Geschichte ist, quasi selbst herumspielst, also Vorhersehung betreibst, Spekulationen anstellst, etc. und somit das Ganze ad absurdum führst
-
man es in einem Rutsch lesen muss!
-
du mit den Zeiten hier sehr virtuos spielst und am Schluss quasi den Leser narrst, indem der Mann in seinem Grab plötzlich im Präsens erscheint und selbst darauf wartet, wie die Geschichte zu Ende geht. Du gibst damit dem Leser sozusagen den Schwarzen Peter in die Hand!

Fazit:
KLASSE! :daumen:

Saludos
Mucki
P.S.
Peanut:

Mein Freund glaubt mir nicht, obwohl ich beteuere, die Geschichte sei war.

hier muss es "wahr" heißen

Nachtrag:
Noch etwas, was ich sehr raffiniert finde, in Sachen Spiel mit den Zeiten:
Dadurch, dass du schreibst, gestern hätte ein Freund die Geschichte erzählt, dann der Präsenseinschub in der Mitte, dass der Mann im Grab wartet, dann: heute erzählst du die Geschichte ... entsteht ein Zeitdruck beim Leser. Man denkt. Mensch, schnell! Der Mann erstickt in seiner Kiste!

Trixie

Beitragvon Trixie » 28.08.2009, 22:01

Hallo Sam,

jap, geniale Story. Mucki hat eigentlich alles dazu gesagt, was ich auch hätte sagen können.

Aber weißt du was? Ich lese immer automatisch als Titel "Geschichte ohne Ende", ohne "die" vornedran. Dieses "die" hat für mich eine Art "Märchencharakter", was diese Geschichte unrealer erscheinen lässt. Ich warte quasi auf ein "es war einmal" am Anfang und somit verliert deine Geschichte durch den Titel ein klein wenig an ihrem präzise kontstruierten "ich-bin-im-Film-Charakter".
Trotzdem eine geniale Geschichte, die mir sehr gefallen hat. Fesselnd, perfektes timing, scharf pointert. Ein klassischer Sam ;-).

Liebe Grüße
die Trix

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 28.08.2009, 22:26

Lieber Sam,

deiner meisterhaft erzählten Geschichte haftet etwas von der absurden Steigerung des "turn of the screw" von Henry James an und gleichzeitg etwas von Kafkas Zweifel an seiner Glaubwürdigekit :
:
Heute erzähle ich die Geschichte einem Freund. Bis zu jener Stelle, an der auch mein Bekannter aufhörte und bemerke, ich wisse leider nicht, wie die Sache mit dem jungen Mann ausging. Mein Freund glaubt mir nicht, obwohl ich beteuere, die Geschichte sei war.


Auch der letzte Abschnitt geht in diese Richtung : nur eine kleine Schwäche mMn

so hoffe ich, wird jemand sie zu Ende erzählen, damit der junge Mann in seinem Grab endlich erfährt, was mit ihm passiert ist.


Nach all dem Erzählen und Zögern ist der junge Mann schon ein morscher Leichnam : und ich kann mir gut die Neugierde eines Toten vorstellen,der nun wieder zweifelt, auch an seinem Tod...


Faszinierend, diese absolute Spirale



Ein gutes Vorbild!!!
lG
Renée


:hut0039: :hut0039: :hut0039:

Sam

Beitragvon Sam » 29.08.2009, 08:57

Hallo Ihr Drei,

herzlichen Dank für eure Kommentare!


Mucki,

danke zunächst für den Hinweis auf das fehlende H. Ich werde es gleich ausbessern.

Es freut mich, zu sehen wie du den Text liest. Meine Erwartung war, dass man entweder so, aber auch genau gegenteilig aufnehmen kann. Im Sinne der Reaktion derer, die die Geschichte hören und siee als unglaubwürdig empfinden.

Es gibt noch eine weitere, theoretische Komponente, aber da gehe ich bei Renée nochmal näher drauf ein.

Trix,

die Assoziationen, die so ein Titel beim Leser freisetzt, sind ja immer recht unterschiedlich. Würde ich einen Titel sehen "Geschichte ohne Ende", würde ich etwas geschichtliches, historisches erwarten.
Da es mir aber hier nicht nur um diese spezielle Geschichte ging, sondern um das Geschichtenerzählen im Allgemeinen, fand ich den Titel mit dem bestimmten Artikel vorgesetzt passend. Denn das Erfinden und Erzählen von Geschichten ist ja selber eine Geschichte "ohne Ende".


Renée,

ich muss gestehen, Henry James noch nie gelesen zu haben. Kafka zwar schon, aber an den habe ich beim Schreiben nicht gedacht. Wenn dann schon eher an Borges, ohne da etwas nachahmen zu wollen. Eher in Verbindung mit dem Erzählen einer Geschichte, wobei weniger die Geschichte selbst, sondern das Erzählen an sich thematisiert wird. Im Endeffekt sind das natürlich mehr oder weniger hilflose Übungen im Schatten großartiger Literatur.

Du erwähnst die Wiederholung der Reaktion auf das Anhören der Geschichte des jungen Mannes. Das ist von mir so gewollt. Wie oben bei Mucki schon kurz erwähnt, ging es mir nicht nur darum, den Leser zum Weiterdenken der Geschichte zu bewegen (oder genau das Gegenteil), sondern auch um einen rein theoretischen Aspekt. Der Text ist auch eine Art Gedankenmodell zum Thema Erzählen. Im Grunde nur ein Rahmen, den man benutzen könnte, um zu überlegen, wie er nun mit Leben gefüllt werden kann.

In diese Richtung geht auch die Aussage, der junge Mann läge noch in der Kiste und warte darauf, was mit ihm passiert. Er existiert ja nicht, es sei denn, er wird erzählt. Und solange nur erzählt wird, dass er dort liegt, nicht aber, wie es mit ihm ausgeht, ist er eben noch genau dort - lebend und wartend.


Nochmals vielen Dank für eure Gedanken zu diesem Text!


Liebe Grüße


Sam

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 29.08.2009, 09:19

Guten Morgen, genau diesen theoretischen Aspekt habe ich gespürt (auch Borges), aber nur als Ahnung. Danke für die bestätigende Erklärung. Henry James wird in Frankreich als großer Meister der "Boston"-Literatur betrachtet. Es lohnt sich seine Frauengestalten zu entdecken. Alice James (seine Schwester & Feministin) hat ebenfalls geschrieben. Wie so oft, steht die weibliche Schreiberin im Schatten. Meiner Ansicht nach (trotz großer Sympathie zu Alice) leider zu Recht. Entschuldige diese Digression.
Hier auf dem Forum besteht ein hoher erzähl- (und poesie-) theoretischer Anspruch. Das interessiert mich sehr, hat aber gelegentlich etwas Befremdendes. Das bezieht sich nicht auf deinen Text. Es ist eine Gratwanderung, zwischen Theorie / Contrainte (= vorgeschriebene Regeln) und Fabuliersucht Texte zu entwickeln, die weder zur "Masche" werden, noch zur sentimentalischen Ab-Erzählerei.
lG
Renée

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Zefira
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Beitragvon Zefira » 29.08.2009, 09:45

Guten Morgen,

mir ist beim Lesen sofort Borges in den Sinn gekommen, besonders bei diesem Bogen hier

An dieser Stelle brach mein Bekannter seine Erzählung ab, mit der Bemerkung, er wisse leider nicht, was mit dem jungen Mann geschehen sei und wie die Sache endete. Aus diesem Grund nahm ich an, seine Geschichte wäre erfunden.


zu hier

Heute erzähle ich die Geschichte einem Freund. Bis zu jener Stelle, an der auch mein Bekannter aufhörte und bemerke, ich wisse leider nicht, wie die Sache mit dem jungen Mann ausging. MeHin Freund glaubt mir nicht, obwohl ich beteuere, die Geschichte sei wahr.


Wenn die Geschichte noch ein-, zweimal weitergetragen wird, liegt der junge Mann irgendwann wirklich da unten. Vom Weitererzählen dieser Geschichte möchte ich deshalb abraten :confused2: ...

Beeindruckten Gruß
Zefira
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(Ikkyu Sojun)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 29.08.2009, 14:06

Hi Sam,
... sondern auch um einen rein theoretischen Aspekt. Der Text ist auch eine Art Gedankenmodell zum Thema Erzählen. Im Grunde nur ein Rahmen, den man benutzen könnte, um zu überlegen, wie er nun mit Leben gefüllt werden kann.

In diese Richtung geht auch die Aussage, der junge Mann läge noch in der Kiste und warte darauf, was mit ihm passiert. Er existiert ja nicht, es sei denn, er wird erzählt. Und solange nur erzählt wird, dass er dort liegt, nicht aber, wie es mit ihm ausgeht, ist er eben noch genau dort - lebend und wartend.

Genau dieses Phänomen tritt hier auf, ja. Deshalb entsteht auch beim Lesen dieses Gefühl von Hetze. Der Mann lebt noch und droht in der Kiste zu ersticken. Die Art, wie du erzählst, ist wie eine Daguerreotype oder wie eine Folie. Es entsteht eine Kettenreaktion. Die Geschichte ist fast wie ein Kettenbrief, den man weitertragen muss. Und dann entsteht unweigerlich die Frage, inwieweit sich die Geschichte verändern wird, beim Weitertragen. Wie bei einer Kopie von einer Kopie, wird sie verblassen oder wird sie immer weiter ausgeschmückt/anders belichtet werden (Daguerreotype)? Auch in deiner Geschichte passiert ja etwas. Du schreibst weiter oben
Aus diesem Grund nahm ich an, seine Geschichte wäre erfunden.

und weiter unten
Mein Freund glaubt mir nicht, obwohl ich beteuere, die Geschichte sei wahr.

Da ist schon die Veränderung eingetreten. Und das, obwohl hier innerhalb der Geschichte nur einmal weitererzählt wird.
Und bei mir war der Drang groß, diese Geschichte sofort zu erzählen, indem ich sie meinem Mann vorgelesen habe.
Es ist wirklich faszinierend!

Saludos
Mucki

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 30.08.2009, 09:51

Lieber Sam,

das ist genial gemacht und gefällt mir auch richtig gut!

Im Grunde führt der Titel den Leser in die Irre, obwohl er genau sagt, was passiert - ich beziehe ihn nämlich auf etwas ganz anderes als die Geschichte selbst - nämlich auf ihren Übertragungs"gegenstand". Die Übertragung allerdings bist du sehr raffiniert angegangen.
Zunächst erscheint es doch so, als stellte uns dieser Text ein großartiges Experiment vor, ein Gedankenkonstrukt, das ganze Arrangement, das sich jemand (vielleicht) hat einfallen lässt und die Analysen des Protagonisten, ist höchst aufwändig/künstlich/requisitenlastig. Wir denken, wir stehen vor einem Rätsel, einem psychokriminalistischem Fall, wir können uns uns besonders unseren Geist amüsieren - denn wir sind ja alle weit genug weg - befinden wir uns doch hier noch nicht einmal in der Angst, in der man sich befindet, wenn man einen Kettenbrief nicht weiterschickt, in dem einem großes Unglück angedroht wird, wenn man ihn nicht verbreitet, sondern wir lesen hier in einem Text von einem Protagonisten, der etwas erzählt, was er von seinem Freund erzählt bekommen hat, der dies von einem Freund erzählt bekommen hat [...] - der Fiktionsgrad ist um ein so vieles potentiert, dass man getrost das Zittern vergessen kann und den Geist ein analytisches großes Fressen gönnt.

Aber gerade dieser absurde, bis ins Unendliche getriebene Fiktionsgrad brachte mich über all die süffisanten Gedankenspiele zu so etwas wie einem Gefühl: Irgendwas ist doch mehr mit diesem text los als dass er sich im Kreuzraten ergibt. Warum wollen wir das Ende auflösen, und sei es nur, indem wir dem Drang folgen, den Fiktionsgrad der Geschichte weiter zu steigern, indem wir sie auch weiter tradieren? (siehe Mucki). Und dann bekam ich eine Idee, wie geschickt, ja man muss bei aller mitgezählten Grausamkeit auch sagen, durchtrieben, hinterlistig, trotzig und gewitzt dieser Text ist, denn ich finde, im Grunde erzählt er doch nur von dem, was wir alle miteinander mit uns herumschleppen: Was geschieht, wenn wir A tun? Wie reagieren die anderen darauf? Was kann ich von den anderen wissen? Was wissen sie von mir? Was bringt dieses Wissen? Bringt Unglück über mich? Bringt es Glück? Bekommen wir so endlich heraus, wer unsere Liebsten sind? Ob es gar unsere Feinde sind? Erfahren wir, ob es doch einen Gott gibt? Können wir gar Gott sein? Usf...ohne Ende.
Und über diese Unsicherheit beginnen wir das ganze selbst in die Hand zu nehmen - denken uns Spiele aus, die wir vor uns selbst arrangieren, für den einen Menschen im Publikum, auf den es ankommt (und meist werden wir da wohl in einen Spiegel schauen), aber weil dies alles auf Unsicherheit aufbaut, mündet es alles nur in der Desktruktion (der eigenen Persönlichkeit). Das Spiel mit der Möglichkeit, wird zu einem Spiel mit dem Grab - oder noch einmal anders, aber nicht weniger dicke: Im Grunde liegen wir alle jeden Tag unseres Lebens in einem solch selbstgeschaufelten Grab und leben bedeutet das Spiel zu spielen: Was wäre wenn? Und weil wir das nicht ertragen können, dass wir nur spielen, weil wir es nicht aushalten, ungewiss zu sein, weil wir wissen, dass wir es nicht in der Hand haben, spielen wir uns zu Tode - dabei wäre die Entsscheidung hin zum leben vielleicht einfach nur, eine Spur mutiger, selbstvertrauender zu sein.

Für mich eine Geschichte eine Hypochonders, der sich selbst (und damit (dieses damit ist eigentlich falsch, da es eben sehr kreiskausal ist, denn eigentlich ist es ja nicht einer, sondern viele) alle anderen) selbst mit der gefürchteten Krankheit identifiziert, die es sonst so gar nicht geben könnte...

Im Grunde also, in Anbetracht der Anwendbarkeit auf die gesamte Menschheit, keine Geschichte, die einen alleine lässt, weil es kein Ende gibt, sondern eine, die einen nicht erlöst, weil man den Anfang (wie alles begann) nicht finden können wird. Denn gäbe es diesen einen, der sich das wirklich ausgedacht hätte, dem man das uns alle widerfahrende zuschrieben könnte, als sein Schicksal, so wären wir doch von einer ach so großen (ach weil selbst auferlegten) Last erlöst.

Aber wie gut, dass wir diesen Ekel nicht spüren müssen, denn dieser text ist ja nur ein Text, der von einem Protagonisten erzählt, der von jemanden [...]

Nach all dem werfe ich übrigens einen weiteren Autoren in den Raum, an den ich gedacht habe - nämlich an Heinrich von Kleist (meinen Cherub .-) ) - ich sehe hier einen text, der vom Charakter eine Mischung aus Kleists ästhetischen Schriften a la Marionettentheater und Co und seinen Novellen (etwa Der Findling) ist - dieses unterschwellig düstere, was zunächst hochgeistige Arbeit bedeutet, das mehrdeutige, die Doppelfiguren, der Abstraktionsgrad - all das lässt mich dies so an Kleist denken. Und das finde ich sehr angenehm in seiner Unangenehmheit, von denen weder das Angenehme noch das Unangenehme als ein Ende , ein Empfindungsresümee greifbar wird, sondern der Text lässt den abstrakten Abgrund bestehen.

Und falls du es noch nicht mitbekommen hast, mir hat dieser text sehr gefallen! Wow!

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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ferdi
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Beitragvon ferdi » 30.08.2009, 11:29

Hallo Sam!

Kein Zweifel, ein starker Text :-) Ich lass es mal bei dieser Aussage, da ich die ganze Nacht nicht geschlafen habe und der längere Kommentar, der eben hier stand, bei nochmaligem Lesen ziemlich wirr wirkte - es ging im wesentlichen um "erfunden und damit nicht wahr" vs "erfunden aber doch wahr" ;-) Ein Verlangen, die Geschichte fortzuführen, hatte / habe ich jedenfalls nicht ;-) Bei...

Sie können dem, was darin geschrieben steht Glauben schenken oder auch nicht.

solltest du ein Komma ergänzen?!


Beeindruckte Grüße (wie Zefi so schön schreibt :-)),

Ferdi.
Schäumend enthüpfte die Woge den schöngeglätteten Tannen. (Homer/Voß)

Sam

Beitragvon Sam » 30.08.2009, 17:00

Hallo Renée,

Entschuldige diese Digression.


Da gibt es keinen Grund dich zu entschuldigen. Henry James und auch seine Schwester sind bestimmt einer näheren Betrachtung wert, und ich hoffe diesbezüglich meine Wissenslücke irgendwann schließen zu können (wenn da nicht so unendlich viele wären, die es zu schließen gelte. Und das nur bei dem Thema, das mich am allermeisten interessiert - der Literatur).


Hier auf dem Forum besteht ein hoher erzähl- (und poesie-) theoretischer Anspruch. Das interessiert mich sehr, hat aber gelegentlich etwas Befremdendes.


Ich glaube nicht, dass es hier im Forum eine Art Konsens gibt, was den Anspruch angeht. Der ist doch immer noch individuell und sehr unterschiedlich. Tatsache ist aber auch, dass es einige Mitglieder hier im Forum gibt, die ein sehr großes theoretisches Hintergrundwissen haben (und ich beneide sie dafür), was natürlich die Rezeption der Texte unweigerlich beeinflusst.
Meiner Meinung nach begibt sich jeder, der einen Text in einem Forum veröffentlicht (es sei den explizit in einer Schreibwerkstatt) in einen öffentlichen kulturellen Raum (jeder hier im öffentlichen Bereich eingestellter Text kann ergoogelt werden), der sich in die Vergangenheit endlos auffächert und von unbestrittenen, wie auch sehr umstrittenen Gesetzmäßigkeiten bestimmt ist. Ein Text fällt also nicht ins Leere, sondern trifft auf Leser mit sehr unterschiedlichen literarischen Erfahrungen, Wissen, Vorlieben und Erwartungen. Dementsprechend fällt dann die Rezeption der Texte anderer aus, wie es auch die Anforderung an sich sich selbet als Autor beeinflusst.


Hallo Zefira,

das freut mich, wenn es dich ein wenig an Borges erinnert hat. Die Lektüre seiner Geschichten und Essays kann man ja nur empfehlen. Bei keinem anderern Schriftsteller erzeugt das Lesen ein Gefühl, bei Literatur handele es sich um ein Universum, das genauso so endlos und unerfolschlich ist, wie das reale.

Vom Weitererzählen dieser Geschichte möchte ich deshalb abraten


Nun denn, man müsste die Geschichte einfach fertig erzählen. Wenn mans möchte, mit Happy End. :drück:


Hallo Mucki,

interessant, was du über das Weitertragen der Geschichte erwähnst. Im Text selber ändert sich die Geschichte ja nicht. Die Veränderung tritt beim Erzähler auf. Anfangs ungläubig, so ist er beim Weitererzählen plötzlich davon überzeugt, die Geschichte sei war. Würde man sie zu Ende erzählen und dann weitergeben - ja dann kann man davon ausgehen, dass sie sich im Laufe der Zeit verändert. So aber ist sie nicht fertig und der schwarze Peter, wie du so schön sagst, liegt beim Zuhörer. Dem, wie du erwähnst, ein Gefühl der Hetze überkommt, als wäre er dafür verantwortlich, wie die ganze Sache nun ausgeht. Ein Weitererzählen der unvollendeten Geschichte ist soetwas, wie ein Abschieben dieser Verantwortung.


Hallo Lisa,

das "Wow" gebe ich dir erst einmal zurück, für deinen sehr tiefschürfenden und hintersinnigen Kommentar. Die überträgst den Text in seiner Gestaltung auf eine transzendente Ebene, die, wenn auch nicht in allem so von mir intendiert, stimmig ist und ich sitze da und lese, was du geschrieben hast und lerne durch dich von mir selbst. Hier trifft wohl der Spruch zu, dass ein Text oftmals wesentlich intelligenter ist, als sein Autor. Denn was du schreibst ist für mich sehr nachvollziehbar und in gewisser Weise, in vielen Variationen auch immer wieder Gegenstand meiner Überlegungen. Nicht immer gelingt es einem, dafür die passende Ausdrucksform zu finden. Scheinbar gelingt es aber intuitiv, insofern, als dass einem eine Idee grundsätzlich sympathisch ersceint und eine gewisse Substanz in sich zu tragen scheint. Gewisse Überlegungen werden zielgerichtet umgesetzt, anderes fließt mit ein, ohne das Ergebnis konkreter Überlegungen zu sein.
In diesem Fall deine Übertragung auf die Frage: Was können wir eigentlich wissen? Was können wir beeinflussen? Welche Weg ist der richtige etc. Und auch: wie sehen uns die anderen? Und weil keine Antwort da ist, versucht man sie zu erzwingen - durch jenes von dir erwähnte Spiel, das ja nur ein Konstrukt ist, in dem man eine Möglichkeit als Tatsache vorgibt und betrachtet, wie sich das Leben und die Umwelt daran bricht. Standortbestimmung nicht aus sich selbst heraus, sondern durch die Reaktion der Aussenwelt. Weil wir selbst dazu nicht in der Lage sind. weil wir es auch nicht in der Hand haben. Weil wir eben nicht Gott sind. An diesem Punkt kann man den Kreis zur der Gescichte wieder insofern schließen, als dass sich der junge Mann so völlig in die Hand der Vorsehung bzw. des Zufalls begibt, als seien dies Götter, die über sein Schicksal walten. Das geht weit über den baren Erkenntnisgewinn hinaus (denn welche Erkenntnis hat man gewonnen, wenn sie nur im eigenen Ende besteht. Es wäre nur die Erkenntis des Ausgangs, aber nicht des Weges dorthin, und damit überhaupt keine Erkenntnis.

Kleist - noch so eine Wissenslücke, auch wenn ich mich mit ihm schon ein wenig beschäftigt habe. Aber lange noch nicht genug. Nun denn - motiviert bin jetzt dazu!

Dank dir nochmals herzlich für deine sehr interessanten und aufschlussreichen Bemerkungen.(Die ich aber womöglich wieder ganz anders verstanden habe, als du sie gemeint hast).


Hallo Ferdi,

freut mich, dass du trotz nichtgeschlafener Nacht dich zum Text meldest. Natürlich hätte ich auch den wirren Kommentar gerne gelesen, aber vielleicht magst du deine Überlegungen zu "erfunden und damit nicht wahr" bzw. "erfunden und doch wahr" noch mal irgendwann aufschreiben.

Das Komma werde ich noch einfügen.


Euch allen ganz lieben Dank für eure Überlegungen zu diesem Text und die positive Resonanz.


Liebe Grüße


Sam

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 30.08.2009, 18:54

Lieber Sam,

dass meine Lesart nicht die von dir rein intendierte war, habe ich mir gedacht - es ist nicht mal von mir die einzige und ich glaube sogar, dass der text in Bezug auf meine Thesen gar nicht funktionieren würde, würde er sich nicht auch anders lesen lassen. Ich denke oft, dass meine Lesart von texten nicht die ist, die dem Autor (primär) vorschwebte, aber ich schreibe das nicht immer dazu.

Den Kleistverweis habe ich allerdings, war er auch in den Details, die ich dann anführte, ernst gemeint, eher mit einem zwinkern eingestellt, um sozusagen die Autorenverweise zu einem runnig Gag zu machen - und über mich habe ich mich damit auch noch lsutig gemacht, führe ich den werten Herrn K. doch gern und des Öfteren an.... ;~)

liebe grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Renée Lomris

Beitragvon Renée Lomris » 31.08.2009, 06:03

Hallo Sam,

Gestern nachmittag hatte ich deinen Text noch einmal (laut vor)gelesen. Deine "Spirale" löst bei mir - sehr subjektiv, im Gegensatz zu anderen Lesern einen raschen, heftigen Unglauben aus. Es folgt dann übergangslos ein Glaube an die Holzkiste, an den Tod eher als an den Scheintod, an den fatalen Ausgang eher als an eitle Hoffnung. Erst von da aus gelange ich zurück zum gewagten Spiel, zum Einsatz, zu der Entscheidung, "es drauf ankommen zu lassen". Als brauchte ich das Ende, das keines ist, um zum Anfang zurückkehren zu können, um dann ... erst ... den Vorgang der "Endlosigkeit" wahrzunehmen.

Die Kommentare zu deinem Text waren besonders lesenswert. Ich war sehr beeindruckt von dieser Stelle bei Lisa :

Im Grunde also, in Anbetracht der Anwendbarkeit auf die gesamte Menschheit, keine Geschichte, die einen alleine lässt, weil es kein Ende gibt, sondern eine, die einen nicht erlöst, weil man den Anfang (wie alles begann) nicht finden können wird. Denn gäbe es diesen einen, der sich das wirklich ausgedacht hätte, dem man das uns alle widerfahrende zuschrieben könnte, als sein Schicksal, so wären wir doch von einer ach so großen (ach weil selbst auferlegten) Last erlöst.


Lesen & Schreiben bedingen sich gegenseitig in einem notwendigen, ungewissen, ungleichen Kräfteverhältnis.

Herzliche Grüße
Renée

Max

Beitragvon Max » 31.08.2009, 21:31

Lieber Sam,

ich mag diese geschichte, weil sie nicht nur eine gute Idee hat, was zu erzählen wäre, sondern weil sie eine gute Idee hat, wei man erzähöen könnte und das ist mehr.
Jedenfalls bin ich der Geschichte mit viel Spannung gefolgt und habe sie - was für mich im Internet eine Großtat ist bei einer Geschichte dieser Länge - in einem Zug durchgelese.

Chapeau!
Max


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