seumenicht teil 2

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Georg Grieg

Beitragvon Georg Grieg » 04.07.2009, 10:41

seumenicht
der postmodernen priapismen zweiter teil

seumenicht konnte nicht schlafen im nachtzug nach berlin. seine koffer waren unterpackt, er dachte an das nötigste. seine zahnbürste hatte er stets in der linken saccoinnentasche gesteckt. seine geige aus ebenbuchholz hatte er stets neben sich placiert. sie fuhr mit, als blinde zeugin der süßen noten. reisen ins nichts bedeuteten ihm viel, und wenn es ihn mal packte, dann nahm er seine geige und spielte drauflos. klassisch, selbstverständlich. paganini, nein, zu schrill und virtuos. es waren die sanften, abendrötenen spuren mozarts, auch beethovens, die er, als striche er sanft über den himmel, aus den saiten zauberte. und hätte er die möglichkeit eines transpositionssystems, er hätte liszts „la campagnella“ übertragen.
sein abteil war leer. die blonde, unbekannte frau mit den hohen schuhen war in göttingen ausgestiegen. er hätte sie gerne angesprochen, doch seumenicht war nicht der luftikuss, der er gerne sein wollte. es plagte ihn der mangel an gesprächsthemen, und vor allem fand er es irrational, nur aufgrund einer äußeren schönheit in die klauen seiner selbst und seiner destillierten phantasien zu kommen. er fühlte sich dabei wie jener skorpion, den er während seiner bundeswehrzeit beim umgraben eines gartenbeetes entdeckte. in panik berichtete er seinen fund seinem heeresleiter. dieser lachte über seine milchgesichtigkeit, fing den skorpion in einem glas und setzte ihn auf eine mauer. „alkohol her“. seine kameraden und er wurden blick und neugier, als der major einen kreis um den noch im glas gefangenen skorpion mit wodka zog. danach setzte er ihn in brand, ließ den skorpion los.im feuerreigen gefangen versuchte er, einen weg zu finden. am ende stach er sich mit seinem eigenen stachel ins genick und starb wenige sekunden später. das feuer züngelte höhnisch nieder-

seumenicht wollte ins höhlengrau, und dort wie hier, in seinen gottverlassenen grotten, in denen kein nachhall, kein gesprüh für sinn und übersinn herrschte, wies er sich nach berlin. eine bekannte stadt im meer der unbekannten. die geschichte zollt ihr tribut, die stadt hat es verdient. ihr make-up aus graffitti und ihre grauen, schweren lider, ihr verbrauchter körper, den schon viele vergewaltigten-sie war es wert. fremder unter fremden, ein patentrezept, um ungestört neue melodien zu schreiben. seumenicht wollte wieder schreiben.
er mochte die nutten am hackeschen markt. es war teuer, aber einfach. und er nahm sich vor, heute noch dorthinzugehen. die nacht löste ihr geheimnis auf und gebar mild einen neuen tag.
es war acht uhr dreißig, als er am hauptbahnhof ankam. es drückten sich stress und unsichtbare, letale faktoren durch den verglasten bahnhof. er holte sich einen kaffee bei einem dieser back-fabriken, die frische industriebrötchen verkauften. „einen kaffee zum gehen, bitte“ die bäckerin, solariumgebräunt, piercingdurchstochen durch alle möglichen und unmöglichen gesichtspartien, die lider türkis, die lippen rosa, künstlich verlängerte fingernägel, von denen ebenfalls die beiden an den zeigefingern gepirct waren, schaute ihn argwöhnisch an. „einen coffee to go, meinen sie wohl“. „ja richtig, einen kaffee zum gehen, bitte ohne shot milch und sugar-frei-„ seumenicht mochte es schwarz, stark sollte er sein, so stark, dass sich die magenwände meldeten. seumenicht hatte magenprobleme, die welt war schwer zu verdauen. der weltgeist war ein steigender meerespiegel, und er drohte zu ersaufen.
„das macht eins fünfzig“ „früher waren das drei mark“, meinte seumenicht. drei mark, eins fünfzig. Welch seltsame zuweisung von werten. er legte das geld passend auf die coca-cola-auszahlungsmulde, ging weiter und betrachte sich die menschen. gehetzt, manche mit kindern, die sie mit sich zogen („in ihre flucht vor sich selbst“).
er trank ungenüsslich seinen kaffee, er schmeckte zu bitter und gleichzeitig wie pures wasser.
die rolltreppe hinab sah er eine werbung, die ihn beeindruckte. „wir kaufen ihr zahngold“ seumenicht musste an seinen großvater denken, der sehr viel von diesem zahngold hatte. nur lag dieses nun drei meter unter der erde- im jenseits ist kein soll und haben.

„ na, kleiner, wo geht’s denn hin?“ seumenicht hatte nach allen regeln der kunst den tag verstreichen lassen. sein hostel war in ordnung, auf dem kissen lag ein after eight. und schlussendlich macht er sich nach acht los, nachdem er noch mal ordenlich geschlafen hatte. seumenicht war ein nachtmensch- durch den vorhang in die stadt- extrovertiert, nichts für ihn. das einzige, was er an nachtfahrten mochte war, dass wenige leute mitfuhren und er seine ruhe hatte. seumenicht wollte denken- und frei sein. am hackeschen markt lief er einer blonden nutte ins netz. „na, ich weiß nicht.“ „ich wüsste, was dir spaß macht“ er betrachtete sie kurz, flüsterte ihr etwas hageres ins ohr „ auf dich hab ich gewartet, amygdala.“ seumenicht verlor sich in den büschen, und die nutte hatte fünfzig euro verdient. amygdala hatte ihre sache gut gemacht, sie kannte das spiel. nun gehörte er, wie eben alle, zur grauzone. keine unterhaltung, weg war sie. handjob im gebüsch, eine körperliche nebensache für sie. er, untermauert mit fehlleitungen, ging ihr hinterher. „entschuldigung, aber ich hab noch eine frage, amygdala.“ „verpiss dich. oder du legst noch einen drauf, dann geht noch was“ „ich möchte nichts. ist das zuviel? nur ein glas wein mit dir trinken, etwas gespräch.“ „oh gott, nicht diese nummer, freier sucht unterhaltung“ seumenicht spürte ihre fingernägel auf seiner seelenhaut. sie kratzte langsam und tief, er ließ es gerne bluten. er blieb stehen, schaute ihr nach und sah sie im dunkel verschwinden. nebulöses selbst, angereiht an zufall und versäumnis. er war grau, höhlengrau, unterborderndes bedürfnis nach den tagen vor dem nabel.

als seumenicht morgens ins bett fiel, nachdem er die stadt wie ein herrenloser hund abgelaufen hatte, dachte er nach. sie war floskelfrei- doch warum nahm sie den namen gottes in den mund? morgen wollte er die stadt erobern, erneut, auf dem feldzug- und sie soll die taschenlampe sein in sein höhlengrau. letzte limbische reste, der tag biss...
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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 04.07.2009, 11:48

Hallo Georg,

ich würde vorschlagen: ver-seume-nicht das Regelwerk (nochmal) zu lesen. ;-)

Dieses Forum lebt davon, dass die Autoren auf Kritik/Kommentare, die sie zu ihren Texten erhalten, reagieren und sich auch selbst mit Kommentaren zu Texten anderer Autoren einbringen.

liebe Grüße
Flora

Mucki
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Beitragvon Mucki » 04.07.2009, 13:23

Schade, ich war schon ganz neugierig auf einen Kommentar von Flora auf "seumenicht", doch dann sah ich, dass dies ja bereits der 2. Teil ist (der mir übrigens sehr gut gefällt).

Georg, könntest du in den Titel bitte "Teil 2" reinschreiben? Es ist sonst verwirrend, da wir jetzt zwei Texte mit gleichem Titel ("seumenicht") in Kurzprosa haben. Und ja, da schließe ich mich Flora unbedingt an. Geh doch bitte erstens auf die Kommentare zu deinen Texten ein. Man hat als Kommentator sonst das Gefühl, ins Leere zu schreiben. Und zweitens bring dich bitte auch zu anderen Texten ein. Ich erlebe dich hier im Forum wie jemanden, der auf der Durchreise ist, der ab und zu einen Text hier einstellt und dann wieder fortzieht. Das erzeugt ein doofes Gefühl bei mir und nimmt mir auch die Lust/den Spaß, deine Texte zu kommentieren.
Diesen z.B. hätte ich wohl ausführlich kommentiert. Damit kann ich - im Gegensatz zu Teil 1 von seumenicht - viel anfangen, doch wozu antworten, wenn du nicht darauf reagierst, es sozusagen verpufft? Ne, da schreibe ich lieber zu anderen Texten von Autoren, bei denen ich weiß, dass sie sich damit auseinandersetzen. Nur so macht das Freude.

Also, es liegt an dir, Georg. Noch bist du neu hier. Ich fände es gut und wichtig, wenn du dir unsere Hinweise hier zu Herzen nehmen würdest.

Saludos
Gabriella

Georg Grieg

Beitragvon Georg Grieg » 04.07.2009, 13:40

hallo ihr. nun gut, dann will ich mal versuchen, auf eure konstruktive kritik einzugehen. wahrscheinlich habt ihr recht. ich müßte und will mich hier auch mehr einbringen. und, ja, ich nehme es mir auch zu herzen, was ihr mir schreibt. ich schätze eure aufmerksamkeit für meine texte und danke dir, gabriella, dass du dich immer so nett über meine lieder äußerst. das macht, trotz aller widrigen umstände, dass das schaffen von liedern und texten eigentlich ein monolgischer vorgang ist, mut und kraft.
seumenicht wird ein vielteiler sein, und der versuch, die postmoderne an ihrem schopf aus dem moor zu ziehen. es wird eine introspektive reise in das nichts, das ich schon lange vorbereite. wir werden sehen, was daraus wird. nichtsdestotrotz kann ich mich an keinen kommentar von flori erinnern. aber vielleicht täusche ich mich auch.
sagen bzw. schreiben möchte ich noch, dass ich mir die texte hier fast alle durchlese. und ich werde versuchen, mich in kritischem sinne in zukunft zu äußern.
habt dank. euer georg.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 04.07.2009, 14:00

Hallo Georg,

na, das hört sich doch gut an. *freu*
Wegen Kommentar von Flora. Nein, da hast du mich missverstanden. Ich dachte, als ich Flora hier unter "seumenicht" las, dass es ein Kommentar von ihr sein würde (in der Annahme, dass es sich hier nach wie vor um den 1. Teil handelt). Fein, dass du jetzt "Teil 2" in den Titel gesetzt hast.
Du hast eine so schöne, warme Stimme Georg, deine Lieder sind voller Melancholie und sie zeugen für mich von großer Sensibilität. Und das heißt für mich auch, dass du mit Sicherheit auch diese Sensibilität in Kommentaren zu anderen Texten einfließen lassen, dich in die Inhalte der Texte einfühlen kannst. Du musst ja keine Dissertationen schreiben. Es reicht ja, wenn du deinen Eindruck, den ein Text bei dir erzeugt, an den Autor weitergibst.
Und wenn du sogar fast alle Texte hier durchliest, dann los! ;-)

Saludos
Gabriella

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noel
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Beitragvon noel » 04.07.2009, 18:58

seumenicht wollte ins höhlengrau, und dort wie hier, in seinen gottverlassenen grotten, in denen kein nachhall, kein gesprüh für sinn und übersinn herrschte, wies er sich nach berlin.



das unterstrichene klebt irgendwie nachkommatisch & ich weiß nicht genau, warum er sich wies, was das nun heißen soll?

ansonsten eine absurd fein
_sinniger & dennoch realistischer fabulierter text
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Wir sind alle Meister/innen der Selektion und der konstruktiven Hoffnung, die man allgemein die WAHRHEIT nennt ©noel


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