"Ich bin Alice!", sagte Alice. "Und du nicht. Es sei denn du heißt auch Alice, aber dann bist du noch lange nicht Alice. Nur ich bin Alice. Also jedenfalls Ich-Alice. Du bist natürlich dann Du-Alice, aber das ist etwas anderes!"
Ihre Mutter sah stolz zu ihr herab. "Und er ist erst sieben!"
"Und hat schon eine ausgewachsene Identitätsneurose wie ein großer. Erstaunlich frühreif, ihr Sohn, in der Tat." Der alte Psychiater beugte sich mit väterlich-mildem Lächeln zu dem Jungen herab. "Na, was machen wir denn mit dir? Sedativa? Elektroschocks?"
"Also ich bitte Sie!" Der Vater sah den Psychiater mit entrüsteter Miene an. "Er ist doch noch ein Kind!"
"Ja. In diesem Stadium sind Elektroschocks am wirkungsvollsten." Selig lächelnd blinzelte Dr. Lampe einem Punkt schräg links über Herrn Mouses Schulter zu. "Die Therapie wird ihrem kleinen Michael gut tun. Er wird nicht mehr lange glauben, er sei Alice im Wunderland."
"Ich weiß, dass du eigentlich auch eine Alice bist. Du gibst es nur nicht zu.", plapperte das Kind fröhlich dazwischen.
Dr. Lampe lächelte erneut, doch anders als beim ersten Mal. Etwas stimmt nicht mit diesem Lächeln, dachte Frau Mouse instinktiv, so instinktiv, dass das Bewußtsein den Gedanken beiseite wischte, ehe sie ihn recht bemerkte. Auch ohne dies gab der Nervenarzt eine etwas eigenartige Figur ab; er war sehr klein, kaum einen Kopf größer als Michael, trug eine altmodische Taschenuhr an einer Kette, die rückwärts zu laufen schien und auf dem Kopf einen hohen Zylinder aus hellbraunem Leder. Sein Lächeln entglitt ihm, schwebte einen Augenblick lang erstarrt im grimassiv-maskenhaften, ehe er die Kontrolle über seine Züge zurück erlangte und seinem ausladenden Kittel eine tönerne Kanne entnahm, aus der wohlriechender Dampf aufstieg. "Möchte sonst noch jemand einen Tee?" fragte er fröhlich.
Herr Mouse schien nichts von alledem bemerkt zu haben. Er nahm den angebotenen Tee dankend an und schenkte auch seiner Frau etwas davon ein.
"Trinken Sie, trinken Sie nur!" Die Stimme des Psychiaters klang unangenehm hoch und verdünnte sich zunehmend, je länger der Satz war den er sprach. "Als würde man einem zu starken Wein Wasser beimischen.", dachte Frau Mouse ehe sie es verhindern konnte.
Zögerlich setzte sie die Tasse an die Lippen. Bevor sie jedoch einen Schluck von dem dampfenden Inhalt trinken konnte, klopfte es an die Tür.
"Ja Beatrice, kommen Sie nur herein - meine Assistentin hier in der Praxis.", erklärte Dr. Lampe entschuldigend, als ein junges Mädchen den Raum betrat.
Sie grüßte mit einer Synthese aus Flüchtigkeit und Höflichkeit, die Herr Mouse, der gerade die letzten Reste aus seiner Tasse schlürfte, bis dahin noch nicht erlebt hatte, in die Runde, dann wandte sie sich an den Doktor. "Wieviel?"
"Ei..." setzte der Angesprochene an, unterbrach sich jedoch mit Blick auf Frau Mouse, die gerade vorsichtig am Rand ihrer Tasse nippte. "Zwei."
"Ich verstehe." Beatrice trat mit einem raschen Schritt hinter Frau Mouse, gerade rechtzeitig, um mit einer unerwartet behenden Bewegung erst die Tasse aufzufangen, die der Hand entglitt, und gleich darauf Frau Mouse, die mit geschlossenen Augen schlaff in ihre Armen fiel.
"Mein Gott! Meine Frau! Sie ist in Ohnmacht gefallen!" rief Herr Mouse aus und wollte zu ihr eilen, doch der Doktor verstellte ihm den Weg und hielt ihn zurück. "Seien Sie ganz beruhigt." Die Stimme, in der er dies vorbrachte, war von so erhabener Autorität, dass Herr Mouse innehielt. "Dann geht es ihr also gut?" fragte er verunsichert. Der Doktor sah ihm mit einem Ausdruck bübischer Verschlagenheit in die Augen. "Nein." Antwortete er dann. "Aber das stört Sie auch nicht weiter." Mit diesen Worten nahm er ihm die Tasse ab und hatte gerade noch Zeit, Herrn Mouses massigen Körper aufzufangen, der plötzlich bar aller Anspannung dem Boden zustrebte.
"Alice, geh doch mit Beatrice nach nebenan, dort könnt ihr ein wenig spielen.", säuselte der Doktor dem am Boden sitzenden Kind mit, wie er meinte, vertrauenerweckender Stimme zu. "Beatrice, setze bitte Frau Mouse auf diesen Stuhl und nimm das Mädchen mit ins Labor."
Beatrice gehorchte.
"Dann wollen wir doch mal sehen..." Der Doktor wandte sich einer Schublade zu und zog aus ihr zwei dünne Spritzen hervor. "Hätte mich die Ärzteschaft nicht bereits vor den beiden gewarnt, hätte ich wohl tatsächlich versucht ihnen zu erklären, dass sie eine Tochter und keinen Sohn haben. Seltsame Leute.", murmelte er während er die Spritzen mit einer klaren Flüssigkeit aufzog und den beiden Erwachsenen je eine davon verabreichte.
"Ich habe dem Ju... dem Kind einige der Spielfiguren für jüngere Patienten gegeben." Dr. Lampe drehte sich bei diesen Worten um und sah Beatrice scheu durch den Türspalt blicken.
"Gut, sehr gut. Um das Mädchen werden wir uns gleich noch kümmern. Zuerst aber müssen wir die Eltern behandeln. Sei doch so nett und ruf schon mal einen Krankentransporter."
Schnell entfernte sich Beatrice von dem Sprechzimmer in dem nun die schlaffen Körper der Eltern des armen Jungen lagen. "Des Mädchens. Der Doktor sagt, es sei ein Mädchen.", berichtigte sie sich in Gedanken. Als sie am Labor vorbeikam flüsterte sie leise "Michael?". Das Kind hob den Kopf: "Mama?". Die knabenhafte Stimme war unverkennbar. "Ach, du bist es nur. Wo sind denn Mama und Papa? Und wann fahren wir wieder nach Hause?"
"Mama und Papa besprechen noch etwas mit dem lieben Doktor, aber ich bin sicher, sie sind bald fertig." Beatrice schluckte. Das Kind sah sie mit großen Augen an.
"Du bist keine Alice. Selbst wenn du so heißen würdest, wärst du keine Alice, weil ich doch schon Alice bin. Sonst wäre ich du und du wärst ich. Aber ich bin nicht du, ich bin Alice!", sagte Alice. Erschrocken eilte die Assistentin aus dem Raum.
Dr. Lampe verabreichte den Ohnmächtigen je eine der Spritzen, dann wandte er sich der von der anderen Seite verspiegelten Glasscheibe zu, die ihn von dem weißgetünchten Laborraum trennte, darin das Kind auf dem Boden saß, die Figuren vor sich ausgebreitet und sich allmählich in eine Art Trance zu reden schien. Er war fasziniert. Das Glas war schalldicht, doch die Mikrophone übertrugen die Worte des Mädchens so deutlich, dass es war, als stünde sie neben ihm.
"Ich alleine bin Alice. Niemand sonst kann Alice sein. Es gibt nur eine Alice, mich. Die anderen heißen nur so. Wie heißt du?" fragte es plötzlich, jäh aus seiner Versenkung auffahrend, die Puppe mit dem geblümten Kleid und den langen, blonden Locken, die es mit der Linken fest ergriffen hatte. "Christina? Hallo Christina." Ihre großen blauen Augen verströmten eine Aura kindlicher, unschuldiger Freude über die neue Bekanntschaft. Dann fiel ihr Blick auf den Spiegel. Sie zögerte. Ihr Griff wurde fester. "Ich glaube dir nicht, Christina. Du sagst mir vielleicht nur, dass du Christina bist. Vielleicht nennen dich andere auch so. Vielleicht glauben dir die anderen.". Sie schien zu überlegen.
Langsam strich sie der Puppe mit der freien Hand durchs Haar, dann faßte sie ihren Kopf und hielt das Gesicht der Puppe dicht vor ihr eigenes. "Vielleicht glaubst du dir das sogar selbst? Viele glauben sich ja so was selbst, wenn sie es sich ganz oft sagen." Die Anspannung ihrer Hände hatte sich unmerklich erhöht. An den kleinen Händen traten die Knöchel weiß hervor. Die Puppe verformte sich unter dem Druck. "Aber ich kenne dich besser, weißt du. Du willst eine Alice sein. Du kannst aber keine Alice sein. Es gibt nämlich nur eine Alice." Unter dem dünnen T-Shirt war die Anstrengung ihrer Arme deutlich erkennbar. "Und die bin ich." Sie bog den Kopf der Puppe weiter nach hinten, als man es bei einem Menschen hätte wagen dürfen. "Ich." Unheimlich war, wie ruhig, fast nüchtern-sachlich ihr Ton blieb, während sie den Hals der Puppe unaufhaltsam dem Ende seiner Belastbarkeit entgegendrückte. "Die echte Alice. Ich alleine." Der Kopf riß ab. Das Mädchen stutzte. "Was?" Sie schien verwirrt. Erstaunt blickte sie auf den abgetrennten Puppenkopf in ihrer Hand. "Du bist keine Alice. Du bist ja nur Plastik. Du bist gar nichts." Achtlos ließ sie die Stücke zu Boden fallen und sah sich um. Wie Dr. Lampe erwartet hatte, richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Spiegel. Auch wenn er es sich ungern eingestand, so schätzte er das Spiel, das er nun begann; es hatte seinen Reiz, sich so den Blicken der Versuchsperson unmittelbar auszusetzen bei der gleichzeitigen Gewißheit, dass diese von seiner Anwesenheit keine Notiz nahm, ja in den meisten Fällen nicht einmal etwas davon ahnte. Man mußte sich nur auf den richtigen Punkt stellen, um den Eindruck zu bekommen, die fremden Augen, die in Wahrheit nur sich selbst kannten, richteten sich direkt auf einen. Diesmal hatte er damit keine Mühe. Das Kind blickte so exakt auf ihn, dass keine Änderung seines Standortes die mindeste Verbesserung hätte herbeiführen können. Tatsächlich schien es ihm, als er es doch versuchte, mit kleinen Bewegungen des Kopfes dabei unmerklich zu folgen. Was natürlich Unsinn war. Dr. Lampe grinste über das wohlige Unbehagen, dessentwegen er dieses Spiel immer wieder gerne spielte. Es hatte etwas von dem Punkt einer Achterbahnfahrt kurz bevor es steil in die Tiefe ging.
"Doktor Lampe?" Er wandte sich um. "Ja?" "Der Krankenwagen steht bereit. Ich wollte nur Bescheid geben, dass die beiden jetzt abgeholt wer..."
Krrksss
Ihr Mund blieb offen stehen. Dr. Lampe folgte ihrem Blick unwillkürlich - und erstarrte. Das Mädchen sah ihn mit großen Augen an. In der gut 6 cm dicken Scheibe, die konzipiert war, um Schlägen, Tritten und selbst Schüssen stand zu halten, zeigte sich ein dünner Riss.
Der Doktor bewies genug Geistesgegenwart den Vater aus dem Raum zu ziehen, bevor er ihn selbst zufrieden lächelnd verließ. Beatrice nahm sich nach kurzem Zögern der Mutter an. "Die Scheibe wird er wohl verstärken müssen.", murrte sie im Hinausgehen.
"Mama?", fragte das Kind traurig, als es sah wie seine Eltern fortgetragen wurden.
Die Sanitäter, ausgerüstet mit starken Betäubungsspritzen, die das Labor einige Stunden später vorsichtig betraten, fanden nur ein kleines Kind schlafend auf dem Boden liegen. In der Hand hielt es einen Teddybären, auf dessen flauschiger Brust ein großes goldenes Herz mit einem verschlungenen Schriftzug in der Mitte prangte. Sie lagen an einer makellosen Spiegelwand. Als einer der Männer dem Kind den Bären aus der Hand nehmen wollte, drückte er aus Versehen auf dessen Brust. Der Bär brummte einmal vernehmlich "Ich bin Alice." und verstummte dann.
von Merlisabeth Thörl
Alice (von Lyrillies und Mnemosyne)
Hi Ellie und Merlin,
das ist nicht nur äußerst mysteriös, wie im Untertitel angekündigt, sondern auch richtig gruselig, uiiii. Seltsam, dass gerade Puppen und Stofftiere oder Menschen, die wie Puppen agieren, so einen Effekt haben.
Ich finds klasse aufgebaut, es liest sich flutschig in einem durch. Und das Makabere ist, das Grausamkeit hier so geschrieben wird, als ob man sich übers Wetter erkundigt.
Und das besonders Gemeine ist, dass man als Leser eigentlich bis zum Schluss nicht konkret weiß, was da eigentlich wirklich passiert.
Ihr seids schon ein gutes Team, ihr Zwei!
Saludos
Mucki
das ist nicht nur äußerst mysteriös, wie im Untertitel angekündigt, sondern auch richtig gruselig, uiiii. Seltsam, dass gerade Puppen und Stofftiere oder Menschen, die wie Puppen agieren, so einen Effekt haben.
Ich finds klasse aufgebaut, es liest sich flutschig in einem durch. Und das Makabere ist, das Grausamkeit hier so geschrieben wird, als ob man sich übers Wetter erkundigt.
Und das besonders Gemeine ist, dass man als Leser eigentlich bis zum Schluss nicht konkret weiß, was da eigentlich wirklich passiert.
Ihr seids schon ein gutes Team, ihr Zwei!

Saludos
Mucki
Hallo Gabriella,
ja, das ist bei Mystery-Geschichten meistens so, dass man am Ende nicht so recht schlau aus ihnen wird
. Eigentlich bin ich da selbst kein großer Fan von - irgendwie ist es für mich Betrug am Leser, wenn der Autor selbst nicht weiß, was dahinter steckt - aber reizvoll genug für ein Experiment ist es allemal.
Wir haben den Text übrigens abschnittweise und abwechselnd geschrieben, ohne uns abzusprechen, so war die Überraschung immer wieder groß, was der andere aus dem letzten Beitrag gemacht hatte. Besonders erfreulich finde ich, dass dabei offenbar keine auffälligen Sprünge oder Brüche entstanden sind. Vielleicht ein gutes Zeichen für Rom?
Liebe Grüße
Merlin
ja, das ist bei Mystery-Geschichten meistens so, dass man am Ende nicht so recht schlau aus ihnen wird

Wir haben den Text übrigens abschnittweise und abwechselnd geschrieben, ohne uns abzusprechen, so war die Überraschung immer wieder groß, was der andere aus dem letzten Beitrag gemacht hatte. Besonders erfreulich finde ich, dass dabei offenbar keine auffälligen Sprünge oder Brüche entstanden sind. Vielleicht ein gutes Zeichen für Rom?
Liebe Grüße
Merlin
Hi Merlin,
Keine Absprache? Wow, das ist wirklich gut, da ich jedenfalls keine Sprünge/Brüche erkenne.
Saludos
Mucki
Wir haben den Text übrigens abschnittweise und abwechselnd geschrieben, ohne uns abzusprechen, so war die Überraschung immer wieder groß, was der andere aus dem letzten Beitrag gemacht hatte. Besonders erfreulich finde ich, dass dabei offenbar keine auffälligen Sprünge oder Brüche entstanden sind.
Keine Absprache? Wow, das ist wirklich gut, da ich jedenfalls keine Sprünge/Brüche erkenne.
Saludos
Mucki
Bisschen spät, um einen Kommentar abzugeben, aber was soll's:
Starke Geschichte, gefällt mir gut. Irgendwie würde ich gerne weiterlesen und erfahren, wie es mit Alice weitergeht, dass passiert mir selten bei Geschichten. Der Psychater ist angenehm gruselig und undurchschaubar (auch wenn heute natürlich niemand mehr Elektroschocks bei einem Kind anwürden würde, aber im Sinne der Story akzeptiere ich das gerne.)
Bitte weiterschreiben!
mfg
chaostom
Starke Geschichte, gefällt mir gut. Irgendwie würde ich gerne weiterlesen und erfahren, wie es mit Alice weitergeht, dass passiert mir selten bei Geschichten. Der Psychater ist angenehm gruselig und undurchschaubar (auch wenn heute natürlich niemand mehr Elektroschocks bei einem Kind anwürden würde, aber im Sinne der Story akzeptiere ich das gerne.)
Bitte weiterschreiben!
mfg
chaostom
Hallo chaostom,
spät vielleicht, aber deshalb nicht minder willkommen! Danke für deinen Kommentar!
Weiter wird es hierbei nicht mehr gehen, ich denke, die Geschichte würde durch eine Fortsetzung zu viel verlieren. Gerade das, das wir an diesem Punkt den Leser hängen lassen und nichts weiter erzählen, hält ihn vielleicht fest.
Die Elektroschocks werden natürlich längst nicht mehr verwendet, vorallem nicht bei Kindern, aber es passte so schön...
Liebe Grüße,
Ellie
Auch an dich, Rala, vielen Dank!
spät vielleicht, aber deshalb nicht minder willkommen! Danke für deinen Kommentar!
Weiter wird es hierbei nicht mehr gehen, ich denke, die Geschichte würde durch eine Fortsetzung zu viel verlieren. Gerade das, das wir an diesem Punkt den Leser hängen lassen und nichts weiter erzählen, hält ihn vielleicht fest.
Die Elektroschocks werden natürlich längst nicht mehr verwendet, vorallem nicht bei Kindern, aber es passte so schön...
Liebe Grüße,
Ellie
Auch an dich, Rala, vielen Dank!
Tja, najaaaa... Man könnte vielleicht noch einen tieferen Sinn hinter diese Vorgänge denken und aus dem heraus weiter schreiben. Das wäre zwar nur scheinbar eine Fortsetzung, aber immerhin denkbar. Mal schauen - eigentlich ist das für uns beide ein eher unvertrautes Themenfeld, aber warum nicht...
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