VI. Vorhin war schon alles anders
Verfasst: 22.04.2009, 16:19
VI. Vorhin war schon alles anders
Ich siebte mit meiner Hand den dämmerungsblauen Matsch. Der fleckige Punkt vor meinen Augen erklärte mir fachmännisch, wie ich vorzugehen hatte. Erst mit der einen Hand von links nach rechts, dann mit der anderen glatt streichen und mit der dritten einen Zopf in die Pferdehaare binden. Immer ein schwarzes und ein weißes, damit das Pferd am Ende aussah, wie ein vor langer Zeit einmal gut gestimmtes Klavier. Der fleckige Punkt trat mir gegen die Stirn und wurde größer. Ich vermutete, er wollte mir bewusst machen, dass er mich bewusstlos machen konnte, wenn er es gerne so wollte, doch nach dieser Vermutung lehnte er mich zurück und strich mir sachte über beide Wangen bis sie zu frisch gesponnener Wolle wurden. Ich schloss die Augen und wusste genau, dass es gar kein fleckiger Punkt war. Es war eine verblichene Fotographie von dir, von damals, als wir uns noch geliebt hatten. Ich saß in einer Schublade der Bibliothek und wunderte mich. Wie hatte es eigentlich angefangen? Die fette Henne schüttelte ihre Blätter und begann zu notieren, was ich mir zusammen grübelte. Sie war davon überzeugt, dass es farblich sehr gut zu den anderen Grübeleien im Regal „achteinszwo“ passen könnte.
Mit jedem verschwendeten Gedanken wurde die Schublade enger, weil sie sich mit Fotographien und Hörspielkassetten füllte und bald keinen Platz mehr für mich bereit hielt. Ich musste hinaus, doch ich fand den Hebel nicht ins nächste Stockwerk. Zum Glück war das Licht so grell, dass ich Kopfschmerzen bekam und der nicht-indianische Medizinmann die Schublade nur beinahe sprengte. Er war immer da, wo ich auch war, wenn ich im Matsch siebte. Wahrscheinlich hoffte er, ein Stück von der Kirschtorte abzubekommen oder die andere Seite der Medaille mit nach Hause nehmen zu können, doch es waren meine Erinnerungen und ich würde dafür kämpfen, dass sie jeder erfahren wird, der nicht mindestens zwei rote oder schwarze oder gar gelbe Haare auf dem Kopf hatte. Vorzugsweise trug ich zwar weiße Hüte, doch davon wusste die fette Henne schließlich nichts. Sie arbeitete zu lange schon hier draußen und kannte die Welt nur durch das Schlüsselloch, denn in meinen kühnsten Fantasien war sie eine Verbrecherin, die bis an ihr Lebensende Gedanken sortieren und Grübeleien notieren musste. Womöglich war es sogar wahr, denn im Traum war alles wahr.
Auch du warst einmal wahr gewesen, denn nun träumte ich nicht mehr von dir, nur noch von den Fotographien und Anzügen und Aufzügen, die wir gemeinsam bereist und bezwungen haben, als wir noch waren. Die fette Henne und der Medizinmann wisperten und schrien kakaoartig in meine Ohren, dass es immer anders kommt, doch ich hörte sie nicht, denn die Tür war zweifach verschlossen. Meine kleinen Zehen kringelten sich genüsslich ein wie schläfrige Katzen und die Hörspielkassetten gaben Schnurrlaute von sich, während ich es mir gemütlich machte, denn ich wusste, ich würde noch eine ganze Weile dort erinnern. Warum ich das wusste, wusste ich allerdings nicht. Es stand so im Drehbuch und was der große Igel einem versprach, wurde auch genau so erledigt, denn er versprach sich nicht oft, immerhin war er Deutschlehrer gewesen. Ich begann also im Jahr vor meiner Geburt, in welchem du deine erste Liebe kennenlerntest: Den Korken einer ungeöffneten Flasche Rotkohl deines Urgroßvaters. Es war eines der Geschenke zu deinem vierten Geburtstag und ich musste kichern, weil ich dich noch nie mit vier Jahren gesehen hatte, auch nicht, als wir die Teppiche des fliegenden Mönchs gesucht hatten. Das Kichern klang hohl und blechern, doch das lag wohl daran, dass mit der Erinnerung auch der Korken in meinen Mund gewandert war und die Schublade natürlich aus Regentropfen bestand. Ich hoffte inständig, dass er nicht rosten würde und meine Hoffnung rief sofort ein neues Blatt Papier auf die Bildfläche, die so glatt wie ein Spiegelei war. Die fette Henne war entzückt von Spiegeleiern und zerfetzte das Blatt in so viele Splitter, dass die Schublade immer weiter hinab rutschte, bis sie im Keller einer alten Eiche landete. Scheinbar war ich angekommen, unendlich.
Der Blaubeerhimmel raunte mir ein Blatt im Wind zu. Ich fand das so niedlich, dass ich losprustete und die Luft um mich herum wurde zu weißem Zuckerguss. Sie musste mitlachen, weil sie mir eine Schneeflocke unter den Rock gelegt hatte. Doch die Erinnerungen war noch nicht beendet. Der Medizinmann, der im Übrigen aussah wie eine dicke Kerze, gab mir das nächste Stichwort: Stockbrot, tanzte er mir zu. Ein ganz exklusives Essen hier, hörte ich dich freundlich lachen. Wenn du gelacht hast war es oft, als würde ein Eisvogel ins Wasser tauchen, immer wieder innerhalb von einer Sekunde. Ein unheimliches Gefühl war das gewesen. Ich war sehr erleichtert, dass ich dieses Gefühl nicht mehr in mir trug. So erleichtert, dass ich lauthals aufwachte. Doch ich wollte noch nicht im Hier und Jetzt sein. Mit einem traurigen Seufzer lehnte ich mich also wieder zurück in das saftige Mondlicht und gab dem Seepferdchen den Befehl zum Weitermassieren. Gott sei dank war die Erinnerung nur reine Fiktion, war mein letzter Gedanken bevor ich ganz bewusst in einen erquickenden Schlaf fiel.
Ich siebte mit meiner Hand den dämmerungsblauen Matsch. Der fleckige Punkt vor meinen Augen erklärte mir fachmännisch, wie ich vorzugehen hatte. Erst mit der einen Hand von links nach rechts, dann mit der anderen glatt streichen und mit der dritten einen Zopf in die Pferdehaare binden. Immer ein schwarzes und ein weißes, damit das Pferd am Ende aussah, wie ein vor langer Zeit einmal gut gestimmtes Klavier. Der fleckige Punkt trat mir gegen die Stirn und wurde größer. Ich vermutete, er wollte mir bewusst machen, dass er mich bewusstlos machen konnte, wenn er es gerne so wollte, doch nach dieser Vermutung lehnte er mich zurück und strich mir sachte über beide Wangen bis sie zu frisch gesponnener Wolle wurden. Ich schloss die Augen und wusste genau, dass es gar kein fleckiger Punkt war. Es war eine verblichene Fotographie von dir, von damals, als wir uns noch geliebt hatten. Ich saß in einer Schublade der Bibliothek und wunderte mich. Wie hatte es eigentlich angefangen? Die fette Henne schüttelte ihre Blätter und begann zu notieren, was ich mir zusammen grübelte. Sie war davon überzeugt, dass es farblich sehr gut zu den anderen Grübeleien im Regal „achteinszwo“ passen könnte.
Mit jedem verschwendeten Gedanken wurde die Schublade enger, weil sie sich mit Fotographien und Hörspielkassetten füllte und bald keinen Platz mehr für mich bereit hielt. Ich musste hinaus, doch ich fand den Hebel nicht ins nächste Stockwerk. Zum Glück war das Licht so grell, dass ich Kopfschmerzen bekam und der nicht-indianische Medizinmann die Schublade nur beinahe sprengte. Er war immer da, wo ich auch war, wenn ich im Matsch siebte. Wahrscheinlich hoffte er, ein Stück von der Kirschtorte abzubekommen oder die andere Seite der Medaille mit nach Hause nehmen zu können, doch es waren meine Erinnerungen und ich würde dafür kämpfen, dass sie jeder erfahren wird, der nicht mindestens zwei rote oder schwarze oder gar gelbe Haare auf dem Kopf hatte. Vorzugsweise trug ich zwar weiße Hüte, doch davon wusste die fette Henne schließlich nichts. Sie arbeitete zu lange schon hier draußen und kannte die Welt nur durch das Schlüsselloch, denn in meinen kühnsten Fantasien war sie eine Verbrecherin, die bis an ihr Lebensende Gedanken sortieren und Grübeleien notieren musste. Womöglich war es sogar wahr, denn im Traum war alles wahr.
Auch du warst einmal wahr gewesen, denn nun träumte ich nicht mehr von dir, nur noch von den Fotographien und Anzügen und Aufzügen, die wir gemeinsam bereist und bezwungen haben, als wir noch waren. Die fette Henne und der Medizinmann wisperten und schrien kakaoartig in meine Ohren, dass es immer anders kommt, doch ich hörte sie nicht, denn die Tür war zweifach verschlossen. Meine kleinen Zehen kringelten sich genüsslich ein wie schläfrige Katzen und die Hörspielkassetten gaben Schnurrlaute von sich, während ich es mir gemütlich machte, denn ich wusste, ich würde noch eine ganze Weile dort erinnern. Warum ich das wusste, wusste ich allerdings nicht. Es stand so im Drehbuch und was der große Igel einem versprach, wurde auch genau so erledigt, denn er versprach sich nicht oft, immerhin war er Deutschlehrer gewesen. Ich begann also im Jahr vor meiner Geburt, in welchem du deine erste Liebe kennenlerntest: Den Korken einer ungeöffneten Flasche Rotkohl deines Urgroßvaters. Es war eines der Geschenke zu deinem vierten Geburtstag und ich musste kichern, weil ich dich noch nie mit vier Jahren gesehen hatte, auch nicht, als wir die Teppiche des fliegenden Mönchs gesucht hatten. Das Kichern klang hohl und blechern, doch das lag wohl daran, dass mit der Erinnerung auch der Korken in meinen Mund gewandert war und die Schublade natürlich aus Regentropfen bestand. Ich hoffte inständig, dass er nicht rosten würde und meine Hoffnung rief sofort ein neues Blatt Papier auf die Bildfläche, die so glatt wie ein Spiegelei war. Die fette Henne war entzückt von Spiegeleiern und zerfetzte das Blatt in so viele Splitter, dass die Schublade immer weiter hinab rutschte, bis sie im Keller einer alten Eiche landete. Scheinbar war ich angekommen, unendlich.
Der Blaubeerhimmel raunte mir ein Blatt im Wind zu. Ich fand das so niedlich, dass ich losprustete und die Luft um mich herum wurde zu weißem Zuckerguss. Sie musste mitlachen, weil sie mir eine Schneeflocke unter den Rock gelegt hatte. Doch die Erinnerungen war noch nicht beendet. Der Medizinmann, der im Übrigen aussah wie eine dicke Kerze, gab mir das nächste Stichwort: Stockbrot, tanzte er mir zu. Ein ganz exklusives Essen hier, hörte ich dich freundlich lachen. Wenn du gelacht hast war es oft, als würde ein Eisvogel ins Wasser tauchen, immer wieder innerhalb von einer Sekunde. Ein unheimliches Gefühl war das gewesen. Ich war sehr erleichtert, dass ich dieses Gefühl nicht mehr in mir trug. So erleichtert, dass ich lauthals aufwachte. Doch ich wollte noch nicht im Hier und Jetzt sein. Mit einem traurigen Seufzer lehnte ich mich also wieder zurück in das saftige Mondlicht und gab dem Seepferdchen den Befehl zum Weitermassieren. Gott sei dank war die Erinnerung nur reine Fiktion, war mein letzter Gedanken bevor ich ganz bewusst in einen erquickenden Schlaf fiel.