Rhapsodie einer Vorstadt an den April

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Thea

Beitragvon Thea » 25.03.2009, 16:58

Rhapsodie einer Vorstadt an den April


Es entschließt sich eine Sumpfdotterblume zu blühen. Ein Dichter entschließt sich, darüber zu schreiben. Ein Mann entschließt sich, sie zu pflücken und weil ihm keine Frau entgegen kommt, schenkt er die Blume einem Kind, welches wegrennt und die Blume im Rennen wegschmeißt. Etwas entfernt pflückt sich das Kind eine neue Sumpfdotterblume und schenkt die der Mutter und sagt erst danach, dass das eine Fenster vom Onkel soundso kaputt ist.

Onkel soundso hat im Garten Krokusse in Blumentöpfen. Krokusse blühen früher schon als Sumpfdotterblumen und früher als Sumpfdotterblumen kriegen Krokusse braune Blätter. Das Kind mag den Garten des Onkels soundso. An diesem Apriltag wird es am Zaun stehen bleiben und zu den Krokussen in den Blumentöpfen schauen. Zu dem Zeitpunkt wollte es noch keine Krokusse pflücken, auch keine Sumpfdotterblumen. Zu dem Zeitpunkt dachte es nicht an Blumen für die Mutter.

In einem niedrig gebauten Haus, eine Gehminute von den Krokussen entfernt, saß am Tisch ein Dichter und schrieb nicht über Sumpfdotterblumen. Er schrieb an einer anderen Geschichte über ein ungeborenes Kind. Er schrieb auch über niedrig gebaute Häuser. Der Dichter setzte den Kuli an und schrieb auf: „Eine kluge Stadt baut ihre Häuser niedrig, sodass sie weiter entfernt sind vom Himmel, von dem vielleicht ohne Vorahnung etwas herunterfallen kann, und dann dauert es länger bis es auf die Dächer fällt und man kann sich ein wenig mehr Zeit lassen zu verschwinden, aber nicht zu lange, sonst trifft es einen doch“. Der Dichter las seinen Satz durch, strich ihn aus und schrieb: „In dieser Stadt ist mein Haus das niedrigste, aber ob das wirklich gut ist, weiß ich nicht“. Später noch an diesem Tag schrieb der Dichter still weiter und noch später hörte er ein Klirren und schrieb das Wort „Klirren“.

Der Onkel soundso saß auf dem Klo. Er schrieb nicht, er las. Er las ein Buch von einem Dichter. Auch wenn es ihm nicht gefiel, er las es, denn die Frau hatte es empfohlen. Vor dem Klirren merkte er, dass das Klopapier ausgegangen war, starrte auf das Buch mit dem Titel „Eines Kindes Freund“ und blieb sitzen. Als es klirrte, schaute er vom Buch auf, zog die Hose hoch ohne den Knopf zu schließen und sah, dass das Fenster im Wohnzimmer ein Loch hatte. Der Onkel soundso sagte nichts, denn niemand war da und er sprach nicht zu sich selbst. Er steckte seine Faust durch das Loch und zupfte einer seiner Krokusse ein braunes Blatt ab. Dann suchte er nach Klopapier. Am Abend würde er den Mann anrufen und ihn fragen, ob er Fensterscheiben wechseln könnte.

Die Frau ging an diesem Tag nicht aus dem Haus. Sie strich über ihren Bauch. Vor zwei Tagen hatte sie dem Dichter erzählt, sie wünsche sich so sehr ein Kind, dass sie manchmal denke, sie hätte eines und manchmal würde sie mit dem Kind reden, als ob es vor ihr stehen und sie ansehen würde. Das erschrecke sie ein bisschen, aber sie könne nicht aufhören, weiter mit dem Kind zu reden. Der Dichter hatte ihr zugenickt und seine Schreiberhand an ihre Taille gelegt und erzählt, er habe ein Kind beobachtet, das würde mit seinem unsichtbaren Freund reden, immerzu. Darüber habe er auch sein Buch geschrieben. Der Dichter ließ seine Schreiberhand ruhen und sagte, „Manchmal reden wir mehr mit den Unsichtbaren als mit den Wirklichen. Wie sonderbar“. Dann hatte er den Kopf geschüttelt und hinzugefügt, „Nein, eigentlich ist das richtige Wort wunderbar. Wunderbar“. Die Frau hatte dem Dichter nach ihrem Gespräch ein Exemplar seines Buches abgekauft.

Der Mann wohnt in dem Haus neben der Frau. Jeden 9. April versteckte er eine Blume in ihren Briefkasten. An anderen Tagen auch. Nie gelang es ihm, den Moment zu sehen, in dem sie die Blume fand. Zuletzt hatte er eine Tulpe versteckt. Diesen Nachmittag will er durch den Park spazieren und ihr eine Blume pflücken, die grade erblüht ist. Er wünscht sich, sie einmal im Park zu treffen und ihr die frisch gepflückte Blume zu überreichen. Vor seinem Spaziergang wird er zur Arbeit in die benachbarte Stadt fahren und dort ein anderer Mensch sein. Er wird in glänzenden Schuhen hinter seinem Tisch stehen und laut seinen Kollegen Motivationsparolen zurufen. Dann wird er Manuskripte durchlesen und zwischendurch unterbrechen, um Entwürfe für die Titelseite eines Buches zu bewerten. Später wird er etwas erledigen, von dem nur er etwas versteht. Später noch wird er nach Hause fahren, im Park spazieren, einem Kind begegnen, das mit sich selbst redet, und ihm eine Blume schenken. Noch später wird er ein Vergiss-mein-nicht pflücken und es in den Briefkasten der Frau verstecken. Und dann, als er in Hausschuhen in der Mitte seines Zimmers stehen wird, als warte er auf etwas, da wird sein Telefon klingen und er wird gefragt werden, ob er Fensterscheiben wechseln könnte. Der Mann wird lachen und sagen, „Nein, so etwas kann ich überhaupt nicht“.

Die Mutter steht am Morgen vor der verschlossenen Tür zum Badezimmer, in dem ihr Kind sich für die Schule anzieht. Sie hört es reden, ohne dass es wissen kann, dass sie zuhört. Die Mutter hofft, dass so etwas normal sei. Es ist ihr erstes Kind. Es wird nicht ihr einziges sein, aber das weiß sie noch nicht. Die Mutter hofft, dass es noch kein anderer bemerkt habe. Der Dichter hat es schon bemerkt, aber das weiß sie nicht und wird es nie wissen, denn mit dem Dichter möchte die Mutter nicht reden. Sie fürchtet sich vor ihm. Ihr Kind liest in der Schule sein Buch. Sie hat es auch gelesen als ihr langweilig war und hat es nicht verstanden. Ihrem Kind hat sie das nicht gesagt. Sie wird es dem Kind Jahre später sagen, aber es wird sich nicht mehr an das Buch erinnern können. Die Mutter geht zurück in die Küche, aus der sie kam, als sie im Badezimmer das Kind reden gehört hatte. Sie schmiert Brote. Heute Abend würde sie eine Vase für die Sumpfdotterblume suchen und einen Kuchen backen für den Onkel soundso und zusammen mit dem Kind zu ihm gehen.

Das Kind schaut in den Spiegel und sagt, „Mein Scheitel ist rechts, dein Scheitel ist links, mein Scheitel ist rechts, dein Scheitel ist links, mein Scheitel ist rechts“. Es will nicht in die Schule gehen, aber das sagt es nicht. Es geht los und setzt sich in den Garten des Dichters und versucht, auf sein niedrig gebautes Dach zu klettern. Dann zieht es mit wackelndem Kopf singend durch die Straßen bis es vor einem Zaun stehen bleibt, hinter dem im Garten Töpfe mit bunten Blumen aufgestellt sind. Von der Straße hebt das Kind Steine auf und sammelt sie in seiner Hand. Es wirft nach den Blumentöpfen und wird ein wenig traurig, weil es keinen trifft. Das Kind hebt einen größeren Stein und lehnt sich über den Zaun und wirft und trifft wieder keinen Blumentopf. „Schabalack“, denkt es als es das Klirren hört und rennt weg. Das Kind wird in den Park laufen und den geschlängelten Wegen entlang laufen, wird sich auf eine Bank hinsetzen, durch den Park laufen, sich auf eine andere Bank setzen, durch den Park laufen und von einem Mann, von dem es nichts weiter weiß, als dass er ein Mann ist, eine Sumpfdotterblume geschenkt bekommen. Das Kind wird leise „Danke“ sagen, wenn es die Blume zuerst nicht mag. Das Kind wird „Danke“ sagen, so leise, dass es der Mann nicht hören wird und nur zurückschaut. Das Kind wird wegrennen. Es wird „Mama“ denken und „Von Fremden nimmt man nichts“. Im Rennen wird es die Hand mit der Blume öffnen. Etwas entfernt wird es stehen bleiben und eine andere Sumpfdotterblume pflücken, wird sie zwischen zwei Fingern drehen und sich denken, „Die ist sogar schöner, die ist für Mama“. Am Abend wird das Kind der Mutter vom Klirren erzählen. Jahre später wird es der Mutter wieder davon erzählen, sie wird lächeln und sich nicht erinnern.

Der Dichter wird seinen Kuli nicht leer schreiben. Obwohl er sich das am Morgen dieses Tages vorgenommen hatte, wird er am Abend nicht enttäuscht sein. Er wird die Blätter sammeln und auf das oberste in die rechte Ecke ein Datum im April schreiben. In die linke Ecke schreibt er „Es entschließt sich eine Sumpfdotterblume zu blühen“. Dann streicht er den Satz durch und schreibt „Rhapsodie einer Vorstadt an den April“.



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Zuletzt geändert von Thea am 26.03.2009, 08:59, insgesamt 2-mal geändert.

Peter

Beitragvon Peter » 25.03.2009, 17:50

Hallo Thea,

ein merkwürdiger Text! So freundlich oder leicht er zu Anfang scheint, so unheimlich wird er, zumindest mir, in seinem Verlauf. Dinge, die ineinander greifen und doch lose sind; aneinandergereiht - man fragt sich, was hält sie zusammen? Vielleicht nur die Stimme des Textes. Da ist vielleicht kein Text. Vielleicht ist da nur eine Stimme.

Z.B. die Personen. Wie beziehen sie sich aufeinander. Das Unheimliche scheint, sie beziehen sich überhaupt nicht. Zwar gibt es eine Geste zwischen ihnen, wie z.B. der Dichter, der Blumen verschenkt, aber wie reicht dieses Schenken oder Geben hinüber? "Nie gelang es ihm, den Moment zu sehen, in dem sie die Blume fand." Das scheint allen Dingen zu fehlen, oder den Personen, oder den Gegenständen - es gibt kaum einen Unterschied im Text, finde ich, ob da einer Mensch ist oder Gegenstand - ...es fehlt jedem der Moment, der Augenblick, das Wirken, das Dasein. Was du bist, ist jetzt, wird sein, ist voraussehbar, ist eingereiht schon - unheimlich, wie die Textstimme das weiß.

Ein anderes Beispiel, finde ich, für dieses Hinüber-, oder Hinreichen-wollen, dort zumindest an ein Ende, ist diese Absicht des Dichters, den Kuli leer zu schreiben. Aber, sagt die Stimme: "Der Dichter wird seinen Kuli nicht leer schreiben". Es gibt nicht etwas wie einen Abend, ein Ende, ein Sich-senken des Ganzen, oder ein Ankommen. Aber ist das nun traurig oder nicht? Der Text, so meinem Lesen nach, schafft da ein Zwielicht. Es ist traurig, sogar verheerend, fürchterlich, alles gibt sich nur weiter, ohne dass etwas wird oder ist - aber eben deshalb ist es. Mir fällt in jenem Durchstreichen am Ende die Linie auf. Etwas geht hindurch. Ist niemand, aber ist. Vielleicht wäre auch der letzte Satz durchzustreichen "Rhapsodie einer Vorstadt an den April". Oder er ist eben jene Linie selbst.

Gern gelesen!

Peter

Sam

Beitragvon Sam » 26.03.2009, 06:19

Hallo Thea,

die Geschichte erinnert mich an die Art Filme, die ich so sehr liebe: Episodengeschichten, die nur an einem ganz dünnen Faden zusammenhängen. So, wie sie z.B. der geniale argentinische Regisseur Inarritu zu erzählen weiß.

Der Faden ist auch hier zu erkennen, jene hauchdünnen Berührungspunkte, die nicht mehr sind, als das, was sie darstellen: schmale, kaum wahrnehmbare Flächen, an denen die Vorstadtleben verschiedener Menschen eine winzige Schnittmenge bilden. Und durch diese Winzigkeit wird das Große illustriert, nämlich das Nebeneinander, welches kein Miteinander sein kann, weil die Abkapselung schon viel zu weit fortgeschritten ist. Denn die Vereinzelung der einzelnen Passagen entspricht der Vereinzelung der Menschen. Dass sie sich trotzdem in einem Ganzen befinden, wird nicht wahrgenommen, aber hier im Text gezeigt. Wobei es ein fragwürdiges Ganzes ist, da kein wirkliches Gerüst zu erkennen ist, sondern der Zufall die Verbindungen schafft. Und diese, eben weil sie so hauchdünn sind, auch jederzeit wieder auseinandergerissen werden können. Oder abgepflückt und weggeworfen wie eine kleine Blume.

Ein sehr guter Text, der vielleicht noch etwas sprachlichen Feinschliff vertragen könnte.

Liebe Grüße

Sam

Thea

Beitragvon Thea » 27.03.2009, 11:06

Hallo!

Peter, ich habe deine Gedanken gerne gelesen, auch weil es ein doppeltes Lesen war; so wie du den Text gelesen hast, konnte ich ihn ein zweites mal mitlesen. Mir missfällt es nicht, dass der Mann und der Dichter für dich eine Person zu sein scheinen, auch wenn das in meinem Kopf zwei waren, ist es interessant, wie leicht sie zu einer werden können.
Gewagt finde ich den Vorschlag, den letzten Satz im Text zu streichen - weil er mir so logisch konsequent erschien beim Schreiben. Ja, ich glaube, wie du sagst, ein bisschen ist er die Linie. (Wenn eine Rhapsodie eine Linie hat.) Trotzdem mag ich deine Idee sehr, weil sie so fremd ist. Ich fürchte nur, ob da nicht etwas verloren geht von dem Verhältnis Dichter-Autor. "Ob das wirklich gut ist, weiß ich nicht".


Sam, du hast Recht, ich hab Inarritu hinter mir auf dem Regal und respektiere ihn sehr. Auch wenn ich konkret nicht an ihn gedacht hatte, danke fürs Assoziieren. Jetzt wo ich darüber nachdenke; Ich finde in seinen drei Episodenfilmen hat er sich von einer wechselnden personalen Perspektive (amores perros) ein wenig distanziert zur kälteren auktorialen Perspektive (Babel) und irgendwie hat mich die Nähe der Stimme zur Erzählung beim Schreiben irritiert. Der Text ist jetzt sehr berichtend. Ich hab vor, das nochmal zu ändern, mit einem etwas sanfteren Ton erzählen(vllt meinst du das mit dem sprachlichen Feinschliff?) und tiefer ins Personale gehen. Ich bin selbst gespannt, welche Version dann gelungener wird und besser zur Form passt...

Liebe Grüße!
die Thea

wüstenfuchs

Beitragvon wüstenfuchs » 27.03.2009, 16:20

Finde den Text klasse in der Konzeption.
Ich vermutete ein Abkippen, wie Lynch es in seinen Filem gestaltet in etwas Abgründiges,

aber es wurde nicht wirklich sichtbar.

Es blieb sozusagen in den Zweigen hängen. Der Text hat Leichtigkeit und Beiläufigkeit, die deine Texte immer wieder haben.

Werde mich noch einmal sehr ausführlich damit beschäftigen.

Einer der Texte, die in meine persönliche Anthologie kämen,

viele Grüße
Fux


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