Geschichte über einen Menschen an einem Morgen, an dem er se

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Thea

Beitragvon Thea » 16.03.2009, 15:54

Geschichte über einen Menschen an einem Morgen, an dem er seine Liebe des letzten Sommers
wiederfindet in der Frau auf einem Plakat an der Litfasssäule



Der Tag beginnt zu früh heute. Frühe Tage sind selten bei mir und selten ist besonders, heißt es. Dieser Tag ist ein seltener und besonderer Tag, unter den seltenen Tagen ein besonderer und unter den besonderen Tagen ein seltener. Diesen Morgen also Shirt von vor zwei Tagen, weil keine Zeit mehr für zum Schrank gehen und nach einem frischen riechen. Die Tage der Unterhose habe ich nicht mitgezählt. Ich nehme mir vor, sie ab morgen laut zu zählen. Keine Zeit, mich über blaue Haut zu wundern. Keine Zeit, ans Kämmen zu denken und den Gedanken zu verwerfen. Diesen Morgen bleiben die Fliegen im Zimmer, ich werde das Fenster nicht aufreißen und die Insekten nicht mit der Hose hinausjagen. Am Abend werden sie tot auf dem Fensterbrett liegen, die Beine eingeknickt. Ich werde es nicht bemerken, werde das Fenster aufmachen und mit meinem rechten Ellbogen eine platt drücken, so platt pressen, wie ich es mit der Sumpfdotterblume gemacht habe, die Dana als Lesezeichen benutzt. Das wird mich dazu bringen nach den Fotos mit Dana im Sumpfdotterblumenfeld zu suchen. Ich werde sie nicht finden und weitersuchen und sie nicht finden und dann eine Blume in meinen Kalender krakeln, die aussehen wird, wie die plattgedrückte Fliege auf dem Fensterbrett, die ich kurz danach entdecken und dort liegen lassen werde. Keine Zeit, mir den Pelz von den Schläfen zu rasieren. Keine Zeit, mir den Pelz von der Zunge zu rasieren. Zwischen zwei Fingern das Frühstück, Gouda mit Butter bestrichen, fällt hart in den Magen. Ich lausche nach einem dunklen Ton, wie als der Stein in den Brunnen gefallen ist, und ich höre das Geräusch wieder, aber es ist nicht mein Magen, denke ich, es ist die Erinnerung.
Ich lasse mich von den Treppen hinunterführen auf die Straße, der ich nur so lange folge, dass ich am Abend auch zurückfinde. Bis zur Bushaltestelle, an der die Linie hält, die an jeder Station hält, die ich für mein Leben in dieser Stadt brauche. An der Litfasssäule ist ein Plakat mit einer Frau, die tanzt. So wie Frauen auf Plakaten es eben tun, so zeigt sie ein bisschen Bein und tanzt. Hier warte ich auf die Linie 17. Die Frau solle den ganzen Winter tanzen. Wie Dana sieht sie aus.
Dana, sag ich zu der Frau, ich habe dich fast nicht erkannt. Dana, sage ich, du trägst kurze Haare, seit wann trägst du sie kurz und wieso jetzt in einer Zeit, in der der Wind ins Ohr weht und dir hinein in den Kopf weht und die Gedanken zu Eisflocken werden. Dana, findest du nicht, es ist kalt hier?
Manchmal, sagt sie.
Ich stelle mich nah an Dana. Findest du, es ist kälter als im Sommer?
Manchmal, sagt sie.
Weil deine Haare jetzt kurz sind, sage ich. Aus meiner Jackentasche hole ich einen Stift, setze ihn an die Haarspitzen und zeichne Strähnen bis zu den Schultern. Danas Haar fängt an zu wachsen und schlägt Wellen, wie es das tut, wenn es feucht ist, wie als Dana nach dem Schwimmen unter der Sonne sich auf mein Strandtuch gesetzt hat. Ich lasse Danas Haare wachsen, so lang, wie sie es im Juli waren. Gefällt es dir, frage ich.
Ein bisschen länger vielleicht, sagt sie.
Ich ziehe mit dem Stift nach.
So, und jetzt?
Danke.
Bis Morgen, sage ich und mache einen Schritt zur Straße hin, damit die Linie 17 auch hält. Ich werde heute in ein Blumengeschäft gehen und nach einer Sumpfdotterblume fragen.


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ältere Fassung: ( http://www.blauersalon.net/online-liter ... 214#109214 )
[align=right]Diesen Morgen also Shirt von vor zwei Tagen, weil keine Zeit für zum Schrank gehen und nach einem frischen riechen. Die Tage der Unterhose habe ich nicht mitgezählt. Ich nehme mir vor, sie ab morgen laut zu zählen. Keine Zeit, mich über blaue Haut zu wundern. Keine Zeit, ans Kämmen zu denken und den Gedanken zu verwerfen. Diesen Morgen bleiben die Fliegen im Zimmer, ich werde das Fenster nicht aufreißen und die Insekten nicht mit der Hose hinaus jagen. Am Abend werden sie tot auf dem Fensterbrett liegen, die Beine eingeknickt. Ich werde es nicht bemerken, werde das Fenster aufmachen und mit meinem rechten Ellbogen eine platt drücken, pressen, wie ich es mit der Sumpfdotterblume gemacht habe, die Dana als Lesezeichen benutzt. Keine Zeit, mir den Pelz auf der Zunge zu rasieren. Zwischen zwei Fingern das Frühstück, Gouda mit Butter bestrichen, fällt hart in den Magen.
Ich lasse mich von den Treppen hinunter führen auf die Straße, der ich nur so lange folge, dass ich am Abend auch zurückfinde. An der Litfasssäule mit dem Plakat der Frau, die immer noch tanzt, wie sie schon vor vier Tagen getanzt hat, warte ich auf die Linie 17. Ich hoffe, die Frau wird den ganzen Winter tanzen. Wie Dana sieht sie aus.
Dana, sag ich zu der Frau, ich habe dich fast nicht erkannt. Dana, sage ich, du trägst kurze Haare, seit wann trägst du sie kurz und wieso jetzt in einer Zeit, in der der Wind ins Ohr weht und es mindestens acht Grad zu kalt ist. Dana, findest du nicht, es ist kalt hier?
Manchmal, sagt sie.
Ich stelle mich nah an Dana. Aus meiner Jackentasche hole ich einen Stift, setze ihn an die Haarspitzen und zeichne Strähnen bis zu den Schultern. Danas Haar fängt an zu wachsen und schlägt Wellen, wie es das tut, wenn es feucht ist, wie als Dana nach dem Schwimmen unter der Sonne sich auf mein Strandtuch gesetzt hat. Ich lasse Danas Haare wachsen, so lang, wie sie es im Juli waren. Gefällt es dir, frage ich.
Ein bisschen länger vielleicht, sagt sie.
So, und jetzt?
Danke.
Bis Morgen, sage ich und mache einen Schritt zur Straße hin, damit Linie 17 hält.[/align]
Zuletzt geändert von Thea am 22.04.2009, 14:29, insgesamt 5-mal geändert.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 16.03.2009, 17:14

Hallo Thea,

der Text kam mir so bekannt vor. Und ja, hier:

http://www.blauersalon.net/online-liter ... 214#109214

hast du ihn bereits eingestellt, nur in einer leicht gekürzten Fassung, bist aber auf Sams und meinen Kommentar nicht eingegangen.

Saludos
Mucki

jondoy
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Beitragvon jondoy » 16.03.2009, 18:15

Hallo Thea,

o.T.: mich würde interessieren, wie die Lesung "Literatur in der Lounge" damals in Mainz bei den Zuhörern angekommen ist. Das wollte ich dich schon lange fragen. Vor allem wie deine Texte auf die Zuhörer gewirkt haben. Bei dem Text beispielsweise könnte ich mir alle mögliche Reaktionen darauf vorstellen. Gruß, Stefan

Thea

Beitragvon Thea » 19.03.2009, 13:46

hallo!

mucki, das ist mir noch nie passiert, hab ich echt komplett vergessen, kann man irgendwie diesn mit dem anderen zusammentun? oder soll ich in den alten die neue version reinstellen und du löschst das hier?

jondoy, danke der nachfrage, das war ja hauptsächlich einer anthologievorstellung wegen und die ist uns so gut abgekauft worden, dass lustigerweise grad gestern die veranstaltung ein zweites mal gehalten wurde, in ingelheim jedoch und mit jazz noch verfeinert. und ein drittes mal nach dem feedback von gestern bestimmt auch.

liebe grüße!

Mucki
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Beitragvon Mucki » 19.03.2009, 14:05

Hallo Thea,

ich würde folgendes machen, da wir bereits kommentierte Fäden nur in Ausnahmefällen löschen: Gib du selbst im Kopfposting einen Hinweis auf die bereits eingestellte Version (den Link dazu habe ich ja oben bereits eingestellt) und dass dies eine verlängerte Fassung ist. Du könntest der Einfachheit halber zusätzlich die alte Version in etwas kleiner Schrift darunter stellen. Dann weiß jeder Bescheid und kann in anderem Faden noch mal nachlesen, was Sam und ich geschrieben hatten. Es macht m.E. mehr Sinn, hier weiterzuarbeiten, da es die aktuellere und längere Version und eine mit neuem Titel ist.

Saludos
Mucki

P.S. Bei der alten Version hänge dann ein posting mit Link hierher an, dass es eine neue Version gibt.

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Beitragvon Lisa » 21.03.2009, 21:27

Hallo thea,

gut, dass du ihn nochmal eingestellt hast, ich hab den damals wohl wirklich übersehen!!

Gefällt mir wieder sehr gut, dein Ton und deine Beobachtunsgabe für das, was weh tut, ohne dick aufzutragen - den Leser eben Tage schmecken zu lassen, ist hier wieder ganz da.

Allerdings ist der Text noch etwas schlampig präsentiert .-). da lauern ein paar Tipp- Und Kommafehler, beim Lesen sind mir ein paar aufgefallen:

nicht mit der Hose hinaus jagen --> hinausjagen


hinunter führen --> hinunterführen

Findest du (Komma) es ist kälter als im Sommer


Dann habe ich diesen Satz nicht verstanden:

keine Zeit, mich über blaue Haut zu wundern.


Im Titel würde ich dem Plakat durch einem Plakat ersetzen - warum ein bestimmter Artikel hier?

Und im Grunde fände ich den Text ohne den letzten Satz noch eine Spur weniger gewollt und damit feiner.


Trotzdem toll!

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Thea

Beitragvon Thea » 24.03.2009, 11:33

Hallo!

Mucki, jetzt ist alles rechtens, habe verlinkt, was es zu verlinken gibt.

Lisa, danke dir fürs Lesen. Danke dir für den Crashkurs Rechtschreibung. Ich habe letztens in der Uni diese Vorlesung gehabt, dass eigentlich nur alles zusammengeschrieben wird, wenn es einen übertragenen Sinn hat. Also "zusammenschreiben" wird zusammengeschrieben, weil man ja nicht wortwörtlich etwas zusammen schreibt. Und seitdem bin ich ganz ehrlich so konfus mit zusammen und getrennt, ich frag mich ständig; hat das jetzt noch seinen ursprünglichen semantischen Kern oder ist das schon etwas anders gemeint als gesagt... (wieso schreibt man jetzt also hinaus jagen als hinausjagen? :icon_redface2: )

Liebe Grüße!
die Thea

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Beitragvon Lisa » 07.04.2009, 20:37

Liebe Thea,

ich weiß nicht, ich mache es nach Wissen und Gefühl, ansonsten schau ich im Duden nach und halte mich von Crashkursen fern .-). Gerade als ich deinen Text gewählt habe und dazu den Titel kopiert habe, habe ich noch gemerkt, dass ein Fehler darin ist. letzen= letzten

liebe Grüße,
Lisa
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