Gegensätze

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Ulrich Dittmar

Beitragvon Ulrich Dittmar » 06.04.2006, 09:45

Gegensätze

Die Matratzen waren hinüber, hatten ausgedient. Ein endlich mal gut dotierter Job machte es mir möglich, nach einer anderen Sitzgelegenheit Ausschau zu halten. Aufgrund der Spontaneität dieses Entschlusses hatte ich noch nicht die geringsten Vorstellungen von diesem Sitzmöbel, als ich über die Ausstellungsfläche eines unmöglichen aber bekannten Möbelhauses ging. Doch soviel war klar: zweckmäßig musste es sein und preiswert und dennoch stabil. Und es war wichtig, dass es mir gefiel.
Schon nach wenigen Metern war ich fündig geworden. Björk, eine Couch von schlichtem Design, konnte mit wenigen Handgriffen zu einem Bett umgebaut werden. Freudig erregt nahm ich mir das Buch mit den Mustern für die möglichen Polsterstoffe und ließ mich auf Björk nieder, der sanft stöhnend meinem Gewicht nachgab. Die Polsterstoffe waren alle einfarbig, was für mich ein Problem darstellte. Immer schon hatte über den Matratzen meiner Sitzecke eine bunte Decke gelegen, die ich vor vielen Jahren aus den peruanischen Anden mitgebracht hatte. Und eben diese Farben, dieses Muster prägten den Raum. Während ich die Stoffe zum fünften Mal durchblätterte entwickelte sich bei mir der Gedanke, dass ein Möbelgeschäft eine Metapher für Veränderung ist. Mir fiel ein, dass ich mir in meiner frühen Jugend unbedingt eine neue Brille kaufen musste, wenn ich aus einer Beziehung flog und einmal, in einem ganz besonders schlimmen Fall, hatte ich mir sogar die Haare ganz kurz schneiden ließ. Ja, so war das mit der Veränderung. Hat wohl immer eine Ursache.
Ich legte die Polsterstoffe neben mich, breitete meine Arme links und rechts aus und ruckelte meinen Hintern noch einmal so richtig in die Polster. Mein Blick ließ ich genüsslich durch den Raum schweifen, über die Möbel gleiten, zwischen denen Menschen gefangen waren, die herum zu irren schienen, wie in einem Labyrinth. Jubelnde Zustimmung hier mit begeisterten Gesten. Abwartende Unentschlossenheit dort, mit Gebärden die Zweifel ausdrücken. Höchste Konzentration mit versteinerten Gesichtern. Ameisenhaft in ihren Ähnlichkeiten. Ja! Sie waren sich alle auf seltsame Art und Weise ähnlich.
Alle.
Fast alle.
Eine war anders. Es war nicht nur die Kleidung, ein Kostüm in Naturweiß, die sie von den Anderen unterschied. Ihr Gang war gerade, aufrecht, stolz und wirkte auf mich sogar überheblich. Ein Habitus, der alles unterwarf, ohne Irrung, ohne Vertun. Der Anblick dieser Frau fesselte mich und ich fühlte mich fasziniert von dieser Dame mit dem herrischen Ausdruck, den ich ansonsten ablehne, und einer Aura der Unantastbarkeit die ich ihr unterstellte, die auch die Menschen in ihrer Nähe zu spüren schienen. Ich fragte mich gerade, was eine solche Frau, die es sicherlich gewohnt war in Weltstädten shoppen zu gehen, in diesem schwedischen Möbelhaus suchte, als sie hinter einer Dekowand verschwand.
Ich besann mich auf den Sinn meines Hierseins, stellte zufrieden fest dass Björk immer noch bequem war und weil mich der Gedanke begeisterte, dass der Kauf einer Couch genau so schnell vonstatten gehen kann wie der Kauf einer Jeans (gleiche Marke, gleicher Typ, gleiche Größe, nach Möglichkeit) war ich fest entschlossen, den Kauf zu tätigen. Schließlich wird man älter und das allein bringt Veränderungen schon mit sich. Warum also nicht eine einfarbige Couch statt einer buntbezogenen Matratze? Im Notfall hatte ich ja noch meine bunte Inka-Decke, die ich über die Couch legen konnte.
Ich erhob mich und entschied im gleichen Moment diesen Laden als glücklicher Besitzer einer Couch zu verlassen.
Auf direktem Weg ging ich zum Infostand, um mir einen entsprechenden Schein ausstellen zu lassen und überquerte den Hauptgang.
Etwas hielt mich fest, stieß mich ab oder an, hinderte mich daran weiter zu gehen. Es war der Anblick einer Eckgarnitur. Ich war begeistert. Meine ach so junge, innere Bereitschaft zur Veränderung hatte zugelassen, dass ich meine Matratzen gegen eine Eckcouch eintauschen konnte. Ich nahm den Informationszettel in die Hand.
Eckgarnitur Möhreröt in flaschengrün. Das gefiel mir. Gefiel mir sogar viel besser als Björk. Auch Möhreröt war mit wenigen Handgriffen zu einem Bett umzubauen, allerdings zu der Größe einer Lustwiese. Und selbst im Normalzustand konnten fünf Personen bequem darauf Platz nehmen. Wenn das nicht zweckmäßiger war?
Das Bild dieser Eckcouch in meinem Wohnzimmer drängte sich mir dermaßen auf, dass ich es mir schon gar nicht mehr anders vorstellen konnte. Ich hatte mich doch gerade erst entschieden. Jetzt so schnell eine neue Entscheidung die die Entscheidung, kurz davor getroffen, einfach aufhob? Das ging mir ja fast alles zu schnell. Mir wurde leicht schwindelig. Hin und her gerissen zwischen entweder und oder ließ ich mich langsam auf das flaschengrüne Sitzmöbel nieder. Ich saß noch nicht ganz, stand aber schon lange nicht mehr, als ich feststellen musste, dass da schon jemand saß. Dieser zunächst flüchtige Eindruck brachte mich um mein Gleichgewicht und meine Orientierung. Ich kam ein wenig ins Trudeln bei dem Versuch nicht von der Couch zu fallen. So wurde ich ihrer Ansichtig, aus einer Perspektive, die weit unter ihrer Augenhöhe lag. Sie schaute mich also von oben herab an. Neben mir saß die Dame, die sich, wie mir vorhin aufgefallen war, von den anderen Besuchern dieses Möbelhauses so stolz unterschied. Sie gab nicht das geringste Zeichen des erschreckt- oder überrascht seins von sich. Sie saß da, mit geradem Rücken, beide Hände hielten die Handtasche fest, und schaute mir mit festem Blick in die Augen.
„Und was war das jetzt? Ein Annäherungsversuch? Das war sehr plump mein Herr. Für einen Überfall ist es hier zu voll. Oder können Sie einfach nicht aufpassen?“
Ich versuchte es mit einer Entschuldigung: „Entschuldigen Sie. Nein, nein. Ich wollte sie nicht..., ich meine, ich wollte Ihnen nicht zu nahe..., nein-, auf keinen Fall wollte ich..., hören Sie, mir ist nur kurzzeitig etwas schwindelig geworden. Ich habe nicht...“ Aber meine Worte schienen sie nicht zu erreichen. Sie ließ sich nicht unterbrechen.
„Wenn Sie jetzt bitte wieder aufstehen würden. Es gibt hier genügend andere Sitzecken. Sie können ja gleich...“
Sie unterbrach sich selbst, in ihren Augen hatte sich etwas verändert. In ihrem Blick lag jetzt eine Frage die sie mit einiger Verzögerung dann auch aussprach:
„Didi? Didi, bist du das?“
Jetzt schaute ich sie an und mit einem Mal wusste ich, was ich hätte viel eher hätte wissen müssen. Aber jetzt, da sie meinen Spitznamen aus einem ganz speziellen Abschnitt meiner persönlichen Geschichte benutzt hatte, jetzt erkannte ich ihre Stimme wieder, jetzt erkannte ich die Züge ihres Gesichtes wieder, in dem nach all den Jahren die Falten etwas tiefer geworden, einige neue hinzugekommen waren, einige Rundungen nicht mehr ganz so rund waren. Als sie lächelte, erkannte ich auch die Grübchen wieder.
„Marie-Luise! Mein Gott! Marie-Luise. Ich werd’ bekloppt. Kann das denn wahr sein?“
Luise war eine bedeutende Figur aus meinem Leben. Sie hatte lange eine Rolle gespielt, wenn auch nicht die Rolle, die ich ihr für sie und mich gewünscht hatte. Bei all der Vertrautheit und Tiefe der Zuneigung die manchmal für Minuten zwischen uns geherrscht hatte, hatte immer etwas zwischen uns gestanden, hatte sie unerreichbar für mich gemacht. Und dann, irgendwann, hatten wir uns aus den Augen verloren.
Schweigend sahen wir uns an und ich verfolgte wie ihre Augen mit unruhigen Bewegungen mein Gesicht abtasteten. Und zwischenzeitlich erfasste sie mich von meinen braunen alten Schuhen bis zu meinem lichter gewordenen Haar. Ich entdeckte sie in ihren Zügen, unter ihrer neuen Frisur, die Haare waren kürzer, gelockt und leicht getönt, auch immer deutlicher wieder und schnell entstand das Gesicht einer uralten Vertrautheit.
Sie lächelte mich an: „Nee, der Didi. Ganz der Alte. Du hast dich gar nicht verändert.“ Sie schien übersehen zu haben, dass die Haare, die mir noch geblieben waren kürzer und zum Teil schon Grau waren und, wie soll ich sagen, ich ein wenig fülliger geworden war. Aber ich wollte ihr nicht widersprechen, wollte und konnte eigentlich nichts sagen. Meine Freude und mein Erstaunen brauchten Raum und brauchten Zeit.
Sie schien ihre Rückenmuskulatur entspannt zu haben und wirkte lockerer, ihre Handtasche lag mittlerweile auch lockerer auf ihrem Schoß.
„Du hast es bestimmt gleich gemerkt. Für mich hat sich seit damals viel verändert. Dass heißt, ich habe mich geändert oder besser gesagt, ich bin eine andere geworden.“
Ihre Augen bewegten sich nervös hin und her. Mal sah sie mich an, mal schien sich ihr Blick in der Tiefe der Halle zu verlieren.
Ich nahm mir Zeit darauf zu antworten, betrachtete sie und suchte nach Veränderungen. Die andere Frisur hatte ich schon wahrgenommen. Ihr Kostüm sah teuer aus, vielleicht italienisch, Ferutschi oder Belutschi. Ich habe keine Ahnung. Es war aber, wie man so sagt, Chic. Die Absätze ihrer Schuhe waren höher als früher und sie war älter geworden, natürlich.
Ich lehnte mich zurück und schüttelte den Kopf. „Nein, du bist nicht anders geworden. Du warst schon immer so. Du hast wohl nur das erreicht, was du dir damals schon vorgenommen hast.“
Auf ihrer Stirn bildeten sich zwei senkrechte Falten, aber sie widersprach nicht wirklich sondern nahm das auf was ich ihr gesagt hatte.
„Du bist mir schon so ein Klugscheißer. Vielleicht hast du recht. Aber glaube mir, es war gar nicht so einfach wie es aussieht, das alles zu erreichen. Das hat mich richtig viel gekostet."
Ihr Strahlen erlosch mit einem mal. Ihre Miene verfinsterte sich, ich sah Blitze in der Tiefe ihrer dunklen Augen, so dass ich ein Gewitter erwartend unwillkürlich zusammenzuckte als sie zu sprechen begann.
„Ihr habt euch nie Gedanken gemacht, was aus euch wird. Karriere war für euch etwas, was bestraft werden musste, etwas, was unmenschlich war. Gegen alles habt ihr protestiert und demonstriert. Selbst habt ihr nie etwas richtig auf die Beine gestellt. Ihr ward ja immer dagegen. Immer auf der Stelle treten, nie nach vorne schauen. Das ist doch nicht normal.“
Ich hatte keine Ahnung, warum Marie-Luise mit einem mal so aufgebracht war. Ich wusste aber auch nicht, warum ich plötzlich so wütend wurde. Das alles lag doch schon mehr als 20 Jahre zurück. Ich hatte erfasst was sie meinte. Tatsächlich war Normalität für mich das Wort, was am schwierigsten zu deuten war. Ich, das heißt wir, wollten mit unserer Kleidung sichtbar machen, das wir anders waren, mit unserem Verhalten, dem nicht einhalten der Normen rebellieren und provozieren. Wir wollten einfach alles anders machen, frei sein. Dazu gehörte es gegen die zu sein, die die alten Regeln vertraten und die diese Regeln aufrecht erhalten wollten. Aber diese Einsicht erklärte nicht, was das Ganze mit Marie-Luise zu tun hat und was sie so wütend machte. Ich wusste auch nicht, ob meine jetzige Wut eine alte oder eine neue Wut war?
„Wenn du Probleme mit deiner Karriere hattest, ist das ja wohl dein Problem. Da habe ich wohl kaum was mit zu tun. Und außerdem weiß ich gar nicht, warum du so auf mich los gehst. Und du solltest es wissen: Wenn hier jemand etwas nach vorn gebracht hat, waren wir das wohl. Wo währen wir denn heute ohne unsere Demonstrationen und Proteste. Wir sind raus auf die Strasse, während ihre euch im Zappelpalast vergnügt habt. Da tobt der Krieg, aber nein, der Kongress tanzt Discofox!“
„Na klar!“ Marie-Luise sprang auf, drehte sich auf der Stelle, eine Hand in der Hüfte, den anderen Arm schwang sie über den Kopf, als würde sie ein Lasso wirbeln.
„Natürlich waren wir in der Disco. Wann immer es ging. Wir waren jung. Wir wollten Spaß.“
Ich bewunderte ihr Kostüm, das ihr gut stand, war begeistert von ihren Bewegungen und im Stillen gab ich mir gegenüber zu, dass wir auch immer unseren Spaß gesucht hatten.
Marie-Luise blieb stehen, stemmte beide Hände in die Hüfte und stellte ihren Kopf ein wenig schräg, wie es meine Mutter getan hatte, wenn sie mit mir schimpfte.
„Wir haben nämlich gerne getanzt. Zu eurer Musik konnte man ja gar nicht tanzen. Die war nur laut, heftig und unharmonisch!“
Ich war aufgestanden und hatte mich vor sie gestellt.
„Auch wenn du es dir nicht vorstellen kannst, wir haben getanzt und zwar zu unserer Musik.“
„Na, ja!“ sie zog die Schultern hoch, „wenn man das Schütteln des Kopfes und diese Verrenkungen Tanzen nennen kann, dann habt ihr wohl getanzt, wenn man auch nicht erkennen konnte, wer da mit wem tanzt.“
Stimmt,“ sagte ich , „mit eurem Gleichschritt-Foxtrott, ein links, ein rechts und fallen lassen hatte das nichts zu tun. Wir haben uns sogar alleine auf die Tanzfläche getraut. Wir waren nämlich frei von diesen gesellschaftlichen Zwängen und nicht so angepasst wie ihr.“
Jetzt fiel es mir auf. Da war es wieder dieses Ihr und Wir. Es war ein starkes Wir. Es war dieses Wir das uns damals zusammengeschweißt hatte. Dieses Wir hieß einfach: Ich gehöre dazu. Dieses Wir war Orientierung, war Entscheidung. Diese Wir war aber auch ein Sog, dem man sich nicht entziehen konnte, war manchmal schon ein vorgedachter Gedanke, der Allgemeingut wurde.
Sie sah mir eine Minute lang direkt in die Augen. Ich sah immer noch dunkle Wolken und Blitze in ihrem Blick. Immer noch sprüten Funken und ihr Ton war immer noch scharf.
„Da wirst du sicherlich erstaunt sein, dass wir uns gar nicht gezwungen fühlten. Es machte uns viel Spaß etwas gemeinsam zu tun und Tanzen ist nun einmal eine tolle Sache sich auf den Partner einzulassen. Und schöne Kleidung und edle Klamotten machen auch Spaß. Es ist ein tolles Gefühl, wenn dir andere nachschauen. Es ist ein tolles Gefühl begehrt zu sein.“ Ich setzte diesen Satz im Stillen für mich fort: „...und es ist gar nicht toll immer nur zu begehren.“
Ich schaute sie an in ihrem gutaussehenden Kostüm und merkte, wie ich ihr wieder, wie ich ihr immer noch gefallen wollte. Mit einem Mal fühlte ich mich in meinem grauen T-Shirt, meiner Jeans und meinen Turnschuhen so hässlich, so klein, so farblos, unbedeutend und unattraktiv. Ich mochte sie immer noch und wollte gar nicht mit ihr streiten, aber sie war noch nicht fertig.
„Du und deine Haschpapis! Immer habt ihr alles besser gewusst. Ihr ward doch die reinsten Schwarzseher. Eure Welt war doch so was von grau.“
Ich hatte die Friedenspfeife schon gestopft, um sie mit ihr zu rauchen aber ihre letzte Bemerkung brachte mich wieder in Rage.
„Was sind wir? Besserwisser? Schwarzseher? Haschpappis? Habe ich deine Freundinnen etwa als Biermamis bezeichnet? Und was weißt du schon von Haschisch? Wer war den damals in Südafrika und hat behauptet Apartheid hätte es nicht mehr gegeben? Das warst du! Und wer hat seinen Rausch ausgeschlafen, als es darum ging an Info-Ständen gegen Faschisten und Atomkraftwerke zu stehen? Das warst du und deine Biermamis.“
Ich war also schnell wieder auf Hundertachtzig und wenn ich schon mal dabei war, konnte ich auch noch loswerden, was ich schon lange sagen wollte:
„Und von wegen guter Geschmack und so. Wenn ich da nur an diesen schwarzhaarigen Lacckaffen mit der Pomade in den Haaren denke, du weißt schon, der mit der schwarzen Satinhose und dem Rüschenhemd, mit dem du immer rumgelaufen bist. Da frag ich mich doch wirklich, wo hier der gute Geschmack geblieben ist.“
Angespornt durch meine Heftigkeit schoss sie zurück und entfernt nahm ich wahr, das die anderen Besuche des Möbelhauses mehr Interesse für uns, als für die Möbel aufbrachten.
„Ach ja?“ Sie schien richtig sauer.
„Und was ist mit der kleinen Blonden mit dieser Rasta-Fari-Frisur in den Klamotten, die aussahen wie Sack mit Asche, die immer da auftauchte, wo du auch warst? Und ausserdem, mit dem Werner war ich nie zusammen.“
Und dann, war plötzlich die Luft raus.
Wir sahen uns beide an und stellten fest, dass wir mitten in den Polstermöbeln standen und die Kundschaft sich sehr darüber amüsierte, wie wir uns anschrieen. Wir lächelten beide kurz, dann nahm Marie-Luise ihre Handtasche unter den Arm, wandte sich von mir ab und ging gemächlich in Richtung Hauptgang.
Ich folgte ihr.
Sanft glitt meine Hand über die samtartigen Bezüge der Polstermöbel, die am Rand des Ganges aufgestellt waren, während wir gingen und schwiegen.
Ich räuspere mich. Sie schreitet weiter, die Handtasche unter dem Arm, die Hände vor dem Bauch zusammengelegt.
Das äußerste was ich jetzt sagen konnte war: „Weißt du eigentlich, wie sehr ich mich freue dich nach all den Jahren wieder zu sehen.“
Sie schaut mich an, lächelt und wandte sich gleich einem Küchenschrank zu, öffnete die Tür und fragte: „Der ist doch schön, nicht wahr?“
Gleich fühlte ich mich an früher erinnert. Wir trafen uns, unterhielten uns, stritten uns, schrieen uns an. Dann kehrte Ruhe und Friede ein. Wir gingen ein Stück zusammen und kurz bevor wir uns in den Arm nahmen, trennten sich unsere Wege wieder. Auf den 300m zwischen ihrer und meiner Stammkneipe gab es eine Kirche, an der wir uns häufig begegneten. Wenn wir alleine waren, ohne unsere Clique, nicht im Tross von Freunden und Bekannten, begrüßten wir uns, sprachen miteinander, setzten uns manchmal auf die Kirchentreppe und redeten über alles, was uns in den Sinn kam. Reden, streiten, schreien, Friede, gehen, trennen. Wenn wir aber im Pulk unserer Szene einander begegneten, taten wir, als würden wir uns nicht kennen, gingen einfach, oftmals laut redend, aneinander vorbei. Bisweilen drehte ich mich um um zu sehen, wie sie sich umdrehte.
Ein Lächeln musste über mein Gesicht gehuscht sein. Sie blieb vor mir stehen, sah mich an und fragte mit einem eigenen Lächeln: „Warum grinst du?“
Ich zuckte mit den Schultern und sie tat dann etwas, was sie früher nie getan hatte. Sie hakte sich bei mir ein.
„Sag mal Didi, kannst du dich noch an unser Klassentreffen erinnern?“
Ich konnte mich gut daran erinnern, und es war eine der lebendigsten Erinnerungen, die ich an unser Zusammensein hatte.
„Oh, ja, Marie-Luise, das kann ich sehr gut. Du hattest Glück im Spiel. Beim Türmchentrinken hast du immer gewonnen und musstest ein Schnaps nach dem anderen Likör trinken und am Ende eine Zigarre rauchen. Wenn ich mich recht entsinne, ging es dir bald ziemlich dreckig."
„Und wie. Ich weiß noch gut, wie dreckig es mir ging. Ich weiß auch noch, dass du der einzige warst, der sich um mich gekümmert hat. Du hast mich gehalten. Ich durfte meinen Kopf auf deinen Schoß legen. Und ich habe dir kurz darauf die Hose vollgekotzt.“
„Ja. Stimmt genau. Und von deinen Freunden und Freundinnen ist keiner geblieben.“
„Didi?“
„Ja?“
„Das fand ich damals ganz toll von dir.“
Während wir durch die Lampenabteilung schlichen schwiegen wir, d.h. wir machten uns unsere verworrenen Gedanken, jeder für sich.
„Sag mal Didi,“ fragte sie dann, „haben wir uns wirklich nicht verändert?“
Einen Augenblick dachte ich nach und strich mir mit der Hand durchs Haar.
„Wenn du mich so fragst, hm.
Ich glaube eigentlich nicht. Wir waren wie wir sind. Haben uns damals auf unterschiedliche Wege gemacht und es war die Zeit, ... die Zeit hat dann alles festgeklopft und wir sind auf unseren Wegen geblieben.“
Gerne hätte ich noch gesagt: „Und ich bin immer noch ein wenig verliebt in dich.“ Aber ich ließ es. Die Verabschiedung auf dem Parkplatz fiel kurz aus und ich hatte den Eindruck ihre kurze Umarmung, ihr kurzer Kuss auf meine Wange, ihre schnellen, kurzen tippelnden Schritte zum Auto hatten etwas panikartiges.
Während ich ihr nachsah, wie sie in ihrem kleinen roten Flitzer die Strasse befuhr und auf der anderen Seite der Kreuzung verschwand, bedauerte ich, dass wir nicht wenigstens unsere Telefonnummern ausgetauscht hatten. Wir hätten uns hier in diesem Möbelhaus der Veränderungen verabreden können, und ich hätte die einfarbige, flaschengrüne Eckgarnitur wirklich gekauft, weil ich wusste, wir würden uns nie wieder alleine zwischen den Kneipen treffen, nie mehr auf der Kirchentreppe sitzen um miteinander zu reden. Und das war schade, weil ich seit wenigen Minuten wusste, das ich gar nicht hätte anders sein müssen. Ich hätte nur eine andere Verpackung gebraucht.

Benutzeravatar
Lisa
Beiträge: 13944
Registriert: 29.06.2005
Geschlecht:

Beitragvon Lisa » 10.04.2006, 11:02

Hallo Ulrich,
nun habe ich es endlich geschafft, deine lange aber sehr gelungene Geschichte zu lesen...ich finde sie serh lebendig, serh lebensnah, auch fühlt man sich gut in die beiden Figuren ein. Einzig warum denn nun die Marie-Louise im Ikea ist, ist mir nicht klar :grin:

Gerne gelesen und ich habe gar keine Verbesserungsvorschläge. Die Geshichgte gehört so wie sie ist :grin:


Wer ist online?

Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 11 Gäste