Vergewisserung

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Max

Beitragvon Max » 27.01.2009, 20:40

Der Text sollte eigentlich schon ins letzte Monatsthema, ich habe es aber nicht geschafft ;-)

Vergewisserung


Prolog

Wenn die Oma über den Großvater sagte, dass er tot sei, so hieß dies, dass man nicht mit ihm spielen konnte, dass er überhaupt nicht da war, dass man aber stattdessen jeden Sonntag auf dem Friedhof sein Grab besuchte und dort Blumen goss. Das schmerzte nicht, denn der Großvater war noch nie da gewesen und so lange der Junge denken konnte, ging die Oma am Sonntag zum Grab. Manchmal begleitete der Junge sie. Dann holte er in einer schweren Blechkanne Wasser aus einem alten Brunnen und buchstabierte den Namen und die Daten des Großvaters. Der Junge fand den Stern vor dem Geburtsdatum immer ein wenig schöner als das Kreuz vor dem Todestag und er wunderte sich, dass jemand so kurz nach seinem Geburtstag sterben konnte. Der Name sah auf dem schwarzen Granit fremd aus und war doch vertraut, denn sein Großvater hatte geheißen wie er.



Angaben zur Person


Name: Max
Geburtstag: Neun Monate nach dem Tod des Großvaters
Vater: Heinz, Kaufmann
Mutter: Franziska, Industriekauffrau, gestorben
Geschwister: ein Bruder



Interview I


Was ist für Sie das vollkommene irdische Glück?

Damals hatten die Dinge ihren Platz und ihre Zeit: Der Porzellanbecher mit dem Bild eines Maronenverkäufers stand im Küchenregal. Meist enthielt er kalten, schwarzen Kaffee, von dem die Mutter wusste, dass er schön macht (und die Haare der Mutter waren kaffeeschwarz). Der Mittagsschlaf der Mutter endete um drei Uhr (beim Versuch, der Mutter rechtzeitig Bescheid zu geben, hatte der Junge gelernt, die Uhr zu lesen) und am Freitagabend wurde gebadet. Anschließend saßen die Kinder in ihren Bademänteln am Esstisch. Es gab Müsli mit warmer Milch, auf der die Butterflöckchen beim Schmelzen gelbe Ränder hinterließen.


Wer oder was hätten Sie gern sein mögen?

Es war die Zeit, als der Junge ein Prinz war. Ein Schwarzweißfoto zeigt ihn im samtenen Anzug mit einer Krone aus Goldpapier. Mit einem Schwert in der Hand steht er neben Aschenputtel, die eigentlich Dagmar hieß und später eine Schönheit wurde. Der Junge wunderte sich nicht. Er lernte seinen Text, jeden Mittag fragte der Vater ihn ab. Die nächste Seite des Albums zeigt ein frisches Grab.



Entwurf


Es ließe sich eine Figur entwerfen. Ein Junge. Der Junge lebt in der Illusion des vollkommenen Glücks, das von kurzen Phasen des Unglücks durchbrochen wird. Dieses Unglück trifft ihn zum ersten Mal in seinem siebten Lebensjahr. In einer Operation werden ihm die Mandeln entfernt. Aufgrund einer anschließenden Infektion bekommt er (als einziges der Kinder im Krankensaal) weder Eis noch Kakao. Im selben Jahr bricht er sich den Arm, als er versucht, von einer Bank an eine Schaukelstange zu springen. Wieder ist er im Krankenhaus.
Und noch ein dritter Krankenhausbesuch in diesem Jahr ließe sich denken: Ich stelle mir den Tag vor, als die Mutter dem Jungen sagt, dass sie vielleicht nicht zu seiner Aufführung kommen könne. Die Mutter liegt in einem weißen Bett, mit weißen Laken in einem weißen Raum. Auf dem weißen Nachttisch steht eine Obstschale, aus der sie den Kindern Äpfel gibt. Vier Tage zuvor hat der Junge nachts Stimmen im Flur gehört. Am nächsten Morgen sagt der Vater, die Mutter sei im Krankenhaus. Die Mutter habe einen Nierenstein und das sei sehr schmerzhaft. Nun, im Krankenhaus, scheint die Mutter keine Schmerzen zu haben. Sie lacht, wie sie so oft lacht (eigentlich sieht der Junge sie nur einmal weinen, als sie die Wasserleitung nicht reparieren können und der Vater mit ihr schimpft). Auch vor der Operation am folgenden Dienstag scheint sie keine Angst zu haben. Also fürchtet sich auch der Junge nicht. Er ist nun bald ein großer Junge, im Sommer soll er eingeschult werden.
Die Mutter begleitet den Vater und die Kinder noch bis zur Tür des Krankenhauses. Ihr Bademantel leuchtet himbeerfarben in den weißen Krankenhausfluren. Dort, vor der Tür, sagt sie es dann. Viel später wird der Junge wissen, wie wichtig es ihr in diesem Moment ist: „Zu der Aufführung kann ich vielleicht nicht kommen, vielleicht bin ich da noch krank. Aber wenn Du eingeschult wirst, bin ich schon längst wieder bei Euch.“



Intermezzo

Da capo

Im Erinnern
verjüngt sich zwischen den Schalen
die Perle zum Sandkorn

Neu belebt
entzündet sich das Leid

Und wächst doch
wieder zur Perle

die durchschmerzt
matt glänzt








Interview II

Was war für Sie das größte Unglück?

Vier Tage später ist die Mutter tot. Der Vater kommt mitten in der Nacht nach Hause und weckt den Jungen im oberen Stock eines Etagenbettes. Den jüngeren Bruder lässt er schlafen.
„Mama ist tot!“, sagt er. Dann weint er. Der Junge liegt in seinen Armen und weint auch. Mama ist weg. Wie der blau-weiß-rot gestreifte Wasserball, der im Herbst in die Ostsee gefallen und abgetrieben ist. Auch den hat er trotz aller gegenteiligen Beteuerungen der Eltern nicht wiedergesehen.
In manchen Momenten flackert ein Gedanke auf: „Sie ist nicht tot!“ Dann weiß der Junge, dass sich die Eltern haben scheiden lassen, wie die von Fiete im letzten Jahr. Auch sie hatten sich davor gestritten, wie seine Eltern, als die Wasserleitung kaputt war. Und auch Fiete und ihre Mutter hatte er danach nie wieder gesehen. Vielleicht hatte der Vater der Mutter verboten nach Hause zu kommen und sie war jetzt wie Fiete und ihre Mutter in Hannover.
Dann weint der Junge wieder und denkt dabei an den Wasserball. Als das erste Tageslicht durch die Schlitze der Jalousien fällt, schläft er im Bett seines Vaters ein.


Scham – Erzählung I

Am Morgen beschloss der Vater, dass der Junge an diesem Tag nicht in den Kindergarten gehen solle. Der Junge erzählte es seinem Freund Olaf. Als er berichtete, dass seine Mutter gestorben war, fühlte er Stolz in sich aufsteigen, als sei er nun jemand Besonderes, und schämte sich dieses Stolzes später.


Stolz – Erzählung II


In den folgenden Tagen trafen Verwandte ein. Die Großeltern und der Onkel aus der Nachbarstadt, Onkel und Tanten aus der Ferne. Ihre Augen waren rot, wenn sie eintrafen und rot, wenn sie wieder fuhren. Viele sah der Junge weinen. Sogar die Großtante, die sonst von allem ungerührt schien. Der Junge weinte nicht, nicht mehr seit jener Nacht. Er dachte, er müsse tapfer sein, und war auch darauf stolz.


Definition

Zweifel (von ahd. "zwîval" aus germanisch "twîfla" ['doppelt', 'gespalten', 'zweifach', 'zwiefältig']) bezeichnet eine Unsicherheit, Ungewissheit gegenüber einem (möglichen) Sachverhalt, einer Behauptung und dem entsprechenden Tun und Verhalten, ebenso einen mangelnden Glauben oder ein inneres Schwanken. ‒ Wissenschaftlich versteht man unter Z. das methodische Infragestellen zur Begründung sicherer Erkenntnis und auch die Erkenntnisunsicherheit oder prinzipielle, allgemeine Leugnung von Erkenntnismöglichkeit.


Beispiel

Mehrfach ging der Vater mit den Verwandten in eine Kapelle, wo die Mutter aufgebahrt war. Der Junge wusste nicht, was ‚aufgebahrt‘ bedeutete, aber er hätte die Mutter gerne gesehen. Niemand nahm ihn mit. In dem Jungen aber entstand eine leere Stelle.
Auch als die Mutter beerdigt wurde, blieb der Junge zu Hause. Während die Erwachsenen auf dem Friedhof waren, dachte er an seine Mutter, die nun von seinem Vater geschieden war und wahrscheinlich in Hannover wohnte.
Am nächsten Tag durfte auch der Junge das frische Grab sehen. Es sah anders aus als das Grab des Großvaters: ein Erdhügel überhäuft mit Kränzen und Blumen. Der Junge machte ein Foto.


Interview III

Sind es die kleinen Dinge, an denen wir merken, dass sich die Welt ändert, oder bleiben diese gerade gleich?


Einiges ging auch danach weiter wie bisher. Der Junge spielte den Prinzen und er wurde im Sommer eingeschult. Auf dem Küchenregal stand der Becher mit dem Bild eines Maronenverkäufers (bis er eines Tages abgeschlagen war und später zerbrach) und auch weiterhin wurde freitags gebadet. Auf dem Müsli danach fehlten die Butterflöckchen.


Statt eines Schlusses (Definition und Beispiel II)

Klaustrophobie [zu lateinisch claustrum »Schloss«, »Gewahrsam« und griechisch phobós »Furcht«] die, -/...'bi|en, Claustrophobie, Raumangst, (neurotische) Angst vor dem Aufenthalt in geschlossenen Räumen.

Der Junge war mit seinem Vater in einem Hotel. Am Abend ging der Vater in die Hotelbar. (Heute ahnt der Junge, dass er hoffte, eine Frau zu treffen). Er schloss die Zimmertür ab. Als er zurückkehrte, hörte er schon von weitem die panischen Schreie des Jungen. An den Folgeabenden ließ der Vater die Tür unverschlossen, wenn er an die Bar ging. Der Junge blieb ruhig.


Epilog I

Im darauf folgenden Jahr war der Junge mit seinem Vater in Urlaub (der Junge aß zum ersten Mal ein halbes Hähnchen, verbrannte sich die Füße im heißen Sand und sah einen Marienkäferschwarm). Sein Vater lernte eine Frau kennen. Sie hieß Fräulein Ingrid und kam aus der DDR. Als er sie eines Abends zum Essen ausführte, war ihr Hotel bei der Rückkehr verschlossen. Der Vater nahm sie mit auf sein Zimmer. Als der Junge am Morgen erwachte, saß der Vater schon im Bett. Neben ihm lag die Frau.
„Schau mal, wer hier ist!“, sagte der Vater.
„Mama!“, dachte der Junge heiß.



Epilog II

Gut zwanzig Jahre später interessierte sich der Junge für Philosophie. Er liebte Descartes und Kant. Hume und Popper waren ihm suspekt, später bewunderte er auch die.
Einmal erwachte der Junge in einem fremden Haus. Er wusste, dass er von seiner Mutter geträumt hatte. Sein Kopfkissen war feucht. Er dachte an eine Nacht vor Jahren.




Epilog III

Jahrestag

Vor drei Jahren oder fünf
(nein, es sind tatsächlich schon sieben)
brach Dein Grab ein

Die Gärtner sagten
der Sargdeckel sei durchgefault
füllten das Loch
und erneuerten den weißen Kies

Ich pflanzte Heide

Nebenan
war ein frischer Hügel

Dreißig Jahre, dachte ich
Und:
Vielleicht bist Du damals wirklich gestorben




Letzter Satz im ersten Absatz auf Hinweise von Sam und Mucki geändert, danke!!
Einige Kommata und ein h aufgrund vin hinweisen von fedi eingefügt, auch danke .. außedem habe ich genau 3x was geändert, da ich aber immer wieder auf 'speichern' gedrückt habe, sieht es aus, als habe ich 14 mal was geändert .. auch danke ;-)
Zuletzt geändert von Max am 02.02.2009, 19:57, insgesamt 14-mal geändert.

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Beitragvon leonie » 27.01.2009, 20:53

Lieber Max,

ich bin sprachlos. Du hast es so geschrieben, dass ich das Gefühle habe, ich bin in dem dem kleinen Jungen drin und spüre das Chaos in ihm.

Die Interviewfragen, die Definitionen, die Zwischentexte - der Schluss: ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es fällt mir schwer, bei einem Text mit dieser Thematik "toll" zu schreiben, denk Dir das dem Text angemessene Wort dafür an dieser Stelle, mir fällt es nicht ein....


Liebe Grüße

leonie

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 27.01.2009, 22:27

Hallo Max,

das ist ein ganz wunderbar stimmiger, besonderer Text, der sich so erstaunlich echt anfühlt, in dem die einzelnen Abschnitte füreinander da sind, sich verweben und nicht nur hintereinander stehen... *wow... ich bin auch sprachlos. (Über das "da capo" denke ich noch nach. ;-) )

liebe Grüße
smile

Max

Beitragvon Max » 27.01.2009, 22:27

Liebe Leonie,

ich bin sehr glücklich, dass etwas von diesem Text bei Dir ankommt. Es ist ja so eine Sache mit solchen Texten ...

Liebe Grüße
Max

Max

Beitragvon Max » 27.01.2009, 22:28

Liebe Smile,

oh, das war zeitgleich. natürlich gilt für Dich das gleiuche wie für Leonie :-). Ja, ich gebe zu, dass ich u.a bei 'da capo' einen Text recyled habe .. aber er ist für mich hire doch eine eigene Stimme.

Liebe Grüße
Max

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Ylvi
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Beitragvon Ylvi » 27.01.2009, 22:46

Hallo Max,

Ja, ich gebe zu, dass ich u.a bei 'da capo' einen Text recyled habe .. aber er ist für mich hire doch eine eigene Stimme.

*Lach, so hatte ich das nicht gemeint. Ich denke tatsächlich noch über das Gedicht (und seine Entwicklung) nach und darüber, ob sich meine Gedanken dazu durch diesen Kontext in den du es nun gestellt hast verändern. Spannend.

liebe Grüße
smile

Mucki
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Beitragvon Mucki » 28.01.2009, 00:38

Hi Max,

ausgesprochen gekonnt hast du hier sehr viele verschiedene Erzählstile miteinander so verwoben, dass die Gesamtkomposition wirklich gelungen ist. Auch deine beiden Gedichte "Da capo" und "Jahrestag" fügen sich so gut ein, dass man denkt, sie hätten die ganze Zeit auf diesen Rahmen, diese Geschichte, gewartet.
Ich habe das sehr gern gelesen und bin mit dem Jungen richtig mitgegangen.

Anerkennende Grüße
Mucki

Sam

Beitragvon Sam » 28.01.2009, 14:45

Hallo Max,

zunächst dies:

Es macht unheimlich viel Spaß, sich mit deinem Text zu beschäftigen. Das obligatorische "gern gelesen" versteht sich da von selbst. Aber es geht darüber hinaus. Die Freude am Text entsteht nicht nur durch das, was du erzählst, sondern vor allem wie. Und damit meine ich in erster Linie die Komposition des Textes. In den erzählerischen Passagen gibt es noch den ein oder anderen Stolperstein, aber dazu später noch etwas.

Das Auffälligste an deinem Text ist ja weniger der Inhalt (Geschichten über Kinder, deren Mütter oder Väter gestorben sind gibt es ja zu Hauf), als die Art, wie du hier die Verlustsituation darstellst. Eine solch auffällige Form muss sich natürlich im Text rechtfertigen. Ich habe mal ein Zitat gelesen (leider finde ich es im Moment nicht wieder - es war, glaube ich von einem unserere geschätzten deutschen Romantiker), das sinngemäß besagt, dass die Form eines Textes von seinem Inhalt getragen werden muss. Ansonsten verbleibt vom Text selber nichts, als eben diese Form. Ist die Form gewichtiger, als der darin verarbeitete Inhalt, entsteht ein hohles Gebilde. Eine Fassade, von der sich der aufmerksame Leser nicht lange täuschen lassen wird.

Bei der Gestaltung deines Textes handelt es sich aber nicht um eine Fassade. Im Gegenteil, sie bildet ein solides Gerüst, auf das du deinen Text aufgebaut hast.
Es geht um Vergewisserung. Die Mutter ist gestorben, aber der Junge kann es sich nicht wirklich vorstellen. Der Tod ist etwas, dass er zwar kennt, aber nicht aus dem direkten Erleben, sondern nur aus der Tatsache heraus, dass ein Mensch einfach nicht da ist - noch nie da war, so wie der Großvater. Plötzliches Verschwinden oder aus dem Leben treten ist ihm nur aus dem Freundeskreis bekannt, und da war niemand gestorben, sondern einfach nur weggegangen.
Das Problematische an diesem Unvermögen den Tod zu realisieren ist das ständige Erwarten der Wiederkehr. Gezeigt in der Hotelszene, durch einen der stärksten Sätze:

„Mama!“, dachte der Junge heiß.


Er kann die Mutter nicht loslassen, selbst Jahre später träumt er noch von ihr. Dann aber die Beschäftigung mit den Philosophen, die ja auch immer eine kritische Auseinandersetzung mit sich selbst beinhalted. Und der Frage: Was weiß ich und woher kann ich wissen, dass ich es weiß?
In diesem Zusammenhang, so zeigt es das abschließende Gedicht, wird das Grab für den Jungen plötzlich etwas Realisierbares. Metaphysisches wird zum Physischem - der Glaube, die Mutter sei vielleicht doch nicht gestorben, wandelt sich zu Erkenntnis, dass es doch wohl so gewesen ist. Das ist aber nicht eine plötzliche Erleuchtung, sondern das Endergebniss eines Prozesses, der aus Erinnerungen, Selbstbefragungen, Gefühlsaufwallungen und rationellem Denken besteht. Ein in sich selbst zerissener Vorgang also, der hier durch die "Zersplitterung" des Textes hervorragend dargestellt ist.

Kritisch anmerken wollte ich nur den ersten Absatz. Hier scheint in der Beschreibung des Jungen ein Widerspruch zu sein. Wenn das Totsein des Großvaters für ihn nur war, dass er mit ihm nicht spielen konnte und auch letzendlich nicht schmerzte (wie auch, er kannte den Großvater ja nicht), warum dann der Schrecken vor der Namensgleichheit? Der kann doch nur daraus resultieren, dass der Junge schon zu diesem Zeitpunkt ein Gefühl hat für das "Nichtmehrexistieren", das auch ihm widerfahren könnte. Aber der ganze Text ist ja darauf angelegt, dass der Junge eben jenes "Nichtmehrexistieren" sich nicht vergegenwärtigen kann, im Gegensatz zum wesentlich einfacher zu begreifenden "Nichtexistieren". So denkt er ja gar nicht an den Großvater bei der Nachricht vom Tod seiner Mutter, sondern an jenen Wasserball, der einfach auf dem Wasser verschwunden war und der ja, wie die Eltern es bestätigt hatten, jederzeit wiederkehren könnte.

Aber davon abgesehen finden sich viele wunderbare Dinge in diesem Text. So zum Beispiel, wie er Junge erkennt, dass das aufgehäufte Grab seiner Mutter anders aussieht, wie das des Großvaters. Dieses Bild wird im Gedicht am Ende wiederholt, nur das es diesmal das Grab der Mutter ist, welches alt, und sich daneben ein frisches Grab befindet. Das sind gekonnte innertextliche Bezüge, die mich als Leser wirklich begeistern.
Gleiches trifft auf die Gegenüberstellung von Stolz und Scham zu. Das ist nicht nur nachvollziehbar, sondern durch dieses direkte Nebeneinander sehr einprägsam und treffend.

Und davon gibt es noch mehr...

Starker Text, lieber Max. Vielen Dank dafür!

Liebe Grüße

Sam

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 28.01.2009, 15:44

Lieber Max,

gerade habe ich die falsche Taste gedrückt und der zur Hälfte geschriebene Text war weg, ich versuche es noch einmal. Beide Hauptpunkte, die mir - neben allen lebndigen Details - gefallen, stecken im Titel. Den einen Aspekt der Vergewisserung hat Sam schon angesprochene - der (scheinbare) Vergewisserungsprozess, dass die Mutter tot ist. Was mir aber besonders gefällt an dem Text ist, dass du dich von so vielen verschiedenen Formen und damit Seiten annäherst (Interview, Gedicht, Definition, Roman etc.) - und damit auf das Problem reagierst, dass man ja immer, wenn man erinnert oder reflektieren will, erfindet - durch diese verschiedenen zusammenwirkenden Textgattungen in einem Text "überwindest" du dieses Erfinden gewissermaßen (auch wenn diese Überwindung immer Fragment/unabgeschlossen bleiben muss) und schaffst eine Annäherung - weil es eine stetige Beschäftigung mit der Erinnerung ist wodurch es sich eigentlich nicht mehr um Erinnertes sondern eben um Gegenwart handelt.

:hut0039:

liebe Grüße,
Lisa

Max

Beitragvon Max » 28.01.2009, 18:23

Liebe Mucki, lieber Sam,liebe Lisa,

nach einem Chaostag wie diesem kann ich Eure wohlmeinenden Kommentare wirklich gut gebrauchen - habt herzlichen Dank.

Mucki, ja, irgendwie fand ich auch, dass die Gedicht sich gut anpassen ... was mir gefällt.

Sam, über Deine Bemerkung zu Absatz eins muss ich noch einmal nachdenken. Ich sehe, dass Du da auf der logischen Ebene (und nicht nur da) einen Punkt hast. Es mag sein, dass Du mich dabei bei etwas erwischt hast .. außerdem hat ein anderer mir sehr wichtiger Leser (nicht Forumsmitglied) genau auch den ersten Absatz hinterfragt, ich schaue es mir noch einmal an.

Liebe Lisa, eigentlich habe ich das Fragmentarische ja als Form nie wirklich gemocht .. .nun verstreue ich selbst Bruchstrücke ;-)

Habt alle Dank für Eure genauen Kommentare und Euer aufmerksames Lesen
Max

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leonie
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Beitragvon leonie » 28.01.2009, 19:14

Lieber Max,

gerade als ich noch einmal las, fiel mir auf, dass es bei den Angeben zur Person "ein Bruder" heißen muß.

Liebe, noch immer beeindruckte Grüße

leonie

Max

Beitragvon Max » 28.01.2009, 20:04

Liebe Leonie,

oh das stimmt .. mit Grammatik habe ich es nicht so ;)

Liebe Grüße
Max

Mucki
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Beitragvon Mucki » 29.01.2009, 00:45

Hallo Max,

du könntest m.E. die kleine Unlogik in diesem Satz:

"Bei dem Namen aber überkam ihn jedes Mal ein Schauder, denn sein Großvater hatte geheißen wie er."

einfach beheben, indem du schreibst:

Bei dem Namen überkam ihn jedes Mal ein seltsames Gefühl, denn sein Großvater hatte geheißen wie er.


Also nur das "aber" raus und statt "Schauder": ein seltsames Gefühl. Ich finde, dass das dann durchaus in Ordnung ist.

Saludos
Mucki

Max

Beitragvon Max » 29.01.2009, 20:15

Liebe Mucki,

ja, das halte ich für eine sehr denkbare Variante. Ich überlege gerade noch (naja, wenn ich Zeit dazu habe).

Liebe Grüße
Max


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