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Vergewisserung
Prolog
Wenn die Oma über den Großvater sagte, dass er tot sei, so hieß dies, dass man nicht mit ihm spielen konnte, dass er überhaupt nicht da war, dass man aber stattdessen jeden Sonntag auf dem Friedhof sein Grab besuchte und dort Blumen goss. Das schmerzte nicht, denn der Großvater war noch nie da gewesen und so lange der Junge denken konnte, ging die Oma am Sonntag zum Grab. Manchmal begleitete der Junge sie. Dann holte er in einer schweren Blechkanne Wasser aus einem alten Brunnen und buchstabierte den Namen und die Daten des Großvaters. Der Junge fand den Stern vor dem Geburtsdatum immer ein wenig schöner als das Kreuz vor dem Todestag und er wunderte sich, dass jemand so kurz nach seinem Geburtstag sterben konnte. Der Name sah auf dem schwarzen Granit fremd aus und war doch vertraut, denn sein Großvater hatte geheißen wie er.
Angaben zur Person
Name: Max
Geburtstag: Neun Monate nach dem Tod des Großvaters
Vater: Heinz, Kaufmann
Mutter: Franziska, Industriekauffrau, gestorben
Geschwister: ein Bruder
Interview I
Was ist für Sie das vollkommene irdische Glück?
Damals hatten die Dinge ihren Platz und ihre Zeit: Der Porzellanbecher mit dem Bild eines Maronenverkäufers stand im Küchenregal. Meist enthielt er kalten, schwarzen Kaffee, von dem die Mutter wusste, dass er schön macht (und die Haare der Mutter waren kaffeeschwarz). Der Mittagsschlaf der Mutter endete um drei Uhr (beim Versuch, der Mutter rechtzeitig Bescheid zu geben, hatte der Junge gelernt, die Uhr zu lesen) und am Freitagabend wurde gebadet. Anschließend saßen die Kinder in ihren Bademänteln am Esstisch. Es gab Müsli mit warmer Milch, auf der die Butterflöckchen beim Schmelzen gelbe Ränder hinterließen.
Wer oder was hätten Sie gern sein mögen?
Es war die Zeit, als der Junge ein Prinz war. Ein Schwarzweißfoto zeigt ihn im samtenen Anzug mit einer Krone aus Goldpapier. Mit einem Schwert in der Hand steht er neben Aschenputtel, die eigentlich Dagmar hieß und später eine Schönheit wurde. Der Junge wunderte sich nicht. Er lernte seinen Text, jeden Mittag fragte der Vater ihn ab. Die nächste Seite des Albums zeigt ein frisches Grab.
Entwurf
Es ließe sich eine Figur entwerfen. Ein Junge. Der Junge lebt in der Illusion des vollkommenen Glücks, das von kurzen Phasen des Unglücks durchbrochen wird. Dieses Unglück trifft ihn zum ersten Mal in seinem siebten Lebensjahr. In einer Operation werden ihm die Mandeln entfernt. Aufgrund einer anschließenden Infektion bekommt er (als einziges der Kinder im Krankensaal) weder Eis noch Kakao. Im selben Jahr bricht er sich den Arm, als er versucht, von einer Bank an eine Schaukelstange zu springen. Wieder ist er im Krankenhaus.
Und noch ein dritter Krankenhausbesuch in diesem Jahr ließe sich denken: Ich stelle mir den Tag vor, als die Mutter dem Jungen sagt, dass sie vielleicht nicht zu seiner Aufführung kommen könne. Die Mutter liegt in einem weißen Bett, mit weißen Laken in einem weißen Raum. Auf dem weißen Nachttisch steht eine Obstschale, aus der sie den Kindern Äpfel gibt. Vier Tage zuvor hat der Junge nachts Stimmen im Flur gehört. Am nächsten Morgen sagt der Vater, die Mutter sei im Krankenhaus. Die Mutter habe einen Nierenstein und das sei sehr schmerzhaft. Nun, im Krankenhaus, scheint die Mutter keine Schmerzen zu haben. Sie lacht, wie sie so oft lacht (eigentlich sieht der Junge sie nur einmal weinen, als sie die Wasserleitung nicht reparieren können und der Vater mit ihr schimpft). Auch vor der Operation am folgenden Dienstag scheint sie keine Angst zu haben. Also fürchtet sich auch der Junge nicht. Er ist nun bald ein großer Junge, im Sommer soll er eingeschult werden.
Die Mutter begleitet den Vater und die Kinder noch bis zur Tür des Krankenhauses. Ihr Bademantel leuchtet himbeerfarben in den weißen Krankenhausfluren. Dort, vor der Tür, sagt sie es dann. Viel später wird der Junge wissen, wie wichtig es ihr in diesem Moment ist: „Zu der Aufführung kann ich vielleicht nicht kommen, vielleicht bin ich da noch krank. Aber wenn Du eingeschult wirst, bin ich schon längst wieder bei Euch.“
Intermezzo
Da capo
Im Erinnern
verjüngt sich zwischen den Schalen
die Perle zum Sandkorn
Neu belebt
entzündet sich das Leid
Und wächst doch
wieder zur Perle
die durchschmerzt
matt glänzt
Interview II
Was war für Sie das größte Unglück?
Vier Tage später ist die Mutter tot. Der Vater kommt mitten in der Nacht nach Hause und weckt den Jungen im oberen Stock eines Etagenbettes. Den jüngeren Bruder lässt er schlafen.
„Mama ist tot!“, sagt er. Dann weint er. Der Junge liegt in seinen Armen und weint auch. Mama ist weg. Wie der blau-weiß-rot gestreifte Wasserball, der im Herbst in die Ostsee gefallen und abgetrieben ist. Auch den hat er trotz aller gegenteiligen Beteuerungen der Eltern nicht wiedergesehen.
In manchen Momenten flackert ein Gedanke auf: „Sie ist nicht tot!“ Dann weiß der Junge, dass sich die Eltern haben scheiden lassen, wie die von Fiete im letzten Jahr. Auch sie hatten sich davor gestritten, wie seine Eltern, als die Wasserleitung kaputt war. Und auch Fiete und ihre Mutter hatte er danach nie wieder gesehen. Vielleicht hatte der Vater der Mutter verboten nach Hause zu kommen und sie war jetzt wie Fiete und ihre Mutter in Hannover.
Dann weint der Junge wieder und denkt dabei an den Wasserball. Als das erste Tageslicht durch die Schlitze der Jalousien fällt, schläft er im Bett seines Vaters ein.
Scham – Erzählung I
Am Morgen beschloss der Vater, dass der Junge an diesem Tag nicht in den Kindergarten gehen solle. Der Junge erzählte es seinem Freund Olaf. Als er berichtete, dass seine Mutter gestorben war, fühlte er Stolz in sich aufsteigen, als sei er nun jemand Besonderes, und schämte sich dieses Stolzes später.
Stolz – Erzählung II
In den folgenden Tagen trafen Verwandte ein. Die Großeltern und der Onkel aus der Nachbarstadt, Onkel und Tanten aus der Ferne. Ihre Augen waren rot, wenn sie eintrafen und rot, wenn sie wieder fuhren. Viele sah der Junge weinen. Sogar die Großtante, die sonst von allem ungerührt schien. Der Junge weinte nicht, nicht mehr seit jener Nacht. Er dachte, er müsse tapfer sein, und war auch darauf stolz.
Definition
Zweifel (von ahd. "zwîval" aus germanisch "twîfla" ['doppelt', 'gespalten', 'zweifach', 'zwiefältig']) bezeichnet eine Unsicherheit, Ungewissheit gegenüber einem (möglichen) Sachverhalt, einer Behauptung und dem entsprechenden Tun und Verhalten, ebenso einen mangelnden Glauben oder ein inneres Schwanken. ‒ Wissenschaftlich versteht man unter Z. das methodische Infragestellen zur Begründung sicherer Erkenntnis und auch die Erkenntnisunsicherheit oder prinzipielle, allgemeine Leugnung von Erkenntnismöglichkeit.
Beispiel
Mehrfach ging der Vater mit den Verwandten in eine Kapelle, wo die Mutter aufgebahrt war. Der Junge wusste nicht, was ‚aufgebahrt‘ bedeutete, aber er hätte die Mutter gerne gesehen. Niemand nahm ihn mit. In dem Jungen aber entstand eine leere Stelle.
Auch als die Mutter beerdigt wurde, blieb der Junge zu Hause. Während die Erwachsenen auf dem Friedhof waren, dachte er an seine Mutter, die nun von seinem Vater geschieden war und wahrscheinlich in Hannover wohnte.
Am nächsten Tag durfte auch der Junge das frische Grab sehen. Es sah anders aus als das Grab des Großvaters: ein Erdhügel überhäuft mit Kränzen und Blumen. Der Junge machte ein Foto.
Interview III
Sind es die kleinen Dinge, an denen wir merken, dass sich die Welt ändert, oder bleiben diese gerade gleich?
Einiges ging auch danach weiter wie bisher. Der Junge spielte den Prinzen und er wurde im Sommer eingeschult. Auf dem Küchenregal stand der Becher mit dem Bild eines Maronenverkäufers (bis er eines Tages abgeschlagen war und später zerbrach) und auch weiterhin wurde freitags gebadet. Auf dem Müsli danach fehlten die Butterflöckchen.
Statt eines Schlusses (Definition und Beispiel II)
Klaustrophobie [zu lateinisch claustrum »Schloss«, »Gewahrsam« und griechisch phobós »Furcht«] die, -/...'bi|en, Claustrophobie, Raumangst, (neurotische) Angst vor dem Aufenthalt in geschlossenen Räumen.
Der Junge war mit seinem Vater in einem Hotel. Am Abend ging der Vater in die Hotelbar. (Heute ahnt der Junge, dass er hoffte, eine Frau zu treffen). Er schloss die Zimmertür ab. Als er zurückkehrte, hörte er schon von weitem die panischen Schreie des Jungen. An den Folgeabenden ließ der Vater die Tür unverschlossen, wenn er an die Bar ging. Der Junge blieb ruhig.
Epilog I
Im darauf folgenden Jahr war der Junge mit seinem Vater in Urlaub (der Junge aß zum ersten Mal ein halbes Hähnchen, verbrannte sich die Füße im heißen Sand und sah einen Marienkäferschwarm). Sein Vater lernte eine Frau kennen. Sie hieß Fräulein Ingrid und kam aus der DDR. Als er sie eines Abends zum Essen ausführte, war ihr Hotel bei der Rückkehr verschlossen. Der Vater nahm sie mit auf sein Zimmer. Als der Junge am Morgen erwachte, saß der Vater schon im Bett. Neben ihm lag die Frau.
„Schau mal, wer hier ist!“, sagte der Vater.
„Mama!“, dachte der Junge heiß.
Epilog II
Gut zwanzig Jahre später interessierte sich der Junge für Philosophie. Er liebte Descartes und Kant. Hume und Popper waren ihm suspekt, später bewunderte er auch die.
Einmal erwachte der Junge in einem fremden Haus. Er wusste, dass er von seiner Mutter geträumt hatte. Sein Kopfkissen war feucht. Er dachte an eine Nacht vor Jahren.
Epilog III
Jahrestag
Vor drei Jahren oder fünf
(nein, es sind tatsächlich schon sieben)
brach Dein Grab ein
Die Gärtner sagten
der Sargdeckel sei durchgefault
füllten das Loch
und erneuerten den weißen Kies
Ich pflanzte Heide
Nebenan
war ein frischer Hügel
Dreißig Jahre, dachte ich
Und:
Vielleicht bist Du damals wirklich gestorben
Letzter Satz im ersten Absatz auf Hinweise von Sam und Mucki geändert, danke!!
Einige Kommata und ein h aufgrund vin hinweisen von fedi eingefügt, auch danke .. außedem habe ich genau 3x was geändert, da ich aber immer wieder auf 'speichern' gedrückt habe, sieht es aus, als habe ich 14 mal was geändert .. auch danke
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