Sophus3 - Der Geist, der stets verneint

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 25.12.2008, 16:24

Das ist der dritte Teil des Textes, den zweiten findet man hier:
http://www.blauersalon.net/online-liter ... php?t=9041
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V Der Geist, der stets verneint

An jenem Abend speiste Sophus italienisch. Er saß alleine im Restaurant an einem Tisch für zwei Personen und wartete auf sein Essen. Aus einigen geschickt - was soviel heißen soll wie: unentrinnbar – im Raum plazierten minderwertigen Lautsprecherboxen quälte sich eine Einspielung von Beethovens neunter Symphonie, die auf dem Weg vom Konzertsaal hierher viel von ihrer Kraft verloren hatte und nun als blecherne Beschallung herhalten mußte. Sophus hörte mit stillem Mißvergnügen hin, bis etwas geschah, was seine Aufmerksamkeit so uneingeschränkt auf sich lenkte, daß er für den Moment nicht einmal hätte sagen können, ob überhaupt etwas gespielt wurde.
Die Türe öffnete sich, und hindurch schob sich geduckt eine Gestalt, die hühnenhaft zu nennen geradezu eine beschwichtigende Bemäntelung ihrer Statur gewesen wäre; des weiteren gehörte seine Kleidung zum merkwürdigsten, was Sophus jemals außerhalb von Maskenbällen zu Gesicht bekommen hatte: Der Mann war angetan mit einer unüberschaubaren Zahl halbtransparenter hellblauer Tücher, eine Überlagerung etwa taschentuchgroßer Nichtse, die den massigen Körper zwar blickdicht verhüllten, aber so beständig bei jeder seiner Bewegungen um ihn herumflatterten, daß kein Einzelteil als Grund dieses Effektes auszumachen war. Das Fetzenkleid bedeckte seine Beine bis hinunter zu den Knöcheln der nackten Füße, und auf dem Kopf trug er einen Turban gleicher Farbe, aus dem glattes, schneeweißes Haar ihm weit in den Rücken fiel. Sophus war von diesem Anblick zur Gänze eingenommen und kam nicht einmal auf die Idee, sich darüber zu wundern, wie der blaue Riese mit sonderbar leichten, fast tänzerischen Schritten den Raum durchmaß und, während er Interieur und Speisende mit abschätzigen Blicken von oben herab musterte, auf seinen Tisch zukam, ohne dabei das mindeste Aufsehen zu erregen, ja, womöglich ohne von überhaupt jemand sonst bemerkt zu werden. Dort angekommen zog er den freien Stuhl vom Tisch zurück und ließ sich mit einem Kopfnicken in Sophus Richtung und einem beiläufig genuschelten "Guten Abend" darauf nieder, das einem verspäteten Freund weit besser als einem bizarren Fremden angestanden hätte. Dies Niederlassen geschah auf eine Art, die Sophus zusätzlich verwirrte – denn es war nichts Lässiges, Sitte und Konvention mißachtendes darin, welche Charakterzüge der Aufzug doch zumindest nahe legte; vielmehr rückte das Sichsetzen des Mannes durch viele Kleinigkeiten, die Gemessenheit, mit der er Platz nahm, den kerzengeraden Rücken und die Penibilität, mit der er seinen Stuhl anschließend parallel zur Tischkante ausrichtete, eher in die Nähe des förmlichen Habitus eines gehobenen Verwaltungsbeamten.
Immerhin fand Sophus sich nach einer kurzen Weile hinreichend gesammelt, den Gruß zu erwidern und den eigenartigen Herrn zu fragen, wer er sei.
„Wer ich bin, ist kaum zu sagen, und Ihnen jedenfalls kaum begreiflich zu machen. Es muß genügen, was ich bin – und auch dies ist, um der unvermeidlichen Neugier vorzugreifen, kein potentieller Gegenstand eines Gespräches. Soweit es Sie betrifft, bin ich ein Wunschgeist, ein Dschinn, wie Sie wohl sagen, und bin gekommen – geschickt, könnte man sagen, wiederum ohne Anlaß zu ermüdender Fragerei zu geben, um Sie drei Wünsche äußern zu lassen und zu erfüllen. Belästigen Sie mich nun bitte nicht mit tumben Fragen nach angeblichen Kollegen, die sich in Flaschen oder orientalischen Öllampen aufgehalten haben sollen und dergleichen – mit derlei Märchen habe ich nichts zu schaffen, meine Erscheinungsform ist nur so gewählt, um Ihren kulturell geprägten Vorurteilen entgegenzukommen. Ein solches Angebot ging nie zuvor an einen Menschen, und das wird es hiernach auch nie wieder. Und behalten Sie den armseligen Skeptikerspott, der Ihnen da gerade von den ach so aufgeklärten Lippen hüpfen will, für sich – Sie zweifeln keineswegs an meiner Rede, selbst Ihre Frage war im Grunde überflüssig; ich weiß dafür zu sorgen, daß man mich, wo man es soll, erkennt.“
Hier erst bemerkte Sophus, daß er zwar matte Zweifel formulieren konnte, tatsächlich aber jedes dieser Worte mit einer Selbstverständlichkeit glaubte, als habe man ihm bloß Tautologien vorgetragen. Da er solche Leichtgläubigkeit an sich weder gewohnt war noch dulden konnte, versuchte er sich die Lage dadurch zu erklären, daß sie wohl nur in einem tiefen Traum statt hatte.
Bisweilen kann man im Gespräch den Inhalt der von jemand geführten Rede erahnen, lange ehe er geendet hat; in solchem Falle hindert einen meist die Höflichkeit, dies sich zu sehr anmerken zu lassen, und etwa zu dem Ungesagten bereits Stellung zu beziehen. Ähnliche Erwägungen mochten den Dschinn veranlassen, überhaupt jemals jemand, nachdem er gedacht hatte, zu Wort kommen zu lassen, welches er insgeheim als ein sehr unzulängliches – und in seinem Fall gänzlich unnötiges - Behelfswerkzeug geringschätzte. In diesem Fall ersparte er sich das zu erwartende Gestammel.
"Und wäre es ein Traum - was sollte Sie das scheren? Für dem Moment ist es Ihre Wirklichkeit, nämlich das, was auf Sie wirkt, und die Dinge um Sie sind Ihre Gegenstände, nämlich das, was Ihnen entgegensteht – und wäre dies Geschehen aus anderer Betrachtung, wären Sie selbst nur geträumt, erdacht, erdichtet, ist das eine schlechte Ausflucht – und sich mit diesem Grund zurückzuziehen, ein Zeichen von wenig achtbarer Charakterschwäche, die an Ihnen ganz unabhängig von Ihrer letztendlichen Natur zu tadeln wäre, und die Ihnen glücklicherweise nicht zukommt.“
Das war, wenn nicht überzeugend, so wenigstens für den Moment überredend; Sophus gab seine vergeblichen Anstrengungen, in Zweifel zu geraten, auf und konzentrierte sich auf eine andere Frage, die ihm für den Augenblick weit wichtiger erschien.
„Aber warum dann gerade ich? Warum wählte man mich für eine solche Aufgabe? Wäre es nicht klüger, Ihnen selbst zu überlassen, was Sie tun? Ich könnte doch lauter Unfug treiben und die Welt gehörig durcheinander bringen!“
„Seien Sie unbesorgt - daß man Sie ausgewählt hat, ist beinahe ein Beweis dafür, daß Sie derlei eben nicht tun werden. Man hat, soviel darf ich wohl verraten, bei meinen Auftraggebern eine ziemlich klare Vorstellung von dem, was von Ihnen zu erwarten ist. An Ihrer Stelle zu wünschen, ist uns nicht gestattet; nur in beratender Funktion dürfen wir tätig werden. Wenn Sie mich soweit ins Vertrauen ziehen wollen, stehe ich zur Verfügung, schlage aber vor, für die Dauer unserer Unterredung die dem Rechnung tragende Duzform zu wählen.“
Das Angebot fand prompten und erfreuten Zuspruch.
„Gut denn – was wünschst du?“
Sophus überlegte. Ein Auto hätte er wohl brauchen können, sein alltäglicher Weg war beschwerlich lang und nötigte ihn, sich zu einer Stunde zu erheben, die er unchristlich hätte nennen können, hätte er im Christlichen etwas ausreichend Positives gesehen, um durch dessen Negation zu etwas seiner Weckzeit Angemessenem zu kommen.
Ein Auto als? Aber halt! Ein Auto mochte leicht gestohlen werden, seinen Geist aufgeben; auch waren auf die Dauer Gesetze nicht auszuschließen, die die nämliche Verkehrsweise einschränkten oder gar untersagten. Und im Grunde wollte er ja nur zur Arbeit kommen. Eine Bahntrasse vor seine Wohnungstür wäre wohl geeigneter? Aber Wohnort und Arbeitsplatz konnten wechseln und sie zu einem für ihn unnützen Relikt werden lassen. Eine Wohnung gleich neben seine Arbeitsstelle! Das wäre wohl das rechte, wenn auch zu bemerken war, daß es sich dort vermutlich weitaus weniger beschaulich wohnen ließ. Dann noch eher einen Arbeitsplatz gleich nebenan! Oder einen anderen Beruf, der sich daheim versehen ließ. Andererseits – wenn es ihm um den Wohnkomfort bestellt war, warum dann überhaupt dort leben, wo er war? Ein Wohnsitz in der Südsee, oder wo immer es ihm behagte, war ja nun leicht zu erlangen. Was dann mit der Arbeit wäre? Aber wozu arbeitete er denn? Zweierlei Gründe offenbarten sich dem ersten Blick: Zerstreuung und Verdienst. Nun, für die Zerstreuung würde er schon sorgen können im sonnigen Süden! Also der Verdienst. Die Arbeit war ein Mittel zum Verdienst. Wozu der Umweg? Er konnte sich Geld wünschen, viel Geld, mehr Geld, als er jemals brauchen würde - bei geschickter Formulierung seines Wunsches würde er um sein Auskommen nie zu bangen haben. Solange das Geld nicht entwertet wurde. Oder man es ihm abnahm. Auch mochte ihn ein Ungemach ankommen, das durch Geld nicht zu beheben war: Was, wenn er, kaum daß er reich war, einen Herzinfarkt erlitt und starb? Unheilbar erkrankte? Oder sich seiner eine bei den Vermögenden dem Vernehmen nach verbreitete fahle Trübsinnigkeit bemächtigte? Da war es vorzuziehen, statt des Geldes, das doch seinerseits eben nur Mittel war, gleich zu wünschen, daß er ein gesundes, langes Leben führen möge.
Er erwog, ob er sich nicht einfach wünschen könne, in einen andauernden Zustand der Glückseligkeit versetzt zu werden, wodurch ihm die Umstände, die dies bewirkten, im Einzelnen gleichgültig sein konnten. Diesen Gedanken im Sinn blickte er dem beratungsberechtigten Dschinn in die Augen, worauf in ihm das Bild aufstieg von einer aufgedunsenen Gestalt entfernt menschlicher Proportionen, die in einem halbkomatösen Zustand auf einer Matratze lag und durch Schläuche mit einer Substanz versorgt wurde, die ihr ein versonnen-debiles Dauergrinsen abrang - und er den Einfall eilig verwarf.

Wie sollte er sich in dieser eigentümlichsten aller Nöte behelfen! Auf Jahrmärkten gab es zuweilen Stände, da hingen auf der Kundenseite zahlreiche Schnüre herab, die waren auf undurchsichtige Weise an allerlei mehr oder weniger begehrenswerten Gegenständen geknüpft, und gegen einen Obulus erwarb man sich das Recht, auf gut Glück eine der Schnüre zu ergreifen und das Zugehörige heranzuholen. Eine abkünftige Modifikation dieser Einrichtung schien er hier vor sich zu haben, wo unabsehbar, vielleicht endlos, Schnur an Schnur und wiederum an Schnur geknotet war, man aber nie zu irgendeinem Ding gelangte! Alles nur Mittel-Dinge, Ketten von Zwischenschritten, Netze von Zwischenschritten, ein Ozean dienlicher Dinglichkeit, und jeder Horizont entpuppte sich, ganz analog zu seinem nichtmetaphorischen Gegenstück, nur als die Grenze seines derzeitigen Gesichtskreises! Es war zum verzweifeln!
Gab es denn wirklich nichts, worauf alles hinauslaufen zu lassen lohnend war? Wohl den Gläubigen - die hatten ihren Himmel! Und die Klugen ließen sicherlich aus guten Gründen unhinterfragt, worin er jenseits infantiler Fantastereien von geflügelten Harfenspielern, die auf Wattewolken Frischkäse verspeisten, bestehen mochte - die Klügsten unter ihnen meinten gar, auf Erden sei hierauf die Antwort schlechterdings nicht zu erlangen. Wohingegen die, die davon sprachen, nicht zufällig sehr plastisch von der Hölle reden konnten - welche nichts weiter war als die Wirklichkeit, bloß in einigen Aspekten boshaft überzeichnet. Ob er die Frage geschickt umgehen konnte, indem er sich einfach Gottes Gnade oder - besser noch - gleich in den Himmel wünschte? Irgendwie würde der Geist doch darauf reagieren müssen. Andererseits - all diese tröstlichen Fiktionen auch nur einen Moment lang für voll zunehmen hatte er sich nie einfallen lassen und von einem Ausmaß an Zweckoptimismus, dessen es bedurft hätte, sich für die Dauer seines Wunsches kurzzeitig davon zu überzeugen, war er weit entfernt. Einen Augenblick lang spielte er gar mit dem Gedanken, zunächst zu wünschen, es möge ein Gott sein, um sich dann mit einem zweiten Wunsch gut mit ihm zu stellen, doch weise Voraussicht ließ ihn ahnen, daß ihm ein solcher Wunsch unmöglich zustehen konnte und jedenfalls außerhalb der Potenzen des Dschinns gelegen hätte.

Hier wurden seine Überlegungen durch eine durchdringende Bassstimme unterbrochen, die aus einigen Metern Entfernung vom Nachbartisch zu ihm herüber drang und als deren Urheber er einen befrackten Herrn mit beginnender Hauptesgräue ausmachte. Sein Tonfall offenbarte eine feste Überzeugung von der tiefen Wichtigkeit seines Anliegens, welches darin bestand, seine Tischgenossen über seine Ansichten zu Straußenfleisch zu informieren.
Er habe sich geschworen, so berichtete er mit laut hastender Stimme, als drohe ihnen allen in den nächsten Augenblicken fürchterliches, wenn sie über seine Botschaft in Unkenntnis blieben, fest vorgenommen, ja geschworen habe er sich, dass Fleisch solch eines Tieres niemals anzurühren. Besagte fände er nämlich "blöd", er mißbillige ihre "hochnäsige" Gangart und ihren "arroganten" Gesichtsausdruck, und darum habe er eben beschlossen gehabt, sie unbedingt zu meiden. Dies wiederholte er mit geringer Varianz in Grammatik und Vokabular einige Male, wobei er bald die Hände zum Zeichen seiner Abneigung zu Fäusten ballte, bald sie wie zu einer Anklage Gottes wegen Erschaffung solcher Scheusale ringend gen Himmel hob. Immerhin schien er zu merken, wie die Lebhaftigkeit der Zustimmung, mit der ihn die Umsitzenden bedachten, allmählich abgeflaut war, worauf er in eine nicht minder langatmig vorgetragenen Schilderung davon überleitete, wie er anlässlich einer Einladung ein Stück Fleisch ihm unbekannter Herkunft arglos verzehrt - und für gut befunden! habe, welches sich im Nachhinein als Straußensteak entpuppt habe.
Sophus konnte nicht umhin, den vorgetragenen Gedankengang im Stillen kleinschrittig zu rekapitulieren. Da war also zunächst die Physiognomie des Straußenkopfes, welche nach menschlichen Begriffen, also als Menschenantlitz interpretiert wurde; davon, daß diese Fehldeutung auf zweifelhafte äußere Anzeichen unliebsamer Charakterzüge führte, schloß er auf die charakterliche Verderbtheit des Vogels, woraus er seine Abneigung gegen sein Fleisch erklärte - was wohl bedeutete, daß er im Verzehr eines Wesens ein Zeichen von Wertschätzung seines Charakters sah.
Im ersten Moment und eine Weile noch danach loderte wilder Zorn über die Ignoranz des Herrn in Sophus Miene, doch als der Ärger verflogen war, da wandelte ihn ein ungeheures Mitleid an und ihm wurde elend zumute. "Solche Dummheit ist doch zu bedauern." rief er nach dem Geist hin laut aus, worauf auch einige Köpfe vom Nebentisch sich befremdet nach ihm umwandten.
Und Sophus, von der Überzeugung jäh übermannt, die Welt müsse ein für alle an ihr Beteiligten angenehmerer Ort werden, wenn nur im Allgemeinen ein Mindestmaß an Klugheit in sie Einzug hielte, schlug dies dem Geist als Wunsch vor.
Zu seiner Enttäuschung zeigte dieser sich nicht annähernd so angetan, wie er es erwartet hätte. Statt dessen sah er ihn mit der milden Herablassung eines Erwachsenen an, der nach den rechten Worten sucht, um einem Kind etwas zu erläutern, was dessen Horizont im Grunde überschreitet, und sagte dann:
"Du erinnerst dich doch sicherlich noch an das Schachspiel?"
Sophus befand es für unsinnig, sich darüber zu wundern, woher der Geist das wissen könne. "Gewiß."
"Nun, dann wollen wir an diesem ein kleines gedankliches Experiment vollziehen. Wir setzen sehr zu Gunsten des Spielenden von der Wahrheit abweichend voraus, es stünden in einem Zug stets nur zwei Möglichkeiten offen. Dadurch wird die Sache doch sicher einfacher?"
Sophus konnte nicht umhin, zu bejahen.
"Nun, wenn ein Spieler seinen nächsten Zug erwägen und dabei den Gegenzug einplanen will, wie viele Fälle muß er dann betrachten?"
Zur Antwort kam, es müßten wohl vier sein, zwei für den eigenen Zug und für jeden davon zwei für den des Gegners.
"Sehr richtig. Wenn er aber auch noch seine Reaktion auf jenen Gegenzug einplanen möchte, werden es schon 8, nicht wahr? Und wenn wiederum die hierauf folgende Aktion des Gegners mitbedacht sein soll, werden es 16. Hört man aber an dieser Stelle mit dem Planen auf, schweben 32 mögliche eigene Entgegnungen im Ungewissen als unabsehbare Gefahr, daß vielleicht jeder einzelne von ihnen sich auf den ersten Hinblick als große Torheit herausstellen würde?"
Sophus nickte.
"Das Unbedachte, im subjektiven Sinn genommen als das halb Bedachte, was als das noch nicht Bedachte gewissermaßen an die Türe klopft, durch die sein Vorgänger noch gerade schlüpfen durfte, verdoppelt seine Ausdehnung mit jedem Schritt, den er noch geht - du weißt gewiß, daß auf diese Art das andrängende Ungewisse stets umfangreicher sein wird als das soweit Ermessene?"
Sophus war Mathematiker genug, um zu wissen, daß in einer Reihe, deren jeder Eintrag aus dem vorherigen durch Verdopplung hervorging, die Summe aller Glieder vor einem gewissen kleiner war als dieses und nickte.
"Gut dann. Die Lehre, die du hieraus ziehen magst, ist folgende: Wenn du den Geist erhebst, erweitert sich dein Horizont - doch in noch größerem Ausmaß wächst die Ahnung davon an, was noch im Dunkeln liegt. Wer nur an morgen denken will, der mag noch glücklich leben. Denkt man hingegen auch an übermorgen, lädt man leicht die Sorge von Jahrhunderten auf seine Schultern. Das Leid über die eigenen Unvermögen ist bei den Vermögendsten am stärksten ausgeprägt - glaube also nur nicht, ihnen einen Dienst zu tun, indem du einem von ihnen - dich selber durchaus eingeschlossen - neue Geistesgaben anhext."

Sophus bedachte diese Entgegnung sorgsam und fand keinen Fehl daran. Es wäre dem jedoch, wie er nach einer Weile befand, abzuhelfen, wenn man seine Kenntnis ins Unendliche erweiterte und nichts mehr im Verborgenen beließe. Und so befragte er den Geist, was er davon halte, ihn allwissend zu machen.
"Ein Wesen, das auf jede vorgelegte Frage eine Antwort weiß, könnte ich wohl ins Dasein rufen. Ich könnte seine Stimme selbst aus deinem Menschenleib ertönen lassen, wenn ich auch meine Beratungsbefugnis für die Stellungnahme in Anspruch nehme, daß hierin eine schier unerhörte Geschmacksverletzung läge." Dabei hob er kurz den Kopf und lauschte mit verbitterter Miene der blechern aus den Verstärkern scheppernden Symphonie. "Doch hättest du, gesetzt den Fall, du könntest ihm begegnen, wenig Anlaß, dieses Wesen für dir gleich zu halten. Der Mensch ist endlich, darauf angelegt, eine Weile mit dem Vergehen zu ringen und ihm schließlich anheim zu fallen. Alles Endlose und Universelle ist euren Leibern und Geistern im tiefsten Grunde fremd. Es gibt unter uns Außerzeitlichen übrigens nicht wenige, die euch darum ebenso bewundern und beneiden, wie der Gedanke an ein unsterbliches Wesen in vielen Sterblichen Bewunderung und Neid hervorruft. Allein: Es gibt kein Fortbestehen des Bewußtseins im Übergang vom beschränkten zu einem schrankenlosen Geist. Soweit es dich betrifft, könntest du ebenso gut wünschen, daß irgendwo außer dir ein solches Wesen sei. Und da bliebe für mich nicht viel zu tun - es wimmelt geradezu von ihnen. Eines davon hat, in aller Bescheidenheit am Rand erwähnt, dir gegenüber Platz genommen."
Da versuchte Sophus es einmal nach der anderen Richtung hin – und äußerte mit halbem Ernst die Absicht, sich zu wünschen, er möchte fortan dumm und dem Netz aus Sorgen und Einwänden, in welches er bis zur Handlungsunfähigkeit eingesponnen war, auf diese Weise entkommen sein.
Der Dschinn machte ein Gesicht, das an einen britischen Palastdiener erinnerte, in dessen Gegenwart jemand der Königin derbe Zoten von obszönen Inhalten zum Besten gab. Immerhin fand er sich noch zu einer Antwort bereit.
"Ein Unfug, aus dem gleichen Grund, nur in die Gegenrichtung. Der Tor, den du an deiner statt mit den verbleibenden zwei Wünschen versehen willst, ist eben nicht mehr du. So mancher kluge Sterbliche hat diesen Wunsch das eine oder andere Mal geäußert, ohne dieser Konsequenz inne zu werden. Das ist die Tragik des Geistes, daß er das Paradies in seinem Gegenteil vermuten, es aber schlechterdings nicht wünschen kann."
Die Vorstellung, einen Schritt weiter zu gehen und nicht nur seinen Geist, sondern sich selbst im Ganzen zu vernichten, womit doch die Wunschlosigkeit und damit gewissermaßen auch ein abschließender Zustand erreicht sei, kommentierte er hingegen nicht mehr, sondern murmelte lediglich, für solche Drecksarbeit nicht zuständig zu sein, die er gefälligst, wenn er sie getan wünsche, selbst tun solle.

Hier wurde Sophus inne, wie wenig er vorangekommen war auf seiner Suche nach etwas, was er sich wünschten konnte. Dachte man sich einen Wunsch erfüllt, wurde nur neues Wünschenswertes offenbar, und gleich, wie weit man lief, schien die Strecke, die man vor sich hatte, immer gleich zu bleiben - und bei alle dem war kaum zu denken, wohin sie denn letztlich führen sollte!
In seiner Stimme lagen Ermüdung und Resignation, als er sich nach einer langen Denkpause aufs Neue an den Blauen wandte.
„Ich weiß einfach nicht, was ich mir wünschen soll.“
„Vielleicht fragst du dich falsch? Hast du meine Frage denn vernommen? Höre genauer hin: Ich fragte, was du wünschst, durchaus nicht, was du DIR wünschst. Es möchte dir doch noch ein Einfall kommen, wenn du den Unterschied bedenkst.“
Fast schämte er sich seines Egoismus, der ihn nicht früher darauf hatte kommen lassen! Die Welt bestand doch wahrlich nicht aus ihm allein, war ein schauerlicher Ort für gar nicht wenige! Den Hunger hätte er sich aufgehoben wünschen können, auch Seuchen oder Kriege, Schreckensherrscher stürzen oder in lammfrommen Hirten ihrer Völker verwandeln. Doch welcher dieser Wünsche war geeignet, den Zustand der Welt nachhaltig und wesentlich zu bessern? Wünschte er den Hunger fort, so mochte eben eine Seuche drohen – und ohne Seuchen mochte der Krieg furchtbare Verheerungen anrichten, von der allzu menschlichen Eigenart, die Welt als Einheit aus Spielplatz und Müllhalde zu deuten, ganz zu schweigen. Wünschte er die Menschheit aller Widrigkeiten ledig – und sei es auch in einer Formulierung, die solch unerwünschte Lösungen wie ihr Verschwinden ausschloß – war eine Zunahme ihrer Größe zu befürchten, die neue Sorgen mit sich brachte. Und wenn... und dann... und aber...
Er dachte noch eine Weile in der angedeuteten Art weiter, bis ihm auffiel, daß er gerade für die ganze Menschheit zu denken versuchte, was ihm nicht einmal für ihn selbst gelingen wollte, und also die Vergeblichkeit dies Unterfangens einsah.

Er setzte erneut an und erneut, und jedesmal wurde sein Bemühen ihm zunichte.
Und als er so auch seinen letzten Ausweg fest verschlossen sah, geschah es endlich, daß er elend wurde und die Last beklagte, die der Geist ihm auferlegt und die ihn nichts verlockender erscheinen lasse, als ihrer enthoben zu sein.
Dies brachte er denn auch vor, und der Dschinn lächelte. "Ein eigenartiger Wunsch, auf eine dir gemäße Art fast weise - und dabei zugleich in einem kaum faßbaren Ausmaß dämlich - aber ein Wunsch doch immerhin. Ein wenig präziser wirst du ihn noch fassen müssen, damit ich es sicher nicht verfehle, was du meinst und wie du es meinst, dann steht seiner Erfüllung nichts im Weg. Doch bevor du das Geschenk, das dir gegeben wurde, von dir wirfst, wisse, in welch unerträglich konsequenter Weise du damit zugleich das Richtige und Falsche tust; nimm also zunächst dies Geisterwissen zum Geschenk: Du bist schon einmal hier gewesen, schon unzählige Male, und diese Kerze, dieser Stuhl, auch jener Narr, der von dort hinten tönte und auch ich war hier und habe dich vor die Wahl gestellt, die du schon ungezählte Male trafst; und all dies, Kerze, Tisch und Narrentöne werden wiederkehren und du wirst deine Wahl immer und immer wieder treffen. Sei dessen eingedenk, und überlege, ob du deine Wahl in diesem Licht erträgst, wenn du sie triffst."

VI Das Ende in zweierlei Gestalt

VIa Da capo!

Da strahlte Sophus, alle Schwere seiner letzten Stunden war vergessen, und er rief: "Du bist ein Gott und nie hörte ich göttlichereres!* Und zugleich so Irdisches! Wahrlich, eine unheilig-fromme Hinterweltlerei ist diese Wunschgeisterstunde. Wie könnte ich mir mehr als dieses wünschen! Ein da capo dem Leben und der so verwickelt ewig-vergänglichen Welt! Wie sollte ich da anders sprechen, als eben so: Da auf Erden jeder Zweck erst als Mittel zu weiterem Wert hat, der Endzweck bloß hinzugedacht und nicht einmal klar bestimmbar, geschweige erreichbar ist, so ist die ganze Wünscherei für den Erkennenden eine verhängnisvolle Todesmelodie, die aus dem Leben lockt. Nur einen Wunsch kann der Erdentreue daher in einer solchen Lage haben: Nämlich von dieser Last befreit und dem Streben nach eigener Kraft zurückgegeben zu werden. Geister, Wünsche, Wunderlampen - dergleichen steht der Wirklichkeit schlecht zu Gesicht, im Traum alleine findet es sein Recht und seinen Platz. Aber bin ich denn schläfrig? Hat dieser Traum nicht lang genug gewährt? Wohlan denn - möge ich erwachen! Dies bitte ich mir aus, daß ich, den Kopf zurecht gerückt, mit beiden Beinen festen Boden spüre und die Erinnerung an diesen Märchenspuk im stärksten Fall als abseitige Vision durch dichte Schleier winkt. Genug! Es eilt! Gib mich der Erde zurück!"
Während Sophus Gedanken, halblaut und abseits vom Geschehen des Bewußtseins, wie in einer heimlichen Zigarettenpause, solche Reden führten, flackerte kurz und flüchtig, wie der Lichtkegel eines Leuchtturms, der Einwand in ihm auf, daß dies ein äußerst kurioser und merkwürdiger Traum gewesen sei. Doch träge, wie der Geist des Schlafenden war, fiel es ihm nicht ein, der Leuchterscheinung nachzujagen, und so verschwand sie rasch am Horizont, dieweil an anderer Stelle ein lautstarker kognitiver Klatsch anhob und ein neuer Traum begann, etwas über ein kleines Gerät, das die Zeit anzuzeigen und zu lärmen vermochte. Es stand auf einem hölzernen Untergrund, der recht schmal und der das Kopfende seines Bettes war. Als wäre ein elektrischer Kontakt geschlossen worden, fuhr Sophus in dem Moment in die Höhe, als die Wirklichkeit sich mit der Traumvorstellung berührte und ihre imperativische Bedeutung erhielt und offenlegte: Daß es an der Zeit war, aufzustehen. Mit halbgeschlossenen Lidern sträubte er sich, die Decke zurückzuschlagen. Das Fenster war geöffnet, und draußen fuhr ein frostiger Wind ums Haus. Wenn nur das Zimmer diesmal warm sein könnte! Er wünschte sich für den Augenblick nichts sehnlicher als dies. Schließlich rang er sich durch, schlug die Decke zurück und fand, daß das Fenster geschlossen und angenehme Wärme um ihn war. Auf dem Weg zur Küche kam ihn die Hoffnung an, es möchten dort Brot und Kaffee noch für ein knappes Frühstück ausreichend vorhanden sein, und er fand, als er das kleine Schränkchen gleich über der Spüle öffnete, beides darin vor. Welch ein Beginn für einen guten Tag!

VIb Der Erlöser der Welt

Der Schrecken dieser Vorstellung paralysierte Sophus für Minuten. Dann rief er aus: "Ein scheußlicher Gedanke! Unerträglich, unerbittlich, trostlos! Ein Teufel ist, wer solche Kunde bringt! Wie sollte ich vor solch ewigem Unsinn nicht erbeben! Wie, vor ihn gestellt, anders reden als eben so:
Da alles Wünschen zur Befriedigung, also Aufhebung eines Wollens strebt, der Wille nur aber nicht vom Wollen unterschieden ist und überhaupt nur ist, sofern er will, die Welt aber als Werden und Vergehen wesentlich im tiefsten Grunde Regung, Streben, Wille ist, so ist dem Erkennenden die Dreiheit der Wünsche unnütz und eitel, und es ist nur eines, was ihm nach reifer Überlegung noch zu wünschen übrig bleibt. Wohlan denn, Geist! HEBE DIE WELT AUF!"

*Dieser Satz von Sophus' Antwort kommt aus: Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, §314
Zuletzt geändert von Mnemosyne am 28.12.2024, 19:50, insgesamt 3-mal geändert.

Mucki
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Beitragvon Mucki » 02.01.2009, 14:37

Lieber Merlin,

wie nur soll ich auch nur ansatzweise danach streben wollen, deiner vortrefflichen, wie immer brilliant in Szene gesetzen und mit Kant'schen Sätzen geflochtenen (ganz á la Merlin) Geschichte oder besser gesagt, dramatischen Inszenierung des Schicksals vom grübelnden Sophus, eine einigermaßen gescheite Entgegnung erfahren zu lassen? Nach reiflicher Überlegung komme ich zu dem Fazit, dass dies gar nicht vonnöten ist, da ich es bereits oben tat. Sätze wie diese:
"Das Unbedachte, im subjektiven Sinn genommen als das halb Bedachte, was als das noch nicht Bedachte gewissermaßen an die Türe klopft, durch die sein Vorgänger noch gerade schlüpfen durfte, verdoppelt seine Ausdehnung mit jedem Schritt, den er noch geht - du weißt gewiß, daß auf diese Art das andrängende Ungewisse stets umfangreicher sein wird als das soweit Ermessene?"

sind es, welche die Tiefe und die Wahrheit deines Denkens manifestieren und mich, während des Lesens aller Kapitel, in einem fort zustimmend nicken lassen. Auch führen sie immer aufs Neue zum Innehalten und Nachdenken, um schließlich, gerade bei den Fragen, die Sophus sich stellt, zu sich selbst zu sagen: Ja, genau. Er hat Recht.
Und wieder einmal hat mich verblüfft, dass ich der Länge des Textes sowie der Länge der Sätze trotzte, ob deiner Kunstfertigkeit, sie so zu formulieren, dass ich alles in einem Zug lesen musste!
Bleibt mir nur noch den Hut zu ziehen vor dieser Glanzleistung, mein Lieber!
:hut0039:

anerkennende Grüße
Mucki

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Beitragvon Mnemosyne » 02.01.2009, 16:24

Hallo Gabriella,
super, das freut mich wirklich. Nachdem der Text einige Zeit unkommentiert blieb, hatte ich mich schon gefragt, ob das an dem Zusammentreffen aus Feiertagen und Länge liegt oder ob er so ist, dass man lieber von ihm schweigen sollte - aber solange es wenigstens eine Person gibt, die ihn mag, bin ich zufrieden :-).
Hier und da holpert es ein wenig, weil ich die letzte Überarbeitung wieder ziemlich übereilt vorgenommen habe, aber das werde ich noch glätten.
Tausend Dank für die Zeit, die du dir genommen hast, den Text zu lesen und deinen Kommentar!
Und auf in ein produktives neues Jahr!
Liebe Grüße
Merlin

Mucki
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Beitragvon Mucki » 02.01.2009, 16:29

Hi Merlin,

es lag sicherlich an beidem: Feiertagsstress und die Länge des Textes.
Es sind ein paar Fehlerchen drin, ja. Aber ich hatte noch keine Lust, auf Peanuts einzugehen, sondern wollte dir erst mal einfach nur meinen Lesegenuss vermitteln. :)))
Über Details, die überarbeitet werden müssten (nur Kleinigkeiten), können wir zu einem späteren Zeitpunkt reden. ;-)
Saludos
Mucki

Sam

Beitragvon Sam » 15.01.2009, 17:30

Hallo Merlin,

jetzt hatte ich endlich mal die Zeit und die Muse, mir deinen Sophus in Ruhe durchzulesen. Und ich gebe zu, den müsste ich wohl noch einige Male lesen, um einen adäquaten Kommentar dazu zu schreiben. Soviel will ich aber sagen, dass mir die Lektüre, wenn auch nicht ganz unanstrengend, doch viel Vergnügen bereitet hat.

Soviel meine ich verstanden zu haben:
Du führst sozusagen das Denken ab absurdum, in dem du zeigst, dass sich die Vernunft im konsequenten Denken verabschiedet, und zwar genau an dem Punkt, an dem sich das Denken von der Realität verabschiedet um in einem, bis zur Unendlichkeit potenziertem Ideal völlig zu verschwimmen und zu verschwinden. Und so kann jemand vielleicht die Welt erklären, oder das Sein oder das Ich, aber er ist nicht in der Lage, einen einfachen Wunsch zu äußern, ohne dass ihm sein eigenes Denken in die Quere kommt. Oder verstehen, dass es bei einem Spiel, wie dem Schach, auf Dinge ankommt, die eben nicht berechenbar oder vorher durchdenkbar sind, da sie auf etwas beruhen, dass die Philosophie seit Kant ja irgendwie hinter sich gelassen hat.

Was die Sprache angeht: Ja, das ist nicht leicht zu lesen. Aber du hast diesen Sprachstil alle drei Teile konsequent durchgehalten und im Hinblick auf die Thematik empfinde ich ihn als passend. Als Persiflage des philosophischen Duktus sozusagen.

Einzig unangenehm fielen mir die frischkäseessenden Engel auf. Damit fixierst du den Text zeitlich, obwohl er ja eigentlich ein wenig zeitlos bzw. ältlich (durch die Sprache) daherkommt.

Aber abgesehen davon, finde ich deinen Text sehr anregend und ich habe Respekt vor der Denk- und Schreibarbeit, die dahinter steckt. Und vielleicht komme ich ihm bei weiteren Lektüren noch ein wenig mehr auf die Schliche.

Liebe Grüße

Sam

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Beitragvon Mnemosyne » 15.01.2009, 17:48

Hallo Sam,
danke für den netten Kommentar; du hast die dem Text zugrunde liegende Idee ganz richtig gesehen, was mir zeigt, dass sie durch die "Einhüllung" in eine Handlung nicht unsichtbar geworden ist. Die vier eigentlichen Textteile (außer "Grundsätzliches") sollen jeweils andere Seiten des Themas beleuchten, nämlich zunächst die noch irgendwie förderliche Natur des "konsequenten" Denkens beim Turmbau, dann Auswirkungen des "zu-weit-Gehens" auf das theoretische, aber noch wirklichkeitsbezogene Denken (Schach), auf soziale Konventionen bzw. das Zusammenleben (Untragbarkeiten) und schließlich auf den Willen. Am Ende fällt Sophus "wahlweise" in eine von zwei möglichen Endzuständen, von denen der erste an Nietzsches "amor fati", der zweite an Schopenhauers Resignation angelehnt ist.
Mit deiner Kritik hast du wohl recht, ich bemühe mich ansonsten sehr darum, die Handlung solcher Texte nicht in einem zu konkreten räumlich-zeitlichen Umfeld stattfinden zu lassen, Philadelphiawerbung hat da in der Tat nichts verloren, die betreffende Stelle ist mir beim Schreiben einfach herausgerutscht, weil ich den Einfall gerade lustig fand. Mal schauen, ob ich etwas anderes dorthin setzen kann, ansonsten streiche ich das einfach.
Liebe Grüße
Merlin

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 15.01.2009, 21:44

Mnem,

ich versuche schon seit du den Text eingestellt hast, dazu zu komme, ihn zu lesen - ich hab mich doch jedes Jahr so gefreut! Ich komm hier also ganz ganz sicher noch vorbei, nur dauert's eben der Länge wegen.

liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 16.01.2009, 11:18

Hallo Lisa,
lass dir Zeit, ich kann mir gut vorstellen, dass du im Moment genug zu tun hast :-).
Liebe Grüße
Merlin

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 14.03.2009, 21:00

Lieber Merlin,

gib zu, dass du nicht gedach hast, dass ich hier noch vorbeikomme .-P. Ich habe es tatsächlich geschafft! Und ich freu mich darüber, denn mir hat es wie immer sehr viel Lese- und Denkfreude bereitet. Schade, dass so selten Weihnachten ist .-)

Zuerst kurz zum Stil: Es ist ja deine typische Schreibweise - aber was mir gleich aufgefallen ist, ist, dass dein Stil in diesem Text viel glatter (im positiven Sinne)n ist. Er ist immer noch altertümlich gewunden, aber mir ist nicht mehr aufgefallen, dass irgendwo die Ausführung davon nicht stimmt - also keine Übertriebenheit, keine Unterlegenheit der Stildurchführung gegenüber der Stilidee (damit will ich jetzt nicht sagen, dass nicht hier und da noch Stolpersteine da sind, bei so einem langem Text natürlich immer, aber das ist alles der letzte Schliff bloß). Zudem, so finde ich, passt bei diesem Text der Stil besonders gut, weil das Denkende, was getrennt von einer Praxis ist, das Thema ist - das trockene, weltfremde daran ist also analog zum Inhalt, gefällt mir ausnehmend gut.

Textdetailarbeit was den Stil angeht, schaffe ich jetzt nicht zu leisten, ich hoffe das ist OK, ich möchte lieber versuchen zu sagen, wovon der Text für mich handelt (entschuldige, wenn sich was doppelt oder ich was frage, was schon gefragt wurde, habe keine Kommentare gelesen).


Um es mla wieder zunächst etwas krude zu sagen (und dann nochmal krude, aber anders krude .-)): Für mich ist dieser Text ein Gemisch aus einer kantisch-schopenhauerisch-nietzschlerischen-Faust-Variante zu den beiden Büchern Die Entdeckung der Langsamkeit und dem Glasperlenspiel.

Für mich geht es um etwas ganz ganz Interessantes und menschlich essentielles: Ich muss immer an Kant denken und seine Erläuterung der Vernunftideen und worin sie ihren Zweck haben. Hier ist sozusagen ein Ich, dass praktische "Schulmetaphysik" (Schimpfwort von Kant für die Scholastik etc., betreibt, indem es die Ideen nicht als Antrieb versteht, sondern als tatscähliches Ziel und da dies nicht zu erreichen ist, "gar nichts tut" bzw. sogar die Vernichtung / Nihilismus wählt. Dabei bist du nicht eindimensional, denn es ist ja erst einmal legitim, dass man den Anspruch hat, das, was man behauptet, auch erreichen zu wollen und nicht - erst recht, wenn man es schon vorher weiß und zugeben muss - von vorneherein völlig ohne Leiden oder Ähnliches dann eben irgendetwas ein bisschen im Leben rödelt.

Für mich ist zwar nicht unbedingt das Pendant "denkerischer Geist" und vegetativer geist das Interessanteste, sozusagen der Zwiespalt des geistig geistigen wie ich deine Kernvariante nennen würde, sondern eher, was du in diesem Satz fasst:

So ist die ganze Wünscherei für den Erkennenden eine verhängnisvolle Todesmelodie


(ich hätte also darauf meine ganze Betonung gelegt, die ich habe, bzw, wenn ich genauer drüber nachdenke, tun meine Texte das auch alle :pfeifen: ), aber mir ist schon klar, dass deine Variante die "Übervariante " ist, dass auch das, was ich besonders schätze, ein gestiges Konstrukt ist, was dann in der gelebten Durchführung den Schmerz bringt, und ich weiß auch, dass du in deinem Text verschiedene Ebenen (daher auch die geteilten Überschriften) bedienst: (beim ersten, den Bausteinen, weiß ich nicht genau, wie ich es nennen soll*), dann die Konstruktion/das Spiel (Schach), dann das Zwischenmenschliche (Begegnung Lehrer), schließlich der eigene Wille, der selbst auch davon abhängt, also überhaupt das "inerscheinunfgtretenkönnen"/die Ausbildung der Person,

Und es ist auch nicht als Kritik gemeint, ich finde es fabelhaft, diese unterschiedlichen Ebenen zu sehen, in denen sich immer dasselbe übertriebende Verhältnis zum Absoluten/zum Sinnstiftendem rächt.
ich finde es eben nur besonders interessant, in bezug auf solche Ideen wie "Liebe".

Und besonders spannend an der Konstruktion des Textes in diese Abschnitte: Du ziehst den Kreis von außen nach innen - und wenn man am Ende ist, dann kann man das ganze auch rückwärts angucken und es ist fast so, als verstehe man dadurch, wie mit einem solchen Innen, alles passiert, was dann passiert, seine Kreise zieht. Verstehst du? (In diesem Sinne finde ich die *-Bemerkung (siehe unten) besonders wichtig, weil es dann so endet: dass keiner ihn versteht, weil er sich nicht bewegt...). Im Grunde also - ich wiederhole mich - erzählst du an einer zeitlich erlebten KOnstitution eines Ichs (Sophus) etwas, was eigentlich nebeneinander immer herrscht in uns Einzelnen, unseren Ansprüchen und sogar der Gesellschaft, die sich daraus ergibt.

Es ist nun die Frage: Ist Sophus der bessere Mensch (weil er nicht trügt wider besseren Wissens) oder ist er der schlechtere Mensch, weil er nicht versucht? Oder ist er der bessere Tote? (lieber das nicht NIcht-wählen oder sogar das Nein) oder ist er der schlechtere Tote (weil er nicht gestorben ist an dem Versuch und gerade dieser Versuch einem erst zu einem Menschen macht ?). Es ist die Frage, ob die Erbärmlichkeit nicht eigentlich die höchste Tugend ist .-) (9der so ähnlich).

Leider habe ich keine Zeit verständlich zu machen, was ich hiermit genau meine:
Für mich ist dieser Text ein Gemisch aus einer kantisch-schopenhauerisch-nietzschlerischen-Faust-Variante zu den beiden Büchern Die Entdeckung der Langsamkeit und dem Glasperlenspiel.


aber ich finde das ist wirklich treffend - das es hier z.B. keine Glaskugeln sind, sondern Schachfiguren etc. - gerne würde ich das alles ganz genau in einem Wirrwarrkommentar aufschreiben, und dabei diese Stelle als "Beweis" zitieren:
"Was nützte es dem Herrscher, das die Zahl der Körner, die von ihm gefordert waren, endlich war? Im Sinn des Lebens war sie so gut als unendlich - es ist nämlich kein Ende auffindbar. Diese lebenswirkliche Unendlichkeit im bloß theoretisch endlichen als Wesen des Schachspiels aufzuweisen, ist die Weisheit dieser alten Mär, der man großes Unrecht tut, wenn man sie bloß als Darstellung des unanschaulich raschen exponentiellen Wachstums anbringt.


ich mag deine Variante. Hesse hat meines Erachtens zwar einen echten alternativen Umgang mit diesem Kopfproblem aufzuzeigen versucht mit seinem Glasperlenspiel, aber er hat es leider verklärt. Du bringst in deinem Text zwar keine Lösung herbei, bildest also das problem unserer Kultur und Kultivierung nur ab, führst sie vor, aber das zu schaffen, wäre ja auch Guruhaft :smile:

[...]


aber ich schaff das nicht und muss jetzt aufhören. Darum nur kurz: das soll ein Lob sein :mrgreen:

Zuletzt noch eine kleine Frage: Ist der Name Sophus aus verschiedenen Anspielungen zusammengesetzt? ich bin so neugierig!

Mir hat das sehr sehr gut gefallen!

liebe Grüße,
Lisa





* ich hätte bei diesem Abschnitt aber Sophus eben doch genau als nach außen primitiv/zurückgeblieben wirken lasse, ich glaube, dass es in diesem Stadium (sein Heranwachsen ist ja auch nur eine zeitliche Abbildung, was eigentlich immer alles zugleich in einem ist, was ich raffiniert erzählt finde) so "wäre" und dass es den Text spannugnsgeladener machen würde.
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Beitragvon Mnemosyne » 15.03.2009, 15:59

Hallo Lisa,
super, dass du es noch geschafft hast - dein ausführlicher Kommentar hat mich sehr gefreut!
Du hast, was meine Absicht, geistige Dispositionen anzuzeigen - so dass die konkrete Figur und ihre innerzeitliche Entfaltung im Grunde nur als Mittel dienen - genauso recht wie mit deiner Deutung der Funktion der einzelnen Abschnitte, und ich finde es schön, ihre Sichtbarkeit bestätigt zu bekommen; (denn selbst liest man ja im eigenen Text letztlich doch eher das, was man sagen wollte als das, was man gesagt hat :-) ). Der "Bausteinabschnitt" soll ein Hinweis auf die Zweideutigkeit der Figur sein, hier ist ein vorausgegangenes gründliches Durchdenken ja noch auf auf einer Stufe und in einem Bezugsrahmen, der es sinnvoll und hilfreich sein läßt. Kant, Nietzsche und Schopenhauer spukten mir beim Schreiben in der Tat im Hinterkopf herum, eine Leitidee des Textes war, den Unterschied zwischen den letzteren beiden anzugehen - was ich in der Verzweigung des Endes versucht habe.
"Sophus" ist angelehnt an den zweiten Teil von "Philosophie", also "Weisheit", und soll im Titel das Paradoxon des "weisen Narren" anklingen lassen. "Luitzen Brenner" ist übrigens eine Anspielung auf den niederländischen Mathematiker, vor allem aber "Mathematikideologen" Luitzen Brouwer, in dessen intuitionistischer Schule ich eine ähnliche Denkrichtung am Werk sehe, wie sie der Lehrer vertritt.
Soviel erst einmal in aller Kürze, ich komme noch einmal auf deinen Kommentar zurück, wenn ich mehr Muße habe.
Liebe Grüße
Merlin


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