Meine Leiter
Verfasst: 12.12.2008, 02:17
Jammern ist ein schönes Wort. Nicht etwa weil jammernde Menschen besonders angenehme Zeitgenossen wären, vielmehr, weil „jammern“ etwas Lächerliches in sich trägt. Sobald ich mir darüber bewusst werde, dass ich „nur“ jammere, kann ich meine Sorgen schon wieder als Scherze wahrnehmen.
Dienstag war ein echter Jammertag.
Um 5.30 in der Frühe erdröhnte der Wecker und läutete einen Tag an der Uni ein, der bis 19 Uhr dauern sollte. „Das ist doch grausam, pädagogische Grausamkeit ist das – in dieser Frühe mit Linguistik anzufangen!“
(Zumal die „Dozentin für Sprachwissenschaft… meiner Ansicht nach selbst mehrere Sprachfehler besitzt, von „Äh“ bis Lispeln.)
„Wie wir hier –äh- sehen regiert –äh- NP VP, aber PP wird von VP regiert. Haben Sie eine Frage dazu? ÖH? – Naja…“
Ein Mädchen neben mir brachte ein exzellentes Beispiel für zwei Phoneme. Das man so etwas weiß, erscheint mir auch schon wieder ein bisschen geisteskrank. Aus Höflichkeit entgegnete die Dozentin: „Ach, das ist ja –äh- ein super Beispiel. Ich sollte es-ähm-eigentlich-notieren, -äh- hab aber gerade keinen Stift hier-ähm- wie dem auch sei – VP regiert in diesem Fall –ähm- NP.“
In diesem Moment schrie ein anderes Mädchen hinter mir: „HIER!“ und schleuderte einen Kugelschreiber nach vorne, der Frau NP-VP an der Schulter traf.
„Ich bin umgeben von Wahnsinnigen“ jammerte ich wieder.
In der Mensa saß ich mit einem Kommilitonen, seinem israelischen Austauschstudenten und einem Türken am Tisch. Jeder löffelte schweigsam die kaugummiartigen Vollkornnudeln in sich hinein, bis der Türke fragte: „Can you speak arabic?“ und der Israeli meinte: „Yes, but I don´t want to speak it.“ Danach nervte der deutsche den Türken so lange, bis er uns etwas auf Arabisch vortrug... „They don´t have any salt in this kitchen.“ unterbrach ich den sich anbahnenden Glaubenskrieg an unserem Kantinentisch.“
„Warum sind die Nudeln hier von der Konsistenz nassen Papiers? Warum glauben immer alle, dass ihre Geschichte die bessere ist?“ Das Jammern hatte sich endlich einigermaßen gelegt, als ich am Ende des Tages mit Sarah im Café Cinema saß, um „einen Wein nach der Arbeit“ zu genießen. Ich bin aber leider unfähig „einen Wein“ zu genießen, denn jeder Abend kann der letzte sein, lalle ich dann gerne – ohne zu bemerken, dass das wirklich stimmt...
Nach drei Stunden leerte ich mit einem italienischen Bildhauer das vierte Glas. Weitere zwei Stunden später saßen wir knutschend auf dem roten Sofa in meiner Mini-Wohnung. Auf alle besoffenen Versuche meinerseits mehr aus diesem Kuss werden zu lassen, entgegnete er betroffen über seinen Körper: „Non è possibile!“
Ich gab es nach dem 10. „Non è possibile“ auf und schlief in meinem Bett ein. Als am nächsten Morgen immer noch alles „Non è possibile“ war, entschwand langsam meine kleine Verliebtheit und ich jammerte wieder. „Da nimmt man schon mal einen mit nach Hause und dann will er nur kuscheln wie ein Schoßhündchen. Non è possibile!“
Zu meinem Glück stellte er noch zehn Mal die Frage, wann wir uns wiedersehen, die ich zehn mal mit „Wenn ich Zeit und Lust habe“ beantwortete und kletterte dann endlich über meine Leiter von dem Podest herunter.
Ich war frei und schlief wieder ein. Ziemlich erledigt wachte ich um halb zehn wieder auf und verspürte die Lust einen Kasten Mineralwasser leer zu trinken. Ich krabbelte also aus dem Bett, nahm das Weinglas und den Aschenbecher in die Hand und setzte meine Füße auf die Sprossen der Leiter. Nackt, mit Glas und Aschenbecher stieg ich eine Stufe weiter nach unten, als die Leiter durch meinen Links-Drall zu schwanken begann. Ich dachte noch: „Jetzt tut´s gleich weh!“ und schon war nur noch Luft unter meinen Füßen.
Aschenbecher und Glas zerschepperten auf dem Parkett. Ich drehte mich einmal in der Luft und schlug auf dem Bauch auf. Zur selben Zeit schlug die Leiter auf dem hängenden Holzbrettregal auf, wo sich mein Zitronenbaum und zahlreiche Lebensmittel befanden. Das Regal brach samt Dübeln aus der Wand, der Zitronenbaum fiel auf eine mit Tomatensoße gefüllte Pfanne, die Cornflakes rieselten zur Erde, die Kippen landeten auf dem Teppich, das Glas rammte sich in den Esstisch und alle Gegenstände überfluteten den ganzen Raum.
Ich öffnete panisch die Augen und sah die Schraube der Leiter zehn Zentimeter vor mir aus dem Boden herausragen, neben mir lag schwarze Erde, grüne welke Blätter und ein paar trockene Nudeln. Das Zimmer sah von einer Sekunde zur nächsten aus, als hätte der 3. Weltkrieg dort begonnen und ich saß nackt in Mitten des Chaos – wie Eva zu Anbeginn der Welt kam ich mir vor.
Ich japste nach Luft, weil ich auf den Brustkorb gefallen war, stand benebelt auf und ließ mich auf das Sofa fallen, neben einigen Scherben und Teilen der Kerze.
Ich betastete den Schmerz an meiner Stirn und sah Blut an meinen Fingern kleben.
„Wie im Film!“ dachte ich und nahm das Handy in die Hand.
„Sarah…mir ist…etwas….passiert….und ich bin nackt!“ stotterte ich. Zwei Sekunden später stand sie im Chaos meines Zimmers. Ich hatte die rote Decke über mich geworfen und erklärte ihrem schockierten Gesicht erneut: „Ich bin nackt!“
„Das ist doch egal!“ rief sie und schon war sie wieder verschwunden. Ich sah mich voller Schwindel im Zimmer um. Die Leiter lehnte quer durch den Raum an der Wand. Das Foto meiner Mutter, was der Bildhauer am Vorabend sehen wollte, hatte eine Schramme in den Tisch gerammt. Mir war es unbegreiflich, dass diese Verwüstung sich durch den gesamten Raum gezogen hatte.
Plötzlich stand Sarah wieder im Zimmer, hinter ihr Aram, der Architekt, Vermieter und Bauherr des Raumes. „Das Vögelchen ist aus dem Nest gefallen!“ kommentierte er das Geschehen und hob einige Scherben auf. Als ich die beiden beobachtete, fiel mir auf, dass Sarah noch viel schockierter als ich war. Deshalb gab sie zuerst mir Beruhigungstropfen, dann sich selbst und schließlich auch Aram.
Somit waren wir alle beruhigt. Ich war dermaßen ruhig, dass ich bevor wir ins Krankenhaus gehen sollten, erst einmal ins Badezimmer wollte, um mich „frisch zu machen.“ – Ich stolperte an den zwei moldawischen Handwerkern vorbei, die neben dem Bad an einem überdimensionalen bewohnbaren Ei hantierten. Mit meiner kleinen Platzwunde stand ich vor dem Spiegel und parfümierte mich. Dann konnten wir gehen.
Bei der Anmeldung in der Rettungsstelle musste ich nicht mehr erklären, was ich hatte – außerdem kannten die Damen mich ja auch schon von anderen Besuchen. Ich wurde von mehreren Ärzten begrabscht und gerönkt, bekam schließlich ein Pflaster auf den Kopf und Verbände um Arm und Bein. Hierbei ist zu erwähnen, dass meine linke Seite keinen Kratzer abbekommen hatte, wodurch die Redensweise „mit links“ eine neue Bedeutung für mich errang.
Als ich nach Hause humpelte musste ich an die Verwüstung meines Zimmers denken und mir fiel nur noch eine Gruppe von Menschen ein, die mir jetzt noch helfen konnten alles wieder aufzubauen: Die 7 Zwerge!
Die 7 Zwerge sind eigentlich eine Mischung aus Bauarbeitern und 1-Euro-Jobbern in einem Möbelladen für Obdachlose, aus dem ich die Hälfte meiner Einrichtung erworben habe. Die 7 Zwerge haben nie etwas zu tun. Sie sitzen versteckt in den Ecken ihrer Rumpelkammer, die vollgestopft ist mit hässlichen und schönen alten Möbeln, sie trinken Kaffee, rauchen, schreinern, stopfen Fahrradschläuche, spielen Karten und immer, wenn man den Laden betrifft, kommen sie allesamt aus ihren Ecken hervor, um einen zu begrüßen. Sie sind alle klein und tragen Bärte oder Bartstoppeln. Alle haben sie einen Berliner Dialekt und alle sind sie freundlich zu mir. Manchmal denke ich, dass ich vielleicht so etwas wie Schneewittchen für sie bin. Sie haben mir mein Bettchen aufgebaut, mein Tischchen geschliffen und lackiert und mein Lämpchen haben sie mir verkauft.
Also sollten sie doch auch mein Regälchen wieder an die Wand schrauben können. Ich betrat den Laden der 7 Zwerge und erzählte, dass ich eben von der Leiter gefallen sei. Der dicke Chef (der wirklich „Chef“ mit Nachnamen heißt) der Zwerge nahm großen Anteil an meiner Geschichte und rief den begabtesten unter den Zwergen aus einer der Ecken zu sich.
Der Zwerg Bernd war ebenfalls klein, kräftig und sanftmütig. Er stieg gewandt über die verstreuten Gegenstände in meinem Zimmer und begutachtete das Regal:
„Da muss ick noch mal in den Baumarkt.“ Und schon war er wieder verschwunden. Ich nutzte die Zeit um in einer Art Wahnzustand alles aufzuräumen und zu putzen. Als er wieder da war, löffelte ich gerade meine Erbsensuppe aus der Dose (89 Cent) aus.
„So, denn wolln wa mal!“ leitete er sein Kunststück ein. Er schraubte das Regal vollständig ab und schlug die verbogenen Metallwinkel mit der bloßen Faust wieder gerade. Ich staunte. Er füllte stumm die Löcher mit einer weißen Paste und steckte die Dübel hinein.
Nach ein paar Bohrumdrehungen hing das Regal wieder. „So, Operation gelungen, Patient tot!“ erklärte er, nahm dankend die Tasse Kaffee entgegen und setzte sich mir gegenüber an den Tisch.
„Wenn se erst jetzt von der Leiter gefallen wärn, hätt ick se ja aufgefangen. Sowas Blödes.“ Ich freute mich und dachte, dass ein wahrer tapferer Zwerg sei.
„Ach nee! Ditt Tischchen kenn ich doch!“ Er deutete auf den kleinen Teetisch unter dem Bücherregal.
„Ja, den habe ich auch bei euch gekauft!“
„Ditt war mal meener! Da hab ick immer die Blumen ruff gestellt.“
Ich sah auf den Tisch und entdeckte einen blassen runden Kreis in der Mitte. Ich lächelte.
„Ja, man sieht auch noch genau, wo sie gestanden haben!“
„Jaja… früher hab ick auf dem Land gelebt. Mit der Schule war ditt ja bei mir nie so, aber mein Opa war Bauer. Da ham wir samstags immer auf dem Feld gestanden mit der Sense und Gras gemäht und am Sonntag hab ick denn ein Schwein geschlachtet – Oder, wenn wir mal ´n Kälbchen essen wollten und keins hatten, da hab ick eenfach eens geklaut, ach nee- wie sagt man- umgelegt.“
Ich nickte. Eigenartig wie schnell mir Menschen immer ihre Lebensgeschichte erzählen, dachte ich, aber es handelte sich hierbei ja auch um einen der Zwerge.
„Und denn hab ick in der Schnapsfabrik gearbeitet, ach nee- watt wir für Mist gebaut haben.“
„Was denn?“
„Na, ick hab da immer die Schnapsflaschen mit dem Gabelstapler uff die Lastwagen geladen und denn hab ick immer eine Palette zu viel ruff gestapelt, damit die letzte Reihe runter gefallen ist und denn sind manche Flaschen kaputt gegangen, aber viele och nich. Naja, und watt meinen se, was ick denn gemacht habe?“
„Die ganzen weggenommen?“
„Nee, ditt ham die ja nachgezählt. Nee, ick hatte immer ´n paar Flaschenhälse im Kofferraum, die hab ick denn da hin geschmissen und denn hab ick die ganzen Flaschen eingesammelt. Wir hatten den ganzen Keller bei meiner Oma voller Schnaps. Der steht da noch heute. Wie hat der olle Ulbricht gesagt: „Aus den Betrieben ist noch mehr rauszuholen.“ - Nur so ´n Scheiß ham wa gebaut.“
„Und was haben sie noch angestellt?“
„Broochste nich Sie sagen, ick bin der Bernd.“
„Ok.“
„Na, da hab ick so ´n Chef gehabt, der hat imma vor meener Einfahrt geparkt. Ick hab dem ditt gesagt, aber keene Reaktion. Da hab ick meenen Gabelstapler genommen und seine Karre auf das Garagendach gehoben. Eene Woche hat der danach gesucht. Der war schon ganz nervös, der arme Kerl! Dabei hatt er´s die ganze Zeit vor der Neese gehabt sein Auto!“
Ich lachte.
„Naja, und denn hatta die Polizei geholt und die sind gekommen – und ham sich auch tot gelacht, weil se das Auto auf dem Dach gesehen haben. Denn hat er mich in seen Büro geholt und gemeent: „Also Herr Steinert, das hätte ich ja nicht von Ihnen gedacht! Also! Also… trinken se erst mal ´nen Schnaps mit mir! Den Denkzettel haben sie mir aber verpasst!“
Ich freute mich über diese kleinen Geschichten einer toten Zeit, die er mit ein paar Worten wieder zum Leben erweckte. Es fiel mir wieder auf, dass nur das Absurde, das Verrückte Bestand zu haben schienen. Die Liebe natürlich ausgeklammert, wobei die Liebe und das Verrückte ja im Grunde Schwestern sind. Der Zwerg Bernd freute sich so sehr über seine Streiche und über das kleine eingerahmte Bild in seinem Kopf, das Bild des Autos auf dem Dach, das Bild des gestohlenen Kalbes, der präparierten Flaschenhälse – er freute sich so sehr darüber, dass ich den Eindruck hatte das alles mitzuerleben. Das war ein Gefühl davon, welche Größe die kleinen Geschichten besitzen.
„Jaja, damals hatte ick keene Geldsorgen. Neulich hab ick eenem Kumpel ditt ganze Haus tapeziert, gefliest – Allett hab ick alleene gemacht. Vier Wochen hat ditt gedauert, aber der Olle hat mich immer noch nich bezahlt. Also, wenn er bis Weihnachten nicht zahlt, denn gibt´s Ärger.“
„Wie meinen Sie…wie meinst du das?“
„Naja, ick hatte schon mal soone Geschichte. Da hab ick ooch einem Kumpel ditt janze Haus gefliest und der hat mich nich bezahlt. Da bin ick zu dem hinjefahren mit nem kleenen Köfferchen in der Hand und hab jesagt: „Na, darf ick reinkommen?“ und der hat sich gefreut und gemeent: „Aber Bernd! Natürlich darfst du!“ Da bin ick bei dem in die Wohnung rein, hab meenen Koffer geöffnet, den Vorschlaghammer rausgenommen und hab die janzen Fliesen, die ick gelegt habe kaputt geschlagen. Da hatta aber geguckt!“
Ich lachte wieder.
„Dann sollte ich sie aber schnell bezahlen, oder?“
„Naja, erst mal trinken wa noch ´nen Kaffee. Ick hab da ja heute eh nix zu tun. Ick bau vielleicht noch ´n paar Vogelhäuschen.“
„Vogelhäuschen?“
„Ja, sie heißen ja ooch Vogel!“
Auch der Zwerg Bernd verschwand wieder und ich verfiel in einen langen Dornröschenschlaf, der erst wieder durch die Ankunft des Bauherrn, Architekten und Vermieters meines Raumes geweckt wurde, der mit einem der moldawischen Handwerker meine Leiter so festschraubte, dass es einen Elefanten bräuchte, um sie wieder zu Fall zu bringen. Es wurden noch einige Gedenkfotos von mir im Verband geschossen und ich lobte die neuen Schrauben an der Leiter.
„Diese Schrauben machen mich unsagbar glücklich! Wisst ihr übrigens, dass die meisten Unfälle im Haushalt geschehen? Die MEISTEN UNFÄLLE IM HAUSHALT!“
Ich weiß nicht wieso, aber diese weltbewegende Erkenntnis, die meiner Meinung nach noch weit vor „Ich denke, also bin ich.“ anzusiedeln ist, brachte nur allgemeine Erheiterung hervor. Der Handwerker meinte ich müsste eigentlich unter dem Sofa schlafen, damit mir nichts mehr passiert.
Ich beobachtete wie die letzten Muttern festgedreht wurden und bestaunte das Ergebnis. Der Handwerker lächelte sanft und fügte hinzu: „Das Leben ist bunt, nicht?“
Dienstag war ein echter Jammertag.
Um 5.30 in der Frühe erdröhnte der Wecker und läutete einen Tag an der Uni ein, der bis 19 Uhr dauern sollte. „Das ist doch grausam, pädagogische Grausamkeit ist das – in dieser Frühe mit Linguistik anzufangen!“
(Zumal die „Dozentin für Sprachwissenschaft… meiner Ansicht nach selbst mehrere Sprachfehler besitzt, von „Äh“ bis Lispeln.)
„Wie wir hier –äh- sehen regiert –äh- NP VP, aber PP wird von VP regiert. Haben Sie eine Frage dazu? ÖH? – Naja…“
Ein Mädchen neben mir brachte ein exzellentes Beispiel für zwei Phoneme. Das man so etwas weiß, erscheint mir auch schon wieder ein bisschen geisteskrank. Aus Höflichkeit entgegnete die Dozentin: „Ach, das ist ja –äh- ein super Beispiel. Ich sollte es-ähm-eigentlich-notieren, -äh- hab aber gerade keinen Stift hier-ähm- wie dem auch sei – VP regiert in diesem Fall –ähm- NP.“
In diesem Moment schrie ein anderes Mädchen hinter mir: „HIER!“ und schleuderte einen Kugelschreiber nach vorne, der Frau NP-VP an der Schulter traf.
„Ich bin umgeben von Wahnsinnigen“ jammerte ich wieder.
In der Mensa saß ich mit einem Kommilitonen, seinem israelischen Austauschstudenten und einem Türken am Tisch. Jeder löffelte schweigsam die kaugummiartigen Vollkornnudeln in sich hinein, bis der Türke fragte: „Can you speak arabic?“ und der Israeli meinte: „Yes, but I don´t want to speak it.“ Danach nervte der deutsche den Türken so lange, bis er uns etwas auf Arabisch vortrug... „They don´t have any salt in this kitchen.“ unterbrach ich den sich anbahnenden Glaubenskrieg an unserem Kantinentisch.“
„Warum sind die Nudeln hier von der Konsistenz nassen Papiers? Warum glauben immer alle, dass ihre Geschichte die bessere ist?“ Das Jammern hatte sich endlich einigermaßen gelegt, als ich am Ende des Tages mit Sarah im Café Cinema saß, um „einen Wein nach der Arbeit“ zu genießen. Ich bin aber leider unfähig „einen Wein“ zu genießen, denn jeder Abend kann der letzte sein, lalle ich dann gerne – ohne zu bemerken, dass das wirklich stimmt...
Nach drei Stunden leerte ich mit einem italienischen Bildhauer das vierte Glas. Weitere zwei Stunden später saßen wir knutschend auf dem roten Sofa in meiner Mini-Wohnung. Auf alle besoffenen Versuche meinerseits mehr aus diesem Kuss werden zu lassen, entgegnete er betroffen über seinen Körper: „Non è possibile!“
Ich gab es nach dem 10. „Non è possibile“ auf und schlief in meinem Bett ein. Als am nächsten Morgen immer noch alles „Non è possibile“ war, entschwand langsam meine kleine Verliebtheit und ich jammerte wieder. „Da nimmt man schon mal einen mit nach Hause und dann will er nur kuscheln wie ein Schoßhündchen. Non è possibile!“
Zu meinem Glück stellte er noch zehn Mal die Frage, wann wir uns wiedersehen, die ich zehn mal mit „Wenn ich Zeit und Lust habe“ beantwortete und kletterte dann endlich über meine Leiter von dem Podest herunter.
Ich war frei und schlief wieder ein. Ziemlich erledigt wachte ich um halb zehn wieder auf und verspürte die Lust einen Kasten Mineralwasser leer zu trinken. Ich krabbelte also aus dem Bett, nahm das Weinglas und den Aschenbecher in die Hand und setzte meine Füße auf die Sprossen der Leiter. Nackt, mit Glas und Aschenbecher stieg ich eine Stufe weiter nach unten, als die Leiter durch meinen Links-Drall zu schwanken begann. Ich dachte noch: „Jetzt tut´s gleich weh!“ und schon war nur noch Luft unter meinen Füßen.
Aschenbecher und Glas zerschepperten auf dem Parkett. Ich drehte mich einmal in der Luft und schlug auf dem Bauch auf. Zur selben Zeit schlug die Leiter auf dem hängenden Holzbrettregal auf, wo sich mein Zitronenbaum und zahlreiche Lebensmittel befanden. Das Regal brach samt Dübeln aus der Wand, der Zitronenbaum fiel auf eine mit Tomatensoße gefüllte Pfanne, die Cornflakes rieselten zur Erde, die Kippen landeten auf dem Teppich, das Glas rammte sich in den Esstisch und alle Gegenstände überfluteten den ganzen Raum.
Ich öffnete panisch die Augen und sah die Schraube der Leiter zehn Zentimeter vor mir aus dem Boden herausragen, neben mir lag schwarze Erde, grüne welke Blätter und ein paar trockene Nudeln. Das Zimmer sah von einer Sekunde zur nächsten aus, als hätte der 3. Weltkrieg dort begonnen und ich saß nackt in Mitten des Chaos – wie Eva zu Anbeginn der Welt kam ich mir vor.
Ich japste nach Luft, weil ich auf den Brustkorb gefallen war, stand benebelt auf und ließ mich auf das Sofa fallen, neben einigen Scherben und Teilen der Kerze.
Ich betastete den Schmerz an meiner Stirn und sah Blut an meinen Fingern kleben.
„Wie im Film!“ dachte ich und nahm das Handy in die Hand.
„Sarah…mir ist…etwas….passiert….und ich bin nackt!“ stotterte ich. Zwei Sekunden später stand sie im Chaos meines Zimmers. Ich hatte die rote Decke über mich geworfen und erklärte ihrem schockierten Gesicht erneut: „Ich bin nackt!“
„Das ist doch egal!“ rief sie und schon war sie wieder verschwunden. Ich sah mich voller Schwindel im Zimmer um. Die Leiter lehnte quer durch den Raum an der Wand. Das Foto meiner Mutter, was der Bildhauer am Vorabend sehen wollte, hatte eine Schramme in den Tisch gerammt. Mir war es unbegreiflich, dass diese Verwüstung sich durch den gesamten Raum gezogen hatte.
Plötzlich stand Sarah wieder im Zimmer, hinter ihr Aram, der Architekt, Vermieter und Bauherr des Raumes. „Das Vögelchen ist aus dem Nest gefallen!“ kommentierte er das Geschehen und hob einige Scherben auf. Als ich die beiden beobachtete, fiel mir auf, dass Sarah noch viel schockierter als ich war. Deshalb gab sie zuerst mir Beruhigungstropfen, dann sich selbst und schließlich auch Aram.
Somit waren wir alle beruhigt. Ich war dermaßen ruhig, dass ich bevor wir ins Krankenhaus gehen sollten, erst einmal ins Badezimmer wollte, um mich „frisch zu machen.“ – Ich stolperte an den zwei moldawischen Handwerkern vorbei, die neben dem Bad an einem überdimensionalen bewohnbaren Ei hantierten. Mit meiner kleinen Platzwunde stand ich vor dem Spiegel und parfümierte mich. Dann konnten wir gehen.
Bei der Anmeldung in der Rettungsstelle musste ich nicht mehr erklären, was ich hatte – außerdem kannten die Damen mich ja auch schon von anderen Besuchen. Ich wurde von mehreren Ärzten begrabscht und gerönkt, bekam schließlich ein Pflaster auf den Kopf und Verbände um Arm und Bein. Hierbei ist zu erwähnen, dass meine linke Seite keinen Kratzer abbekommen hatte, wodurch die Redensweise „mit links“ eine neue Bedeutung für mich errang.
Als ich nach Hause humpelte musste ich an die Verwüstung meines Zimmers denken und mir fiel nur noch eine Gruppe von Menschen ein, die mir jetzt noch helfen konnten alles wieder aufzubauen: Die 7 Zwerge!
Die 7 Zwerge sind eigentlich eine Mischung aus Bauarbeitern und 1-Euro-Jobbern in einem Möbelladen für Obdachlose, aus dem ich die Hälfte meiner Einrichtung erworben habe. Die 7 Zwerge haben nie etwas zu tun. Sie sitzen versteckt in den Ecken ihrer Rumpelkammer, die vollgestopft ist mit hässlichen und schönen alten Möbeln, sie trinken Kaffee, rauchen, schreinern, stopfen Fahrradschläuche, spielen Karten und immer, wenn man den Laden betrifft, kommen sie allesamt aus ihren Ecken hervor, um einen zu begrüßen. Sie sind alle klein und tragen Bärte oder Bartstoppeln. Alle haben sie einen Berliner Dialekt und alle sind sie freundlich zu mir. Manchmal denke ich, dass ich vielleicht so etwas wie Schneewittchen für sie bin. Sie haben mir mein Bettchen aufgebaut, mein Tischchen geschliffen und lackiert und mein Lämpchen haben sie mir verkauft.
Also sollten sie doch auch mein Regälchen wieder an die Wand schrauben können. Ich betrat den Laden der 7 Zwerge und erzählte, dass ich eben von der Leiter gefallen sei. Der dicke Chef (der wirklich „Chef“ mit Nachnamen heißt) der Zwerge nahm großen Anteil an meiner Geschichte und rief den begabtesten unter den Zwergen aus einer der Ecken zu sich.
Der Zwerg Bernd war ebenfalls klein, kräftig und sanftmütig. Er stieg gewandt über die verstreuten Gegenstände in meinem Zimmer und begutachtete das Regal:
„Da muss ick noch mal in den Baumarkt.“ Und schon war er wieder verschwunden. Ich nutzte die Zeit um in einer Art Wahnzustand alles aufzuräumen und zu putzen. Als er wieder da war, löffelte ich gerade meine Erbsensuppe aus der Dose (89 Cent) aus.
„So, denn wolln wa mal!“ leitete er sein Kunststück ein. Er schraubte das Regal vollständig ab und schlug die verbogenen Metallwinkel mit der bloßen Faust wieder gerade. Ich staunte. Er füllte stumm die Löcher mit einer weißen Paste und steckte die Dübel hinein.
Nach ein paar Bohrumdrehungen hing das Regal wieder. „So, Operation gelungen, Patient tot!“ erklärte er, nahm dankend die Tasse Kaffee entgegen und setzte sich mir gegenüber an den Tisch.
„Wenn se erst jetzt von der Leiter gefallen wärn, hätt ick se ja aufgefangen. Sowas Blödes.“ Ich freute mich und dachte, dass ein wahrer tapferer Zwerg sei.
„Ach nee! Ditt Tischchen kenn ich doch!“ Er deutete auf den kleinen Teetisch unter dem Bücherregal.
„Ja, den habe ich auch bei euch gekauft!“
„Ditt war mal meener! Da hab ick immer die Blumen ruff gestellt.“
Ich sah auf den Tisch und entdeckte einen blassen runden Kreis in der Mitte. Ich lächelte.
„Ja, man sieht auch noch genau, wo sie gestanden haben!“
„Jaja… früher hab ick auf dem Land gelebt. Mit der Schule war ditt ja bei mir nie so, aber mein Opa war Bauer. Da ham wir samstags immer auf dem Feld gestanden mit der Sense und Gras gemäht und am Sonntag hab ick denn ein Schwein geschlachtet – Oder, wenn wir mal ´n Kälbchen essen wollten und keins hatten, da hab ick eenfach eens geklaut, ach nee- wie sagt man- umgelegt.“
Ich nickte. Eigenartig wie schnell mir Menschen immer ihre Lebensgeschichte erzählen, dachte ich, aber es handelte sich hierbei ja auch um einen der Zwerge.
„Und denn hab ick in der Schnapsfabrik gearbeitet, ach nee- watt wir für Mist gebaut haben.“
„Was denn?“
„Na, ick hab da immer die Schnapsflaschen mit dem Gabelstapler uff die Lastwagen geladen und denn hab ick immer eine Palette zu viel ruff gestapelt, damit die letzte Reihe runter gefallen ist und denn sind manche Flaschen kaputt gegangen, aber viele och nich. Naja, und watt meinen se, was ick denn gemacht habe?“
„Die ganzen weggenommen?“
„Nee, ditt ham die ja nachgezählt. Nee, ick hatte immer ´n paar Flaschenhälse im Kofferraum, die hab ick denn da hin geschmissen und denn hab ick die ganzen Flaschen eingesammelt. Wir hatten den ganzen Keller bei meiner Oma voller Schnaps. Der steht da noch heute. Wie hat der olle Ulbricht gesagt: „Aus den Betrieben ist noch mehr rauszuholen.“ - Nur so ´n Scheiß ham wa gebaut.“
„Und was haben sie noch angestellt?“
„Broochste nich Sie sagen, ick bin der Bernd.“
„Ok.“
„Na, da hab ick so ´n Chef gehabt, der hat imma vor meener Einfahrt geparkt. Ick hab dem ditt gesagt, aber keene Reaktion. Da hab ick meenen Gabelstapler genommen und seine Karre auf das Garagendach gehoben. Eene Woche hat der danach gesucht. Der war schon ganz nervös, der arme Kerl! Dabei hatt er´s die ganze Zeit vor der Neese gehabt sein Auto!“
Ich lachte.
„Naja, und denn hatta die Polizei geholt und die sind gekommen – und ham sich auch tot gelacht, weil se das Auto auf dem Dach gesehen haben. Denn hat er mich in seen Büro geholt und gemeent: „Also Herr Steinert, das hätte ich ja nicht von Ihnen gedacht! Also! Also… trinken se erst mal ´nen Schnaps mit mir! Den Denkzettel haben sie mir aber verpasst!“
Ich freute mich über diese kleinen Geschichten einer toten Zeit, die er mit ein paar Worten wieder zum Leben erweckte. Es fiel mir wieder auf, dass nur das Absurde, das Verrückte Bestand zu haben schienen. Die Liebe natürlich ausgeklammert, wobei die Liebe und das Verrückte ja im Grunde Schwestern sind. Der Zwerg Bernd freute sich so sehr über seine Streiche und über das kleine eingerahmte Bild in seinem Kopf, das Bild des Autos auf dem Dach, das Bild des gestohlenen Kalbes, der präparierten Flaschenhälse – er freute sich so sehr darüber, dass ich den Eindruck hatte das alles mitzuerleben. Das war ein Gefühl davon, welche Größe die kleinen Geschichten besitzen.
„Jaja, damals hatte ick keene Geldsorgen. Neulich hab ick eenem Kumpel ditt ganze Haus tapeziert, gefliest – Allett hab ick alleene gemacht. Vier Wochen hat ditt gedauert, aber der Olle hat mich immer noch nich bezahlt. Also, wenn er bis Weihnachten nicht zahlt, denn gibt´s Ärger.“
„Wie meinen Sie…wie meinst du das?“
„Naja, ick hatte schon mal soone Geschichte. Da hab ick ooch einem Kumpel ditt janze Haus gefliest und der hat mich nich bezahlt. Da bin ick zu dem hinjefahren mit nem kleenen Köfferchen in der Hand und hab jesagt: „Na, darf ick reinkommen?“ und der hat sich gefreut und gemeent: „Aber Bernd! Natürlich darfst du!“ Da bin ick bei dem in die Wohnung rein, hab meenen Koffer geöffnet, den Vorschlaghammer rausgenommen und hab die janzen Fliesen, die ick gelegt habe kaputt geschlagen. Da hatta aber geguckt!“
Ich lachte wieder.
„Dann sollte ich sie aber schnell bezahlen, oder?“
„Naja, erst mal trinken wa noch ´nen Kaffee. Ick hab da ja heute eh nix zu tun. Ick bau vielleicht noch ´n paar Vogelhäuschen.“
„Vogelhäuschen?“
„Ja, sie heißen ja ooch Vogel!“
Auch der Zwerg Bernd verschwand wieder und ich verfiel in einen langen Dornröschenschlaf, der erst wieder durch die Ankunft des Bauherrn, Architekten und Vermieters meines Raumes geweckt wurde, der mit einem der moldawischen Handwerker meine Leiter so festschraubte, dass es einen Elefanten bräuchte, um sie wieder zu Fall zu bringen. Es wurden noch einige Gedenkfotos von mir im Verband geschossen und ich lobte die neuen Schrauben an der Leiter.
„Diese Schrauben machen mich unsagbar glücklich! Wisst ihr übrigens, dass die meisten Unfälle im Haushalt geschehen? Die MEISTEN UNFÄLLE IM HAUSHALT!“
Ich weiß nicht wieso, aber diese weltbewegende Erkenntnis, die meiner Meinung nach noch weit vor „Ich denke, also bin ich.“ anzusiedeln ist, brachte nur allgemeine Erheiterung hervor. Der Handwerker meinte ich müsste eigentlich unter dem Sofa schlafen, damit mir nichts mehr passiert.
Ich beobachtete wie die letzten Muttern festgedreht wurden und bestaunte das Ergebnis. Der Handwerker lächelte sanft und fügte hinzu: „Das Leben ist bunt, nicht?“