Der Hänfling (zu Theodor Storms: Immensee)

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Chaostom

Beitragvon Chaostom » 23.07.2008, 04:27

Das ganze Dinge ist eigentlich als böser Betrug entstanden. Meine damalige Freundin sollte unbedingt etwas zu der (wie ich finde, furchtbar langatmigen) Novelle von Storm schreiben, und da mußte ich herhalten, um was zu produzieren. Da wir aber mittlerweile getrennte Wege gehen und sie unter anderem neben der Schule auch ihre Studium erfolgreich abgeschlossen hat, denke ich, es ist nicht allzu schlimm, das Vergehen heute aufzudecken. (Ist das eigentlich Urkundenfälschung oder so was, wenn man einen Schulaufsatz für jemand anderen schreibt?)
Naja, wenn also jetzt zufällig eine Deutschlehrerin aus W. mitliest, die im Jahre 2*** eine Schülerin namens H.L. hatte, dann soll sie jetzt einfach so tun, als wüßte sie von nichts.

mfg. chaostom

Der Hänfling
Stumme graue Vögel mochte ich noch nie. Den ganzen Tag saß er in seinem Bauer, glotzte traurig die gelben Gardinen an, bewegte sich nur beim Fressen und wartete auf bessere Zeiten.
Gestern habe ich es dann getan. Meine Tochter hing wieder irgend welchen Gedanken nach, pflückte Wasserlilien und der blöde Vogel von Reinhardt dachte tatsächlich, ich würde ihn füttern und zwitscherte mich an. Ich griff zu, drehte an dem kleinen Kopf herum. Irgendwann knackte es leise und ich hatte blutige Finger.
Zuerst hatte ich darüber nachgedacht, den Kadaver verschwinden zu lassen. Doch das wäre zu einfach gewesen und Elisabeth brauchte den Schock. Also klemmte ich das Tier halb zwischen die Gitterstäbe, um meinen kleinen Mord zu vertuschen.
Elisabeth weinte nur ein bisschen, als sie ihn fand. Ich hatte mehr erwartet.

Ich habe nichts gegen Tiere. Im Winter streue ich immer Körner auf unseren Hof, damit die kleinen Geschöpfe was zu fressen haben und ich kann das grausige Spektakel nicht ertragen, wenn im Frühjahr die Schweine geschlachtet werden.
Aber ich konnte nicht mehr. Zuviel Zeit war vergangen. Zulange hatte meine Tochter geheult, gegrübelt und auf irgendwelche Briefe mit schlechten Märchen gewartet, die dann doch nie angekommen waren. Es ist nicht so, dass ich den beiden keine Chance gegeben hätte. Wie oft habe ich Kuchen gebacken, habe die beiden auf der Veranda alleine gelassen. Wie oft habe ich Reinhardt im Namen meiner Tochter Grüße ausrichten lassen.
Aber es passierte nichts: Verschämte Blicke, holprige Gedichte, lange Spaziergänge und oberflächliche Versprechungen. Und dann fuhr er wieder davon und Elisabeth erholte sich wochenlang nicht.

Erich ist eigentlich auch ein netter. Er redet nicht viel, aber er ist fleißig, hat erst kürzlich ein recht ansehnliches Anwesen erworben und - was am wichtigsten ist - er wirft meiner Elli schon lange schmachtende Blicke zu. Morgen werde ich ihm von dem tragischen Unglücksfall berichten und erzählen, dass Elisabeth Vögel mag.
Die Zeit des Zweifelns und Wartens ist entgültig vorbei, es muss geheiratet werden!
Ende

scarlett

Beitragvon scarlett » 23.07.2008, 09:39

Hi,

das finde ich Klasse! An einigen Stellen könnte man zwar vielleicht noch etwas feilen, aber nu ...

Mit breitem Grinsen gelesen!

scarlett, die Immensee auch schrecklich findet ...

Chaostom

Beitragvon Chaostom » 24.07.2008, 11:48

@ scarlett, viele Dank für das Grinsen.
Ich eigentlich so geworden, wie's ist, weil ich den Stil von Storm so furchtbar fand. Auch wenn es schon ganz schön alt ist, an welchen Stellen könnte denn noch gefeilt werden?

mfg chaos-tom


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