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Oma

Verfasst: 12.12.2007, 17:39
von Klara
neue Fassung:
Oma (7. Dezember 2007)

Die Diele roch immer gleich.
Wir sind zur Olympia-Musik um den Ess-Tisch getanzt, und Oma hat immer gefürchtet, wir würden uns übergeben, weil wir vorher so viel gegessen hatten, doch wir fühlten uns pudelwohl.
Abends im Bett unter den dicken, schweren Oma-Bettdecken habe ich mich auf das Marmeladenbrötchen zum Frühstück gefreut.
Nachmittags gab es Haferflocken mit lauwarmer Milch oder Knabbeln (das ist getrocknetes Weißbrot in Brocken) und viel Zucker. Auf den Gläsern waren Bibo und das Krümelmonster, und ich mochte aus keinem anderen trinken.
Manchmal hatte ich Heimweh nach Mama, und wenn Mama kam, war alles gut, aber dann war es vorbei: Mama blieb immer nur kurz, und wir mussten zurück nach Berlin. Wo sich alles ständig änderte, undurchschaubar war, verwirrend: die Wohnungen, die Freunde der Mutter, die Freundinnen des Vaters, das Essen, das auf den Tisch kam, die Kindermädchen – in Berlin änderte sich die ganze Welt, nur bei Oma blieb alles gleich.
Unsere Mutter fand das furchtbar.
Heute verstehe ich, warum, doch damals war ich heilfroh, dass es Oma gab, mit ihrer Beständigkeit, ihrer Ruhe, ihrer Zuverlässigkeit. Einem festen Tagesablauf. Gleichmaß. Die Zeit musste genau eingeteilt werden, unter Omas absoluter Kontrolle stehen, warum, weiß ich bis heute nicht – man aß nicht, wenn man Hunger hatte! – man aß, wenn die Uhrzeit Essen gebot! Für uns war das erholsam.
Wir waren so oft bei ihr.
Sie stand vor dem unterteilten Spiegel in der Diele, zog sich die Lippen nach, dippte die Hände in die Haare und fragte, ob man einen Schirm bräuchte, bevor es zum Markt ging.
Sie hat uns die Schuhe zugemacht und ist mit uns in den Trimm-dich-Wald geradelt, und jeder Teil des Parcours, den wir bewältigten, kostete sie zehn Pfennig, oder, wenn es sehr schwierig war, sogar fünfzig Pfennig die sie umständlich aus ihrer Börse kramte (niemand anders, den ich kannte oder kenne, sagte jemals zum Portemonnaie „Börse“). Wir kamen uns reich vor. Auch zu den Pferden sind wir mit ihr gefahren, oder in die Tennishalle, wo wir in den Rückwänden Fangen gespielt haben, wo es ganz eigenartig roch, und zwischendurch die Bälle für sie aufgesammelt und eine Mark dafür bekommen. Das war die schönste Mark: verdient!
Oma hat sich immer so gerne bewegt! (Als sie nur noch sitzen konnte, wurde sie trübsinnig.)
Fernsehen durften wir bei ihr nur die Sesamstraße und ausnahmsweise eine zuvor mit Hilfe der Fernsehzeitung bestimmte Sendung nach dem Abendessen. Das Essen kam immer, wirklich immer zur selben Uhrzeit auf dem Tisch, und zwar auf die Minute genau: Mittags um zwölf, abends um halb sieben. Und fast immer tischte sie genau die Menge auf, die gegessen wurde - wenn nicht, drohte sie uns mit schlechtem Wetter. (Ich habe keine Ahnung, wie sie das geschafft hat, ich koche immer zu viel.) Zum Nachtisch rührte sie uns Stippmilch. (Niemand, den ich in Berlin kenne, kennt Stippmilch.)
Nach jedem Mittagessen legte sie sich für mindestens eine Stunde hin, da mussten wir still sein und uns selbst beschäftigen, eine tote Zeit. Genauso wie sonntags, da wollte sie in die Kirche. Nach dem Abendessen haben wir Scrabble mit ihr gespielt. Um acht ging Oma hoch, ins Fernsehzimmer, um die Nachrichten zu gucken, und als wir größer waren, schauten wir danach noch mit ihr "Wetten dass". Sie beschwerte sich, dass die Leute im Fernsehen so schnell und nuschelig sprächen. Wenn wir Enkelkinder gerade erst gekommen waren aus Berlin, dann sprachen wir auch so schnell und nuschelig.
Kaugummi kauen war verboten. Das fand sie eklig.
Den Fernseher stellte sie sehr laut. Sie saß immer im selben knarrenden Sessel und hatte immer Strickzeug in der Hand.
Im Garten hat sie mit uns Federball gespielt. Ich wunderte mich, wie sie mit ihren Pumps überhaupt rennen konnte, aber sie war schnell! Wir zählten die Bälle, einmal sind wir bis 100 gekommen. Ich war stolz auf meine sportliche Großmutter und liebte den ordentlichen, geschorenen Rasen, der so weich an den Füßen kitzelte und an keiner Stelle sandig war, oder holprig. Dann musste sie in die Küche, um Stielmus für uns zu machen, denn wir durften uns wünschen, was sie kocht.
Oma konnte so gut kochen wie niemand sonst. Als sie nicht mehr so lange in der Küche stehen konnte, schimpfte sie über diejenigen, die ihr halfen. Sie machten alles falsch, kochten zu viel oder zu salzig. Auch wir durften ihre Spülmaschine nicht einräumen, nur das schwere Tablett ließ sie uns von der Küche ins Esszimmer tragen, als wir größer waren. Und sie hat es gehasst, als sie kaum noch zum Klo gehen konnte, hat den Rollator gehasst, das Wort dafür vermieden, hat es gehasst, dass ihr Bett nun nicht mehr oben im Schlafzimmer stand, sondern unten - neben dem Klavier! - mit einem hässlichen Krankenhausnachttisch an der Seite, und ein Kindersperrgitter vor der Treppe in der Diele hielt sie vom Hochsteigen (vom Fallen) ab. Sie hatte mehrere Knochenbrüche, die lange niemand bemerkte, denn sie klagte nie, war eisenhart. Konversation war Pflicht. Schmerzen jedoch verbiss sie, als hätte sie Krokodilszähne - darüber niemals reden!
Tränen habe ich nie in ihren Augen gesehen, auch nicht, als ihr Mann starb, nicht mal, als ihr Sohn starb, mein Onkel, der sich selbst verstoßen hatte. Ihre eigenen Kinder hat sie nicht an sich heran gelassen, aber für uns hat Oma vor dem Schlafengehen Märchen gelesen und Lieder gesungen, die ich heute meinen Kindern singe. Guten Abend, gut Nacht und das Mondlied, das mit dem kranken Nachbarn. Sie hat mit uns Plätzchen gebacken; das Rezept dafür habe ich seitdem im Kopf, und wir benutzen es jedes Mal in der Weihnachtszeit. Beim Kneten des Mürbeteigs denke ich an sie.
Oma ist jetzt tot.





Rohfassung:

Die Diele roch immer gleich.
Wir sind zur Olympia-Musik um den Ess-Tisch getanzt, und Oma hat immer gefürchtet, wir würden uns übergeben, weil wir vorher so viel gegessen hatten, doch wir fühlten uns pudelwohl.
Abends im Bett unter den dicken, schweren Oma-Bettdecken habe ich mich auf das Marmeladenbrötchen zum Frühstück gefreut.
Manchmal gab es nachmittags Haferflocken mit kalter Milch und viel Zucker. Auf den Gläsern waren Bibo und das Krümelmonster, und ich mochte aus keinem anderen trinken.
Manchmal hatte ich Heimweh nach Mama, und wenn Mama kam, war alles gut, aber dann haben sie gestritten, Mama blieb immer nur kurz, und dann war es vorbei: Wir mussten zurück nach Berlin. Wo sich alles ständig änderte und undurchschaubar war, latent bedrohlich: die Wohnungen, die Männer der Mutter, das Essen, das auf den Tisch kam, die Kindermädchen, die ganze Welt änderte sich in Berlin, nur bei Oma blieb alles gleich.
Unsere Mutter fand das furchtbar.
Heute verstehe ich, warum. Aber damals war ich froh, dass es Oma gab, mit ihrer Beständigkeit, ihrer Ruhe, ihrer Zuverlässigkeit. Einem festen Tagesablauf. Gleichmaß. Die Zeit musste genau eingeteilt werden, unter Omas absoluter Kontrolle stehen, warum, weiß ich bis heute nicht - man aß nicht, wenn man Hunger hatte! man aß, wenn die Uhrzeit Essen gebot! Für uns war das erholsam.
Wir waren so oft bei Oma.
Sie stand vor dem unterteilten Spiegel in der Diele, hat sich die Lippen nachgezogen, die Hände in die Haare gedippt, gefragt, ob wir einen Schirm bräuchten.
Sie hat uns die Schuhe zugemacht und ist mit uns in den Trimm-dich-Wald geradelt, und jeder Teil des Parcours, den wir bewältigten, kostete Oma zehn Pfennig oder, wenn es sehr schwierig war, sogar fünfzig Pfennig. Wir kamen uns reich vor. Auch zu den Pferden sind wir mit ihr gefahren, oder zur Tennishalle, das hat sie noch lange gespielt, und wir haben in den Rückwänden Fangen gespielt, wo es ganz eigenartig roch, und zwischendurch die Bälle für sie aufgesammelt und eine Mark dafür bekommen. Das war die schönste Mark: verdient!
Oma hat sich immer so gerne bewegt! (Als sie nur noch sitzen konnte, wurde sie trübsinnig.)
Fernsehen durften wir nur die Sesamstraße und ausnahmsweise noch ein bisschen nach dem Abendessen. Das Essen war immer, wirklich immer zur selben Uhrzeit auf dem Tisch, auf die Minute genau: Mittags um zwölf, abends um halb sieben. Und fast immer tischte sie genau die Menge auf, die gegessen wurde - wenn nicht, drohte sie uns mit schlechtem Wetter. (Ich habe keine Ahnung, wie sie das geschafft hat, ich koche immer zu viel.)
Nach jedem Mittagessen legte sie sich für mindestens eine Stunde hin, da mussten wir still sein und uns selbst beschäftigen, eine tote Zeit. Genauso wie sonntags, da wollte sie in die Kirche. Nach dem Abendessen haben wir Scrabble mit ihr gespielt. Um acht ging Oma hoch, ins Fernsehzimmer, um die Nachrichten zu gucken, und als wir größer waren, schauten wir danach noch mit ihr "Wetten dass". Sie beschwerte sich, dass die Leute im Fernsehen so schnell und nuschlig sprächen. Wenn wir Enkelkinder gerade erst gekommen waren aus Berlin, dann sprachen wir auch so schnell und nuschlig. Kaugummi kauen war verboten. Das fand sie eklig. Den Fernseher stellte sie sehr laut. Sie saß immer im selben knarrenden Sessel und hatte Strickzeug in der Hand.
Im Garten hat sie mit uns Federball gespielt, ich wunderte mich, wie sie mit ihren Pumps überhaupt rennen konnte, aber sie war schnell! Wir zählten die Bälle, einmal sind wir bis 100 gekommen. Ich war stolz auf meine sportliche Großmutter.
Oma konnte so gut kochen wie niemand sonst. Als sie nicht mehr in der Küche stehen konnte, schimpfte sie über diejenigen, die ihr halfen. Sie machten alles falsch, kochten zu viel oder zu salzig. Und sie hat es gehasst, als sie kaum noch zum Klo gehen konnte, hat diesen Rollator gehasst, das Wort dafür vermieden, hat es gehasst, dass ihr Bett nicht mehr oben im Schlafzimmer stand, sondern unten - neben dem Klavier! - daneben ein Krankenhausnachttisch, und ein Kindersperrgitter vor der Treppe hielt sie vom Hochsteigen (vom Fallen) ab. Sie hatte mehrere Knochenbrüche - sie war eisern. Konversation war Pflicht. Schmerzen verbiss sie - darüber niemals reden!
Sie hat mit uns Plätzchen gebacken; das Rezept dafür habe ich seitdem im Kopf und benutze es jedes Mal in der Weihnachtszeit. Beim Kneten des Mürbeteigs denke ich immer an sie.
Oma ist jetzt tot.

Verfasst: 12.12.2007, 19:03
von Ylvi
Hallo Klara,

das finde ich wunderbar, natürlich, erzählt, nah, echt. Das würde ich auch sehr gerne von dir gelesen hören!

liebe Grüße smile

Verfasst: 12.12.2007, 19:18
von Elsa
Liebe Klara,

was soll ich sagen! Es ist wunderschön, erinnert mich so sehr an meine Oma, wir könnten Schwestern sein, du und ich.

Ohne jegliche Sentimentalität erzählst du so, dass es mir die Tränen in die Augen treibt.

Lieben Gruß
Elsa

Verfasst: 12.12.2007, 19:51
von Mucki
Hallo Klara,

das hast du sehr schön geschrieben, flüssig und lebensnah. Eine Hommage an die Oma. Als Leser hat man die Bilder alle plastisch vor Augen. Auch bringst du den Kontrast zwischen der Bodenständigkeit/dem festen Rhythmus bei der Oma, was dem Kind so gut tut, zur Unruhe, die das Kind bei der Mutter erlebt, gut heraus. Auch die "Macken" der Oma sind liebevoll erzählt. Diese "Macken" und Gebote der Oma sind wichtig, verleihen sie doch der Geschichte ihre Authentizität.
Sehr gern gelesen,-)
Saludos
Mucki

Verfasst: 12.12.2007, 21:41
von Jürgen
Hallo Klara,

die Geschichte wirkt wirklich authentisch, gerade auch wegen der Detailverliebtheit. Schön, wie Du mit der Beschreibung des Sesamstraßenglases gleich zu Anfang so ein Kindsein/Bei-Oma-sein-Stimmung erzeugst. Solche Details, so ein Lieblingsglas hatte bestimmt jeder als Kind, haben ihren Wiedererkennungseffekt. Gefällt mir sehr gut.
Ich meine zumindest ansatzweise einen Vergleich zwischen Enkelin und Großmutter zu lesen, z. B. wegen des ´Ich koche immer zu viel´, auch wirkt der strenge Tagesablauf der Oma auf mich, als verwundere er die Enkelin (warum, weiß ich bis heute nicht). Aber vielleicht überinterpretiere ich gerade.

Schöner Text

Jürgen

Verfasst: 14.12.2007, 15:42
von Klara
Freut mich.
Dank euch fürs Lesen.

Klara

Verfasst: 15.12.2007, 17:56
von Klara
... habe den Text nochmal überarbeitet...

Verfasst: 16.12.2007, 20:10
von Max
Liebe Klara,

ich habe ja erst die überarbeitet Fassung gesehen und die wirkt für mich so, dass ich mich sehr an meine Zeiten mit einer meienr drei Omas erinnert fühle (nur mit Du anscheinend ein junger Hüpfer, wenn ich als ich solche Zeiten mit meiner oma teilte, haben Bibo und Company noch bei ihrer Oma gesessen, wir wussten gar nicht, was ein Bibo sein soll).

Für eine Detailkritik habe ich den Text noch nicht genügend genau gelesen, aber die emotionale Dichte gefällt mir sehr.

Liebe Grüße
Max

Verfasst: 16.12.2007, 20:42
von leonie
(nur mit Du anscheinend ein junger Hüpfer, wenn ich als ich solche Zeiten mit meiner oma teilte, haben Bibo und Company noch bei ihrer Oma gesessen, wir wussten gar nicht, was ein Bibo sein soll).


Hä?

Max, Du schreibst in Rätseln. Für mich jedenfalls.

Liebe Klara,

ich mag den Text auch sehr, aber ich würde den letzten Satz weglassen. Für mich ist sonnenklar, dass die Oma nicht mehr lebt. Den ganzen Text hindurch schon...

Liebe Grüße

leonie