Eine Nacht (vorher: Stille Nacht)
Verfasst: 24.11.2007, 22:32
Er bleibt stehen, ruft erneut die Nachricht auf das Display seines Handys . Ja, hier ist es. Ein gepflegtes Anwesen mit einem akkurat bepflanzten Vorgarten. Er atmet einmal tief durch, drückt dann den Klingelknopf. Im Eingangsbereich geht das Licht an, die Tür öffnet sich.
„Hi, ähm, ich meine, guten Abend. Ihr Termin heute ... Marvin ist krank. Er hat mich gebeten für ihn einzuspringen. Mein Name ist Spike.“ Ein Mundwinkel der alten Dame im Türrahmen zuckt.„Bitte?“ „O.k., mein Name ist Peter, aber können Sie mich bitte Spike nennen?“ Sie schaut ihn einen Augenblick lang prüfend an, zögert kurz und öffnet dann vollends. „Kommen Sie herein ... Spike.“
Während sie seine Jacke und seine Tasche an die Garderobe hängt, mustert sie ihn aus dem Augenwinkel. Mehr oder weniger saubere Jeans, eine eindeutig zu klein geratene Jackettjacke, darunter ein T-Shirt mit ausgefranstem Hals. Längere Haare, im Nacken mit einem Haargummi zusammen gebunden. „Interessanter Ohrring.“ Er greift sich ans rechte Ohrläppchen. „Ein keltischer Knoten. Kein Anfang, kein Ende.“
Sie dreht sich um, macht eine einladende Handbewegung. „Lassen Sie uns ins Wohnzimmer gehen.“ Ein anheimelnder Raum erwartet ihn. Dezente Farben, elegantes, aber bequem anmutendes Mobiliar. Unzählige Bilder schmücken die Wände. „Kann ich Ihnen etwas anbieten? Ein Glas Wein vielleicht? Oder lieber ein Bier?“ „Ein Bier wäre cool ... wäre fein, danke“ Sie verlässt den Raum, er hört das Öffnen und Schließen der Kühlschranktür. Zurück im Wohnzimmer geht sie zum Schrank, wühlt in einer Schublade. Runzelt die Stirn, öffnet eine Schranktür, zieht schließlich ein Feuerzeug hervor. Erstaunt beobachtet er, wie sie die Bierflasche am Hals fasst, die Rückseite des Feuerzeugs zwischen Finger und Kronenkorken einkeilt und diesen dann mit einer schnellen Bewegung abhebelt.
„Möchten Sie ein Glas oder...?“ „Oh, Flasche ist o.k., danke.“ Sie stellt das Bier auf den Tisch. Schenkt sich selbst ein Glas Rotwein aus der Dekantierkaraffe ein. „Bitte, setzen Sie sich doch. Zum Wohl“ Sie prostet ihm zu, nimmt einen Schluck. Spike setzt sich auf einen Sessel, will nach der Bierflasche greifen. Durch das viel zu kleine Jackett eingeengt, gelingt ihm dies nur mit Mühe. Die alte Dame hustet. Er hebt die Bierflasche an die Lippen, will trinken. Ein bedrohliches Knirschen der Naht belohnt ihn. Die alte Dame hustet stärker, bricht dann in rostiges Gelächter aus. „Oh, Entschuldigung! Aber Sie sehen wirklich zu grotesk aus, mit dieser Jacke ... Wo haben Sie die bloß her?!“ Spike wird rot. „Hat mir ein Kumpel geliehen. Der wohnt hier um die Ecke, da bin ich eben noch schnell vorbei. Marvin hat mich auf dem Handy erwischt, ich war schon unterwegs. Er meinte, für den Termin bei Ihnen sollte ich passend...“ „Oh bitte, ziehen Sie dieses Ding aus!“ Die alte Dame räuspert sich. „Wo wir gerade von Marvin sprechen. Sie bekommen sicher dasselbe?“ „Ja, er sagte am Telefon, es gäbe dreihundertfünfzig dafür, dass ich Ihnen heute Abend Gesellschaft leiste...“ „Stimmt.“ Die alte Dame streckt sich, angelt einen Umschlag vom Sekretär neben dem Sofa, legt ihn auf dem Tisch. „Hier. Und bitte, jetzt ziehen Sie endlich die Jacke aus!“ Marvin Spike öffnet die Knöpfe, schält sich aus der schwarzen Katastrophe, legt sie neben sich über die Lehne des Sessels und verstaut dann den Umschlag mit dem Geld in der Gesäßtasche seiner Jeans.
„Wenn Sie für Marvin so kurzfristig eingesprungen sind, erzählen Sie, was hatten Sie denn ursprünglich für Pläne, heute Abend?“ Marvin nimmt die Flasche vom Tisch, stellt sie auf seinem Oberschenkel ab, schaut zu, wie sie sich zwischen seinen Händen dreht. „Nun, ich wollte eigentlich zu einem Seminar ... an der Kunsthochschule. Ich ... es macht mir Spaß zu malen, wissen Sie? Heute wäre da ein geiler Kurs gewesen... Aber ist schon okay, die Flocken, ich meine, das Geld kann ich gut gebrauchen.“ „Sie sind Maler?“ „Neeee“ antwortet er gedehnt, „eigentlich mach ich eine Lehre zum Maler und Lackierer bei meinem Vater. Ich werde in ein paar Jahren den Betrieb übernehmen. Naja, ist ja irgendwie ähnlich...“
Die alte Dame runzelt die Stirn, schaut ihn nachdenklich an. „Warum malen Sie?“ “ Warum...“ Spike zögert, denkt nach „Hey, das muss irgendwie sein. Hinter die Fassade schauen, das Wirkliche aufs Papier bringen. Es eben ... genau richtig machen. Das ist es, denke ich. Aber das werde ich dann eben später...“ „Nonsens.“ Die alte Dame steht auf und tritt ans Fenster. Einen Moment steht sie dort, blickt schweigend in die Dunkelheit. „Sie erinnern mich an ihn.“ Spike schaut fragend auf.„An wen?“ „An einen Mann, den ich früher kannte. Er war auch Maler, so wie Sie. Er war unstet, vom Leben verletzt, ein Träumer und ein Habenichts. Und er war ... bezaubernd. Wie sagten sie eben: einfach richtig. Er wollte mich malen. Wollte ein Aktbild von mir machen, meinte, ich sei so schön ... nun, kurz und gut, ich war zu feige. Ich hätte dann nicht mehr zurück gekonnt in mein geregeltes Leben...“ Eine ganze Weile lang steht sie am Fenster. Spike wartet schweigend. Schließlich dreht sich die alte Dame zu ihm um. „Würden Sie mich malen?“ „Ich? Einen Akt ... von Ihnen? Fuck! Ich weiß nicht...“ Die alte Dame strafft sich, steht nun sehr gerade. „Ich zahle selbstverständlich dafür. Sagen wir“ sie geht zum Sekretär, zieht eine Schublade auf, legt ein paar Scheine auf den Wohnzimmertisch. „Sagen wir fünfhundert?“ Spike schaut auf die Geldscheine, in ihr Gesicht, dann wieder auf die Scheine. Er schluckt. „O.k., ja, ich versuche es. Geht in Ordnung.“
Während sich die alte Dame entkleidet, holt er seine Tasche aus dem Flur. Als er zurück kommt ins Wohnzimmer, steht sie vor ihm – nackt, hat die Haare gelöst. Er schaut zu Boden, langsam tasten sich seine Augen an ihr empor. Schmale Füße mit verkrümmten Nägeln. Schlanke, bleiche Waden unter einem Netz aus blau-schwarzen Adern. Knochige Knie, darüber faltig gewordene Oberschenkel. Ihre hervorstehenden Beckenknochen umrahmen eine schüttere Scham. Im Bogen windet sich die Taille bis zu den Rippen. Die Brüste, halb verdeckt durch langes, weißes Haar, hängen tief, schlaff geworden und kaum noch gepolstert, mit länglichen, dunklen Brustwarzen. Der Hals thront auf knochigen Schulter, lang und gerade stützt er das alte Gesicht, dessen faltiger Überwurf von hohen Wangenknochen gehalten, ein paar klare blaue Augen trägt. Das Alter hat seine Spuren hinterlassen, und doch...“Sie sind schön.“
Sicher jetzt, nimmt er Block und Stift in die Hand. „Bitte, gehen Sie zum Sofa. Legen Sie sich hin...nein, nein, nicht die Haare nach vorne, so kann ich Sie ja nicht richtig ... ja, so ist es gut!“ Er setzt sich ihr gegenüber. „Erzählen Sie mir von ihm, während ich male...“ Und sie beginnt mit leuchtenden Augen und entrücktem Blick zu erzählen.
Lange zeichnet er konzentriert. Es ist spät geworden. Die alte Dame ist mit einem weichen Lächeln auf den Lippen eingeschlafen. Immer wieder wandert sein Blick zwischen Modell und Blatt hin und her. Schließlich legt er den Stift beiseite. Streckt sich. Tritt dann leise zum Sofa, deckt die Frau behutsam zu. Er streicht ihr eine Strähne ihres Haares aus dem Gesicht, betrachtet sie einen Moment. Dann trennt er die fertige Seite aus den Block, legt sie auf den Wohnzimmertisch.
Eine junge Frau streckt lächelnd die Hand aus, den Blick auf jemanden jenseits des Bildes gerichtet. Ihre Brust der nahenden Berührung entgegengestreckt, ein Lächeln auf den feuchten, leicht geöffneten Lippen. Ihre ganze Haltung so erwartungsvoll, dass er fast den Blick abwenden möchte, um die Intimität nicht zu stören.
Leise sammelt er seine Sachen ein. Dann nimmt er den keltischen Knoten vom Ohr, beschwert damit die losen Geldscheine auf dem Tisch und geht.
erste Version:
Unschlüssig bleibt er stehen, schaut noch mal auf den Zettel in seiner Hand. Ja, hier ist er richtig.
Ein gepflegtes Anwesen mit einem akkurat bepflanzter Vorgarten. Einmal atmet er noch tief durch, dann drückt er den Klingelknopf. Nach einem kurzen Moment geht das Licht im Eingangsbereich an, die Tür öffnet sich. „Guten Abend... ähm... ich komme vom Begleitservice...sie hatten angerufen, ich...mein Name ist Marvin.“ Die ältere Dame an der Tür schaut ihn einen Moment lang prüfend an, zögert kurz und öffnet dann vollends. „Bitte, kommen Sie herein.“
Während sie seine Jacke und seine Tasche an die Garderobe hängt, hat er Zeit, seine Kundin zu mustern. Schlank ist sie, hält sich sehr gerade. Sie trägt ihr weißes Haar in einem akkuraten Knoten am Hinterkopf. Er schätzt sie auf Mitte siebzig.
Sie dreht sich um, macht eine einladende Handbewegung. „Kommen sie doch ins Wohnzimmer...Bitte.“ Ein anheimelnder Raum erwartet ihn. Dezente Farben, elegantes, aber bequem anmutendes Mobiliar. Ein kleiner Weihnachtsbaum steht festlich geschmückt in der Ecke vor dem Fenster. Die Lichterkette ist dunkel.
„Kann ich Ihnen etwas anbieten? Ein Glas Wein vielleicht? Einen spanischen Roten?“ „Ja, ja gerne. Ein Glas Wein wäre schön.“ Er dreht den Zettel in seiner Hand, steckt ihn dann in die Hosentasche. „Entschuldigung, aber ich weiß nicht recht....ich“ Er zieht den Zettel wieder hervor, faltet ihn auseinander, glättet das Papier, faltet neu, dreht es zwischen den Fingern. „Es ist so...“ Entschlossen hebt er den Kopf, schaut die alte Dame direkt an „Sie sind meine erste Kundin heute...nein...ähm...ich meine überhaupt. Ich weiß nicht recht, wie...oh shit! - Verzeihung!“
Die alte Dame lächelt. „Wissen sie, Marvin, ich weiß es auch nicht. Dreihundertfünfzig Euro, das wäre der Preis für einen Abend, vier Stunden, sagte man mir. Ist es für sie in Ordnung, wenn sie dafür mit mir ein Glas Wein trinken und wir uns ein wenig unterhalten? Einfach nur so?“ Sie geht zum Wohnzimmertisch, hält ihm einen Umschlag hin, schaut ihn fragend an.
„Ja...ähm...natürlich!“ Schnell nimmt er den Umschlag und verstaut ihn in seiner Gesäßtasche. Währenddessen nimmt die alte Dame zwei Kristallgläser aus dem Schrank, stellt sie zu dem bereits dekantierten Wein auf den Tisch, schenk ein. Marvin setzt sich ihr gegenüber auf die Kante einen Sessel.
„Bitte, erzählen sie doch von sich.“
Zunächst ein wenig stockend beginnt Marvin zu erzählen. Anekdoten aus seinem Freundeskreis, kleine Alltagsgeschichte. Die alte Dame hört aufmerksam zu, nimmt gelegentlich eine Schluck Wein, stellt hin und wieder ein Zwischenfrage. „Was machen Sie beruflich?“
Marvin streckt sich, legt ein Bein über die Armlehne des Sessels. „Nun, ich studiere Medizin. Mein Vater ist Arzt, verstehen sie? Aber eigentlich...ich bin Maler. Ich experimentiere gern. Man kann das Innere eines Menschen aus Papier bringen, wissen Sie?! Wenn man genau hinsieht, sieht man die Farben, die Formen, kann den Moment einfangen, seine Vollkommenheit...“
Er holt tief Luft, schließt die Augen, atmet langsam aus. „Aber ich werde mich besser auf das Studium konzentrieren um die Praxis meines Vaters übernehmen zu können, die Malerei werde ich später...“
„Nonsens!“ Die alte Dame steht auf und tritt ans Fenster. Einen Moment steht sie dort, blickt schweigend in die Dunkelheit. Dann dreht sie sich zu Marvin. „Würden sie mich malen?“ Marvin schaut erstaunt auf. „ Bitte?“
„Würden sie mich malen?“ energisch wiederholt sie die Frage.
„Ja,...sicher....wenn sie möchten. Ein Portrait?“ Marvin schaut in ihre klaren, prüfend blickenden Augen. „Sehen Sie, ich bin eine alte Frau. Ich weiß, was es heißt, eine Chancen verpasst zu haben, weil man glaubte, es wäre gerade nicht richtig. Es gab einmal einen Menschen in meinem Leben...oder eigentlich hätte es ihn in meinem Leben geben können. Er war Künstler...hat auch gemalt, so wie sie. Er war brillant. Aber er war unstet, vom Leben verletzt. Ein Träumer...und ein Habenichts. Ich war damals gebunden, erfolgreich, hab meine Pflichten erfüllt. Und ich war gut darin! Ich bin über ihn gestolpert, es war nicht vorgesehen...und war bezaubert von seiner Kunst. Er wollte mich malen. Einen Akt. Hat mich mehrfach gebeten. Ich...hatte nicht den Mut. Wusste ich doch, das ich nach dieser Nähe nicht mehr zurück gekonnt hätte...So hab ich ihm seinem Wunsch nicht erfüllt und mir diesen Mann verboten. Und nun schauen sie sich um.“ Sie hebt den Arm, deutet mit der ausgestreckten Hand um sich. „Schauen Sie. Ich bin erfolgreich geblieben. Und doch bin ich, wie dieser Weihnachtsbaum dort. Ohne Licht, ohne Glanz. “ Sie faltet die Hände, blickt ihn an.
„Ich frage sie noch mal: würden sie mich malen, so wie er es damals wollte?“ Marvin nickt stumm.
Während sich die alte Dame entkleidet, holt er seine Tasche aus dem Flur. Als er zurück kommt ins Wohnzimmer steht sie vor ihm – nackt, hat die Haare gelöst. Er schaut zu Boden, langsam tasten sich seine Augen an ihr empor. Ihre Beine, das Becken, die Brüste halb verdeckt durch langes, weißes Haar, das faltige Gesicht mit den klaren, blauen Augen. Das Alter hat seine Spuren hinterlassen, und doch...“sie sind schön!“
Sicher jetzt, mir ruhiger Hand öffnet er seine Tasche, holt Block und Stift heraus. „Bitte, gehen sie zum Sofa. Legen sie sich hin...nein, nein, nicht die Haare nach vorne, so kann ich sie ja nicht richtig...ja, so ist es gut!“ Er setzt sich ihr gegenüber. „Erzählen sie mir von ihm, während ich male...“ Und sie beginnt mit leuchtenden Augen und entrücktem Blick zu erzählen.
Lange zeichnet er konzentriert. Es ist spät geworden. Die alte Dame ist mit einem weichen Lächeln auf den Lippen eingeschlafen. Immer wieder wandert sein Blick zwischen Modell und Blatt hin und her. Schließlich legt er den Stift beiseite. Streckt sich. Tritt dann leise zum Sofa, deckt die Frau behutsam zu. Er streicht ihr eine Strähne ihres Haares aus dem Gesicht, betrachtet sie einen Moment. Dann trennt er die fertige Seite aus den Block. Legt sie auf den Wohnzimmertisch.
Eine junge Frau streckt lächelnd die Hand aus, den Blick auf eine Person jenseits des Bildes gerichtet. Ihre Brust der nahenden Berührung entgegengestreckt, ein Lächeln auf den feuchten, leicht geöffneten Lippen. Ihre ganze Haltung so erwartungsvoll, das er fast den Blick abwenden möchte, um die Intimität nicht zu stören.
Leise sammelt er seine Malutensilien zusammen, geht. Im Türrahmen wendet er sich noch einmal um. Er lächelt, kommt zurück ins Zimmer und schaltet die Beleuchtung des Weihnachtsbaumes ein. So ist es richtig. Dann zieht er den Umschlag aus der hinteren Hosentasche legt ihn zu dem Bild auf den Tisch. Leichten Schrittes verlässt er das Haus. Auf der Straße bleibt er stehen, atmet tief durch, wirft einen Blick zurück. Durch die Fenster des Wohnzimmers schimmern die unzähligen Lichter des Baumes. Für einen Moment lang ist ihm so, als würde er deutlich eine Silhouette im Raum sehen, die sich über das Sofa beugt...
Lächelnd macht er sich auf den Heimweg.
„Hi, ähm, ich meine, guten Abend. Ihr Termin heute ... Marvin ist krank. Er hat mich gebeten für ihn einzuspringen. Mein Name ist Spike.“ Ein Mundwinkel der alten Dame im Türrahmen zuckt.„Bitte?“ „O.k., mein Name ist Peter, aber können Sie mich bitte Spike nennen?“ Sie schaut ihn einen Augenblick lang prüfend an, zögert kurz und öffnet dann vollends. „Kommen Sie herein ... Spike.“
Während sie seine Jacke und seine Tasche an die Garderobe hängt, mustert sie ihn aus dem Augenwinkel. Mehr oder weniger saubere Jeans, eine eindeutig zu klein geratene Jackettjacke, darunter ein T-Shirt mit ausgefranstem Hals. Längere Haare, im Nacken mit einem Haargummi zusammen gebunden. „Interessanter Ohrring.“ Er greift sich ans rechte Ohrläppchen. „Ein keltischer Knoten. Kein Anfang, kein Ende.“
Sie dreht sich um, macht eine einladende Handbewegung. „Lassen Sie uns ins Wohnzimmer gehen.“ Ein anheimelnder Raum erwartet ihn. Dezente Farben, elegantes, aber bequem anmutendes Mobiliar. Unzählige Bilder schmücken die Wände. „Kann ich Ihnen etwas anbieten? Ein Glas Wein vielleicht? Oder lieber ein Bier?“ „Ein Bier wäre cool ... wäre fein, danke“ Sie verlässt den Raum, er hört das Öffnen und Schließen der Kühlschranktür. Zurück im Wohnzimmer geht sie zum Schrank, wühlt in einer Schublade. Runzelt die Stirn, öffnet eine Schranktür, zieht schließlich ein Feuerzeug hervor. Erstaunt beobachtet er, wie sie die Bierflasche am Hals fasst, die Rückseite des Feuerzeugs zwischen Finger und Kronenkorken einkeilt und diesen dann mit einer schnellen Bewegung abhebelt.
„Möchten Sie ein Glas oder...?“ „Oh, Flasche ist o.k., danke.“ Sie stellt das Bier auf den Tisch. Schenkt sich selbst ein Glas Rotwein aus der Dekantierkaraffe ein. „Bitte, setzen Sie sich doch. Zum Wohl“ Sie prostet ihm zu, nimmt einen Schluck. Spike setzt sich auf einen Sessel, will nach der Bierflasche greifen. Durch das viel zu kleine Jackett eingeengt, gelingt ihm dies nur mit Mühe. Die alte Dame hustet. Er hebt die Bierflasche an die Lippen, will trinken. Ein bedrohliches Knirschen der Naht belohnt ihn. Die alte Dame hustet stärker, bricht dann in rostiges Gelächter aus. „Oh, Entschuldigung! Aber Sie sehen wirklich zu grotesk aus, mit dieser Jacke ... Wo haben Sie die bloß her?!“ Spike wird rot. „Hat mir ein Kumpel geliehen. Der wohnt hier um die Ecke, da bin ich eben noch schnell vorbei. Marvin hat mich auf dem Handy erwischt, ich war schon unterwegs. Er meinte, für den Termin bei Ihnen sollte ich passend...“ „Oh bitte, ziehen Sie dieses Ding aus!“ Die alte Dame räuspert sich. „Wo wir gerade von Marvin sprechen. Sie bekommen sicher dasselbe?“ „Ja, er sagte am Telefon, es gäbe dreihundertfünfzig dafür, dass ich Ihnen heute Abend Gesellschaft leiste...“ „Stimmt.“ Die alte Dame streckt sich, angelt einen Umschlag vom Sekretär neben dem Sofa, legt ihn auf dem Tisch. „Hier. Und bitte, jetzt ziehen Sie endlich die Jacke aus!“ Marvin Spike öffnet die Knöpfe, schält sich aus der schwarzen Katastrophe, legt sie neben sich über die Lehne des Sessels und verstaut dann den Umschlag mit dem Geld in der Gesäßtasche seiner Jeans.
„Wenn Sie für Marvin so kurzfristig eingesprungen sind, erzählen Sie, was hatten Sie denn ursprünglich für Pläne, heute Abend?“ Marvin nimmt die Flasche vom Tisch, stellt sie auf seinem Oberschenkel ab, schaut zu, wie sie sich zwischen seinen Händen dreht. „Nun, ich wollte eigentlich zu einem Seminar ... an der Kunsthochschule. Ich ... es macht mir Spaß zu malen, wissen Sie? Heute wäre da ein geiler Kurs gewesen... Aber ist schon okay, die Flocken, ich meine, das Geld kann ich gut gebrauchen.“ „Sie sind Maler?“ „Neeee“ antwortet er gedehnt, „eigentlich mach ich eine Lehre zum Maler und Lackierer bei meinem Vater. Ich werde in ein paar Jahren den Betrieb übernehmen. Naja, ist ja irgendwie ähnlich...“
Die alte Dame runzelt die Stirn, schaut ihn nachdenklich an. „Warum malen Sie?“ “ Warum...“ Spike zögert, denkt nach „Hey, das muss irgendwie sein. Hinter die Fassade schauen, das Wirkliche aufs Papier bringen. Es eben ... genau richtig machen. Das ist es, denke ich. Aber das werde ich dann eben später...“ „Nonsens.“ Die alte Dame steht auf und tritt ans Fenster. Einen Moment steht sie dort, blickt schweigend in die Dunkelheit. „Sie erinnern mich an ihn.“ Spike schaut fragend auf.„An wen?“ „An einen Mann, den ich früher kannte. Er war auch Maler, so wie Sie. Er war unstet, vom Leben verletzt, ein Träumer und ein Habenichts. Und er war ... bezaubernd. Wie sagten sie eben: einfach richtig. Er wollte mich malen. Wollte ein Aktbild von mir machen, meinte, ich sei so schön ... nun, kurz und gut, ich war zu feige. Ich hätte dann nicht mehr zurück gekonnt in mein geregeltes Leben...“ Eine ganze Weile lang steht sie am Fenster. Spike wartet schweigend. Schließlich dreht sich die alte Dame zu ihm um. „Würden Sie mich malen?“ „Ich? Einen Akt ... von Ihnen? Fuck! Ich weiß nicht...“ Die alte Dame strafft sich, steht nun sehr gerade. „Ich zahle selbstverständlich dafür. Sagen wir“ sie geht zum Sekretär, zieht eine Schublade auf, legt ein paar Scheine auf den Wohnzimmertisch. „Sagen wir fünfhundert?“ Spike schaut auf die Geldscheine, in ihr Gesicht, dann wieder auf die Scheine. Er schluckt. „O.k., ja, ich versuche es. Geht in Ordnung.“
Während sich die alte Dame entkleidet, holt er seine Tasche aus dem Flur. Als er zurück kommt ins Wohnzimmer, steht sie vor ihm – nackt, hat die Haare gelöst. Er schaut zu Boden, langsam tasten sich seine Augen an ihr empor. Schmale Füße mit verkrümmten Nägeln. Schlanke, bleiche Waden unter einem Netz aus blau-schwarzen Adern. Knochige Knie, darüber faltig gewordene Oberschenkel. Ihre hervorstehenden Beckenknochen umrahmen eine schüttere Scham. Im Bogen windet sich die Taille bis zu den Rippen. Die Brüste, halb verdeckt durch langes, weißes Haar, hängen tief, schlaff geworden und kaum noch gepolstert, mit länglichen, dunklen Brustwarzen. Der Hals thront auf knochigen Schulter, lang und gerade stützt er das alte Gesicht, dessen faltiger Überwurf von hohen Wangenknochen gehalten, ein paar klare blaue Augen trägt. Das Alter hat seine Spuren hinterlassen, und doch...“Sie sind schön.“
Sicher jetzt, nimmt er Block und Stift in die Hand. „Bitte, gehen Sie zum Sofa. Legen Sie sich hin...nein, nein, nicht die Haare nach vorne, so kann ich Sie ja nicht richtig ... ja, so ist es gut!“ Er setzt sich ihr gegenüber. „Erzählen Sie mir von ihm, während ich male...“ Und sie beginnt mit leuchtenden Augen und entrücktem Blick zu erzählen.
Lange zeichnet er konzentriert. Es ist spät geworden. Die alte Dame ist mit einem weichen Lächeln auf den Lippen eingeschlafen. Immer wieder wandert sein Blick zwischen Modell und Blatt hin und her. Schließlich legt er den Stift beiseite. Streckt sich. Tritt dann leise zum Sofa, deckt die Frau behutsam zu. Er streicht ihr eine Strähne ihres Haares aus dem Gesicht, betrachtet sie einen Moment. Dann trennt er die fertige Seite aus den Block, legt sie auf den Wohnzimmertisch.
Eine junge Frau streckt lächelnd die Hand aus, den Blick auf jemanden jenseits des Bildes gerichtet. Ihre Brust der nahenden Berührung entgegengestreckt, ein Lächeln auf den feuchten, leicht geöffneten Lippen. Ihre ganze Haltung so erwartungsvoll, dass er fast den Blick abwenden möchte, um die Intimität nicht zu stören.
Leise sammelt er seine Sachen ein. Dann nimmt er den keltischen Knoten vom Ohr, beschwert damit die losen Geldscheine auf dem Tisch und geht.
erste Version:
Unschlüssig bleibt er stehen, schaut noch mal auf den Zettel in seiner Hand. Ja, hier ist er richtig.
Ein gepflegtes Anwesen mit einem akkurat bepflanzter Vorgarten. Einmal atmet er noch tief durch, dann drückt er den Klingelknopf. Nach einem kurzen Moment geht das Licht im Eingangsbereich an, die Tür öffnet sich. „Guten Abend... ähm... ich komme vom Begleitservice...sie hatten angerufen, ich...mein Name ist Marvin.“ Die ältere Dame an der Tür schaut ihn einen Moment lang prüfend an, zögert kurz und öffnet dann vollends. „Bitte, kommen Sie herein.“
Während sie seine Jacke und seine Tasche an die Garderobe hängt, hat er Zeit, seine Kundin zu mustern. Schlank ist sie, hält sich sehr gerade. Sie trägt ihr weißes Haar in einem akkuraten Knoten am Hinterkopf. Er schätzt sie auf Mitte siebzig.
Sie dreht sich um, macht eine einladende Handbewegung. „Kommen sie doch ins Wohnzimmer...Bitte.“ Ein anheimelnder Raum erwartet ihn. Dezente Farben, elegantes, aber bequem anmutendes Mobiliar. Ein kleiner Weihnachtsbaum steht festlich geschmückt in der Ecke vor dem Fenster. Die Lichterkette ist dunkel.
„Kann ich Ihnen etwas anbieten? Ein Glas Wein vielleicht? Einen spanischen Roten?“ „Ja, ja gerne. Ein Glas Wein wäre schön.“ Er dreht den Zettel in seiner Hand, steckt ihn dann in die Hosentasche. „Entschuldigung, aber ich weiß nicht recht....ich“ Er zieht den Zettel wieder hervor, faltet ihn auseinander, glättet das Papier, faltet neu, dreht es zwischen den Fingern. „Es ist so...“ Entschlossen hebt er den Kopf, schaut die alte Dame direkt an „Sie sind meine erste Kundin heute...nein...ähm...ich meine überhaupt. Ich weiß nicht recht, wie...oh shit! - Verzeihung!“
Die alte Dame lächelt. „Wissen sie, Marvin, ich weiß es auch nicht. Dreihundertfünfzig Euro, das wäre der Preis für einen Abend, vier Stunden, sagte man mir. Ist es für sie in Ordnung, wenn sie dafür mit mir ein Glas Wein trinken und wir uns ein wenig unterhalten? Einfach nur so?“ Sie geht zum Wohnzimmertisch, hält ihm einen Umschlag hin, schaut ihn fragend an.
„Ja...ähm...natürlich!“ Schnell nimmt er den Umschlag und verstaut ihn in seiner Gesäßtasche. Währenddessen nimmt die alte Dame zwei Kristallgläser aus dem Schrank, stellt sie zu dem bereits dekantierten Wein auf den Tisch, schenk ein. Marvin setzt sich ihr gegenüber auf die Kante einen Sessel.
„Bitte, erzählen sie doch von sich.“
Zunächst ein wenig stockend beginnt Marvin zu erzählen. Anekdoten aus seinem Freundeskreis, kleine Alltagsgeschichte. Die alte Dame hört aufmerksam zu, nimmt gelegentlich eine Schluck Wein, stellt hin und wieder ein Zwischenfrage. „Was machen Sie beruflich?“
Marvin streckt sich, legt ein Bein über die Armlehne des Sessels. „Nun, ich studiere Medizin. Mein Vater ist Arzt, verstehen sie? Aber eigentlich...ich bin Maler. Ich experimentiere gern. Man kann das Innere eines Menschen aus Papier bringen, wissen Sie?! Wenn man genau hinsieht, sieht man die Farben, die Formen, kann den Moment einfangen, seine Vollkommenheit...“
Er holt tief Luft, schließt die Augen, atmet langsam aus. „Aber ich werde mich besser auf das Studium konzentrieren um die Praxis meines Vaters übernehmen zu können, die Malerei werde ich später...“
„Nonsens!“ Die alte Dame steht auf und tritt ans Fenster. Einen Moment steht sie dort, blickt schweigend in die Dunkelheit. Dann dreht sie sich zu Marvin. „Würden sie mich malen?“ Marvin schaut erstaunt auf. „ Bitte?“
„Würden sie mich malen?“ energisch wiederholt sie die Frage.
„Ja,...sicher....wenn sie möchten. Ein Portrait?“ Marvin schaut in ihre klaren, prüfend blickenden Augen. „Sehen Sie, ich bin eine alte Frau. Ich weiß, was es heißt, eine Chancen verpasst zu haben, weil man glaubte, es wäre gerade nicht richtig. Es gab einmal einen Menschen in meinem Leben...oder eigentlich hätte es ihn in meinem Leben geben können. Er war Künstler...hat auch gemalt, so wie sie. Er war brillant. Aber er war unstet, vom Leben verletzt. Ein Träumer...und ein Habenichts. Ich war damals gebunden, erfolgreich, hab meine Pflichten erfüllt. Und ich war gut darin! Ich bin über ihn gestolpert, es war nicht vorgesehen...und war bezaubert von seiner Kunst. Er wollte mich malen. Einen Akt. Hat mich mehrfach gebeten. Ich...hatte nicht den Mut. Wusste ich doch, das ich nach dieser Nähe nicht mehr zurück gekonnt hätte...So hab ich ihm seinem Wunsch nicht erfüllt und mir diesen Mann verboten. Und nun schauen sie sich um.“ Sie hebt den Arm, deutet mit der ausgestreckten Hand um sich. „Schauen Sie. Ich bin erfolgreich geblieben. Und doch bin ich, wie dieser Weihnachtsbaum dort. Ohne Licht, ohne Glanz. “ Sie faltet die Hände, blickt ihn an.
„Ich frage sie noch mal: würden sie mich malen, so wie er es damals wollte?“ Marvin nickt stumm.
Während sich die alte Dame entkleidet, holt er seine Tasche aus dem Flur. Als er zurück kommt ins Wohnzimmer steht sie vor ihm – nackt, hat die Haare gelöst. Er schaut zu Boden, langsam tasten sich seine Augen an ihr empor. Ihre Beine, das Becken, die Brüste halb verdeckt durch langes, weißes Haar, das faltige Gesicht mit den klaren, blauen Augen. Das Alter hat seine Spuren hinterlassen, und doch...“sie sind schön!“
Sicher jetzt, mir ruhiger Hand öffnet er seine Tasche, holt Block und Stift heraus. „Bitte, gehen sie zum Sofa. Legen sie sich hin...nein, nein, nicht die Haare nach vorne, so kann ich sie ja nicht richtig...ja, so ist es gut!“ Er setzt sich ihr gegenüber. „Erzählen sie mir von ihm, während ich male...“ Und sie beginnt mit leuchtenden Augen und entrücktem Blick zu erzählen.
Lange zeichnet er konzentriert. Es ist spät geworden. Die alte Dame ist mit einem weichen Lächeln auf den Lippen eingeschlafen. Immer wieder wandert sein Blick zwischen Modell und Blatt hin und her. Schließlich legt er den Stift beiseite. Streckt sich. Tritt dann leise zum Sofa, deckt die Frau behutsam zu. Er streicht ihr eine Strähne ihres Haares aus dem Gesicht, betrachtet sie einen Moment. Dann trennt er die fertige Seite aus den Block. Legt sie auf den Wohnzimmertisch.
Eine junge Frau streckt lächelnd die Hand aus, den Blick auf eine Person jenseits des Bildes gerichtet. Ihre Brust der nahenden Berührung entgegengestreckt, ein Lächeln auf den feuchten, leicht geöffneten Lippen. Ihre ganze Haltung so erwartungsvoll, das er fast den Blick abwenden möchte, um die Intimität nicht zu stören.
Leise sammelt er seine Malutensilien zusammen, geht. Im Türrahmen wendet er sich noch einmal um. Er lächelt, kommt zurück ins Zimmer und schaltet die Beleuchtung des Weihnachtsbaumes ein. So ist es richtig. Dann zieht er den Umschlag aus der hinteren Hosentasche legt ihn zu dem Bild auf den Tisch. Leichten Schrittes verlässt er das Haus. Auf der Straße bleibt er stehen, atmet tief durch, wirft einen Blick zurück. Durch die Fenster des Wohnzimmers schimmern die unzähligen Lichter des Baumes. Für einen Moment lang ist ihm so, als würde er deutlich eine Silhouette im Raum sehen, die sich über das Sofa beugt...
Lächelnd macht er sich auf den Heimweg.