Christine

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
Peter

Beitragvon Peter » 07.11.2007, 22:15

Christine
(ein verwischtes Portrait)



Ihre Augen waren sehr groß. Wenn sie sah, waren das drei vier Augen, die sahen. Vier: Ihr Silberblick. Drei: ihr Gedanke. Die leise Verschiebung, immer. Ihre Genauigkeit, die zugleich verschwommen war. Einblick in die Doppelheit der Dinge.

Wenn man nur einfache Augen gewohnt war, fand man sich irritiert; als sähe sie dich dahinter, hinter dir, verschwommen und doch genau. Du – Wo? Ein Spiegel, in dem das Gegenüber sich verlangsamt, Spuren annimmt, Figuren beschreibt, die es selbst aber nicht erkennt und die auch im Spiegel nicht zur Erkenntnis reichen. Wissend war Christine nie. Sie schaute.

Sie sah Übergänge im Traum, die ihr aus den Händen gerieten. Etwas begann, und wie es ihr schien, begann es nur deshalb, um über sie hinaus zu werden. Wechsel, beschleunigt, Räume, die schneller wurden, ein Überfluss, Lebewesen einmal, die aus ihr stiegen, in ihr pochten, leben wollten, Stimmen. Sie, Christine, selbst die Ursache, und doch wie die Mitte in einem Karussell.

Gespräche, für sie Steigerungen, am Ende bat sie um ein Schweigen, „bitte!“. Ihr schien alles so leicht. Sie hätte die Schwerkraft verloren, sagte sie, oder den Schatten. Nichts an ihr schien ihr fest genug oder so schwer, wie es sein müsste.

Ihr Wahn, zunehmen zu wollen. Zugleich ihre Angst davor, als würde sie damit jemand anderer: „Bin ich zu dick, bin ich noch ich?“

„Heute schweigen wir!“

Einmal träumte sie von einem Boden, ein Glückstraum, Muster, Ornamente, Einzelheiten, alles „so genau, so wunderbar“. Christine... „Einmal werd ich mich versenken...“

pandora

Beitragvon pandora » 08.11.2007, 19:36

lieber peter,

ich fürchte, dass ich, wie immer, wenig zu deinem text sagen kann. wenig, weil ich ihn so nehmen muss, wie er ist. wenig, weil ich ihn nur so nehmen KANN, wie er ist. jedes wort schaut mir plausibel und einleuchtend. genau an der stelle, wo es hingehört.

zufall: ich habe gerade mit kindern "DAS KARUSSELL" von rilke besprochen, auseinanderklabüstert, wie man das halt tun muss. einmal tun wir das, habe ich den kindern gesagt. einmal, damit ihr handwerkszeug habt. ich hoffe sehr, dass sie über jamben und trochäen, zeilensprüngen, reimformen und metaphern nicht ihren gesunden kinderverstand vergessen und das gefühl. das ist immer meine große sorge.
in den drehungen des karussells jedenfalls haben sie die zeit erkannt. auch die gefahr, sich darin zu verlieren. (das war allerdings, bevor ich sie in die geheimnisse der lyrikanalyse eingeweiht habe!!!)

ich finde das pariser karussell in deinem text wieder. christine, ein blaues mädchen ?, das vergeblich versucht, sich vom ungefähren zu befreien. christine, die wahrnimmt, assoziiert - und dennoch den wunsch hat, die dinge klar zu sehen und beim (richtigen, präzisen) namen zu nennen.

lg
peh

Peter

Beitragvon Peter » 08.11.2007, 21:09

Liebe Peh,

das ist ein schöner Verweis, ich hab das Gedicht eben nochmal gelesen. Nur scheint mir ein Unterschied darin zu bestehen, dass Christine in einem sinnvollen Schwindel ist, während der Schwindel in Rilkes Gedicht aus einer Anreihung herrührt, die zwar wechselt, somit irgendwie Worte ist und Sätze, aber doch nichts sagt. Christine schwindelt vor Sinn, vor Zusammenhang, denke ich; ihr steigert sich die Wahrheit, die aber immer nur deskriptiv bleibt; Wahrheiten antworten ihr auf Wahrheiten, aber die fassbare Interpretation bleibt aus.

(An Rilkes Gedicht könnte man die Frage nach der Mitte stellen, sie, das bewegende und zugleich das schweigend Unbekannte, verstellt durch den Wechsel, aber hie und da durch Figuren zu erhaschen. Und natürlich sitzen auf den Figuren Kinder...)

Liebe Grüße,
Peter

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 13.11.2007, 22:57

Lieber Peter,

ich habe auch eine Referenz (die du auch lesen musst ,-)), von der B.-Dame, deren Buch du erst bekommen hat. Sie eine späte Geschichte geschrieben: Ihr glücklichen Augen. Dort heißt die Frau Miranda. Und ich glaube, dein Text - wenn man mich im Konkreten nicht zu Ernst nimmt - zeigt genau die andere Seite, nämlich so: In der B-Geschichte hat Miranda eine Brille, weil sie schwer zerr- und kurzsichtig ist, die sie aber immer verlegt. (kluge Kritiker sehen darin eine Künstlerseele, ich glaube, es stimmt). Aber natürlich geht es nicht gut.
Dein Text nun zeigt für mich, wie die anderen Miranda notwendig sehen, weil diese sie ja nicht sieht/sehen kann:

Ihre Augen waren sehr groß. Wenn sie sah, waren das drei vier Augen, die sahen. Vier: Ihr Silberblick. Drei: ihr Gedanke. Die leise Verschiebung, immer. Ihre Genauigkeit, die zugleich verschwommen war. Einblick in die Doppelheit der Dinge.


Wobei mir wieder hier besonders das Sprechen (Schweigen) und das Zeigen eines Menschen zusammen gefällt, ich bin geneigt zu sagen: das kannst nur du (was heißt: ich kenn keinen, der das besser kann).

Für mich schaffen die beiden Texte so zusammen, ein Geheimnis zu halten (wie eine rechte und linke Hand), ohne es fortzugeben, aber auch ohne es unausgesprochen zu lassen.

Ich weiß, wenn man die Geschichte nicht kennt, dann habe ich jetzt gar nichts gesagt. Aber das kann man ja ändern ,-)

Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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Beitragvon Klara » 14.11.2007, 08:58

off topic: Wer ist denn die B-Dame?

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Beitragvon Lisa » 14.11.2007, 18:55

Na wer wohl (dicker, fetter Finger schiebt sich Richtung Signatur) :pfeifen:
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

Peter

Beitragvon Peter » 14.11.2007, 22:34

Liebe Lisa,

leider konnte ich nur eine Zusammenfassung der Miranda-Geschichte erhaschen, aber was ich daraus las, wie Miranda z.B. eine Straßenlaterne grüßt, weil sie einen Menschen daran zu sehen glaubt (hinzu glaubt), das scheint mir auch auf Christine zu passen. Auf das Künstlerische bezogen, verbirgt sich darin wahrscheinlich das Wesen des Schaffens, dass man hinzudenkt, bzw. schon hinzu gedacht hat und nach dieser Voraussetzung überdenkt. Das Nicht Konkrete des Dinges schafft den anderen Kontext, wobei mir dass Miranda nicht nur kursichtig ist, sondern auch zerrsichtig (das wusste ich gar nicht, dass es das gibt) nochmal eine Erweiterung scheint, nämlich die, nicht nur verschwommen zu sehen, sondern das Verschwommene zudem in einen Zusammenhang zu wollen, nicht bloß zum Gegenstand, sondern in die Verschwommenheit selbst: also zur Dauer und Autonomie der Kunst.

Wo sie ein solches Versprechen fühlt und ja diese Möglichkeit in sich trägt und selbst schon Kunst ist beinah, muss sie ja glücklich sein (aber im selben auch verhindert/ be-hindert und unmöglich).

Liebe Grüße,
Peter

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 20.11.2007, 10:00

Lieber Peter,

mir geht es wie Pandora.

Ich lese deine Texte, lese sie nochmal, und kann dazu nichts Gescheites sagen. Wenn man die wenigen Kommentare betrachtet, die du bekommst, scheint es wohl mehreren Leuten so zu gehen :o)
Dir gelingt es immer wieder, eine ganz eigene, in meinen Augen schon fast mystische Erzählebene zu erreichen, die ein Höchstmaß an Phantasie beim Leser freisetzt.

Das ist in seinem 'offenen' Bild so geschlossen, dass sich Kritik an Einzelheiten im Grunde verbietet. Ich möchte mich nichtmal an eine Interpretation wagen, weil mir selbst das schon etwas zu zerstören scheint. Deine Texte wirken auf mich so fragil, dass ich mich kaum traue, beim Lesen zu feste zu atmen. Auch ist es gänzlich ohne Belang, ob ich den Inhalt zu verstehen glaube oder nicht. Es ist, als lauschte ich einer wohlklingenden Musik in einer fremden Sprache. Ich weiß nicht, wie ich das anders ausdrücken soll.

Dies ist vielleicht nicht die Art Besprechung, wie sie im Forum gewünscht ist, aber ich musste das jetzt mal - auch stellvertretend für deine anderen Texte - loswerden.

Fühle dich bitte gelesen :o)

Tom
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

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Beitragvon Ylvi » 20.11.2007, 10:44

Hallo Tom,

Dies ist vielleicht nicht die Art Besprechung, wie sie im Forum gewünscht ist

Aus meiner Sicht kann ich nur sagen, dass ich diesen Kommentar überaus bereichernd und gelungen finde.
Auch ist es gänzlich ohne Belang, ob ich den Inhalt zu verstehen glaube oder nicht.

Das ist wohl das Einzige, bei dem ich dir (für mein Lesen) widersprechen würde.

liebe Grüße smile

Peter

Beitragvon Peter » 20.11.2007, 11:03

Lieber Tom,

mir gefällt diese Art einer Besprechung, ich bin immer eine dankbare Adresse dafür. Und das ist ja merkwürdig – Du beschreibst deine Position als Leser, und wie ich lese, sehe ich darin meine Position als Schreiber wieder. Mir geht es nämlich auch so, dass ich den Atem anhalte während dem Schreiben, dass mir das zu Denkende fragil erscheint, dass ich teilhabe an einer Musik, die ich mit den Sätzen aber eher in Schatten versetze. Ich lausche – oft entdecke ich erst viel später, was ich eigentlich schrieb (und entdecke es nie ganz). Zum Beispiel fiel mir erst letztens auf, warum dieser Text mit „ein verwischtes Portrait“ untertitelt ist. Diese „Reime“ stellen sich ein, wobei diese Reime nie enden (nie enden sollen), das Wort, als der umfassende Ausdruck also, bleibt offen.

(Vielleicht wäre literarisch zu sagen, dass hier der Schreiber den Gedanken in seinem Ursprung weiterreicht. Daraus erklärt sich vielleicht dieses „Höchstmaß an Phantasie“ wie du sagst, weil es eben nichts „Fertiges“ ist (und doch).)

Danke fürs Lesen und deinen Zuspruch.

Liebe Grüße,
Peter


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Hallo Smile!

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Beitragvon Elsa » 20.11.2007, 11:05

Lieber Peter, lieber Tom,

Deine Texte wirken auf mich so fragil, dass ich mich kaum traue, beim Lesen zu feste zu atmen.


Also so eine zutreffende Wahrnehmung habe ich schon lange nicht gelesen! Ganz genau!
Ich wage mich auch nicht ran an die hochwertigen Texte.

Lieben Gruß von einem Fan

edit: ich hatte das Glück, vor vielen Jahren mit Madame I. B. und Madame I. A. zu speisen, da wir einen gemeinsamen Freund hatten. Es war sehr privat und sehr unglaublich.
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Beitragvon Ylvi » 20.11.2007, 11:12

Hallo Peter,

:blume0028: ich hatte es auch gelesen. Dafür bekommst du einen Blumenstrauß.

liebe Grüße smile

Peter

Beitragvon Peter » 20.11.2007, 11:18

Danke Smile, ich weiß ja. Auch einen Blumenstrauß: :blumen:

Liebe Elsa, das musst du jetzt aber erzählen, mit der I.B.? (Wer ist I.A.?)

(Ich bin auch ein Fan von Tom.)

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Beitragvon Elsa » 20.11.2007, 13:13

Lieber Peter,

Ich bin auch ein Fan von Tom.
Öhm, also es ist so, für Tom schwärme ich, aber Fan bin ich von dir. :mrgreen:

I.A. ist Ilse Aichinger. Und ja, die B.
Es war im Lindenkeller, ich war frische siebzehn (meine Güte!) und unser gemeinsamer Freund, ein Redakteur der Wr. Depandance vom Le Figaro, wollte uns drei zusammenbringen. Ich war damals Buchhandelslehrling in der literarischsten BH Wien, wo alle Schriftsteller hin kamen, Kaffee oder Sekt tranken und plauderten. Der besagte Freund war mein Protegé, was Kultur betraf, ich habe viel von ihm gelernt.

Wir speisten Tafelspitz (kennst du das?) und redeten über dies und das.
I.B. war eine abgerückte, unkonzentrierte Erscheinung (vielleicht dachte sie über ein neues Gedicht nach?), sie rauchte viel. I.A. eine stille, freundliche, ein bisschen Leidenden (G.E. hatte sie damals verlassen). I.B. meinte beim Abschied, ich hätte die schönsten blauen Augen, die sie je angeblickt hätten. Das war sehr nett.

Lieben Gruß
ELsa
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