Zu kalt für Mitte Mai

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moshe.c

Beitragvon moshe.c » 26.10.2007, 22:37

I .

Endlose Grashügel. Nirgendwo Bäume.
Grün leuchtet grell an den Kuppen, dort wo die untergehende
Sonne noch hinscheint. Täler versinken in Grau und Schwarz.
In der Seele zerrt die Angst: Ich werde gejagt.

Zäune, Zäune überall.
Ringsum Stacheldraht, angeschlagen an gespaltenen und
eingegrabenen Baumstücken, klafterlang.
Spüre den Jäger, wie er sich nähert: Schnell verstecken, schnell.
Unter dem Draht durch, rasch hinter den Pfahl.
Die Pfähle sind immer zu schmal.
Er kommt schon über die Kuppe, groß als Silhouette, als
Scherenschnittfigur im Lichtschein ganz schwarz, und geht
vorbei.
Er hat mich nicht gesehen.
Trotzdem, es gilt mir, immer, soweit ich denken kann, und
solange der Jäger nicht findet geht die Jagd weiter, auch
wenn es dunkel wird. Er schläft nie.

Es gibt noch andere, kleine Figuren in dünnen Hemdchen, die
ich noch nie gesehen habe, noch nie richtig.
Am Tag regiert die Angst und das Verstecken. Dann kann ich
ihre dünnen, piepsigen Stimmen hören, und ich höre sie oft.
Sie halten zu mir.
Manchmal fühle ich sie, nachts, wenn wir im Versteck liegen.
Ihre Haut an meiner, warm und nackt.

Der Jäger kommt wieder! Diesmal durch das Tal.
Ich spüre seine Schritte auf mich zu, höre die Hunde kläffen,
und renne weiter, endlos, immer am Zaun entlang,
jede Deckung ausnutzend.

1

Durch die halbgeöffneten Lider sickert Licht, mattgrau.
Licht!
Er will nichts sehen: Nein-nein!
Überall Schweiß.
Sein Herz schlägt.

Das Grau wird heller, färbt ins Braune. Wird es graubraun, oder
braungrau?
Egal, grau bleibt grau, ist wie immer.
Geräusche dringen ins Ohr, unablässig. Jemand hat einen elektrischen Schalter in die andere Position gedrückt, der Strom fließt: Autos, der Baß der Musik, Fliegen, fortwährend.
Der Kühlschrank aus der Küche. Sonst nichts.
Selbst ein Geräusch erzeugen, Rascheln, oder Hüsteln?
Wozu?
Man entsteht aus dem Schlaf, gleich wie gestern, in dem selben Zimmer, aber mit der Attitüde 'Neu'. Es heißt: Ein Tag ist da.
Und jedes Mal die gleiche Platte ohne Text, die selben Töne, Töne wie gestern.
Ein Stöhnen entwickelt sich.

Die Melodie sitzt fest, an irgendeinem Ort im Hirn.
Im eigenen!
Aufpassen, aufpassen, daß die Stimmbänder sie nicht nachsummen.
Am liebsten: Aufstehen, nach oben gehen, in die Wohnung dringen, die Platte zerbrechen, zerschmettern.
Keine Lust.
Keine Kraft. Sinnlos ist es auch. Es wird eine neue, gleiche Platte gekauft, man muß sie bezahlen.

Das Zimmer. Es drückt still.

Er merkt, er denkt.
Denken heißt wach werden. Er will nicht wach werden, wirklich nicht!
Schlafen-schlafen, endloser Schlaf, angenehme Träume, in einem Traum bleiben. In einem angenehmen, für immer. Oder eine andere Realität.
Mit Druck: Augenlider schließen, in sich dringen.
Suchen.

Nichts. Leere, uniform-grauer Nebel.
Fliegen brummen über ihm, kreisen.
Fliegen sind ahnungslos.
Auf den Rücken, dem Geräusch zu: Bssss, Bsssss. Zwei, eindeutig zwei Fliegen. Sie brummen um die Lampe!
Was interessieren Fliegen?

Er drückt die Augen weiter zu, versucht geschlossene Augen weiter zu schließen: Wieder Nebel.
Eine Lampe kristalliert sich, eiserner Haken im Gips einer Zimmerdecke. Es ist sie, ja, ja, die eigene: Der große Glasschirm blaßgrün leicht nach oben gewölbt, drei Kerzenbirnen dahinter, und der Messingstab, der sie zusammenhält.
Die Fliegen kreisen um den Stab.
Warum?
Den Blick im Messingstab postiert, die Pupillen auf die Fliegen fokussiert: Glänzendes schwarzes Chitin im Flug, Insektenaugen schillern, Flügel surren. Mechanik bewegt sich klar im Kreis.
Kein Sinn ersichtlich.
Kreisen, kreisen, seit Generationen um irgendwas. Das Geräusch entsteht automatisch. Es ist so.
Und dann: Verstehst du?

Gedanken jagen-jagen, Furcht entsteht.
Augen öffnen sich, sehen die Lampe, sehen die Fliegen nicht. Sie fliegen über den Schirm.
Er möchte keine Fliege sein.
Unwohl dreht der Körper sich zurück.
Bettfedern quietschen, das Blut zirkuliert.

Da liegt er: In seinem Ehebett zwischen weißen Laken.
Das Bett ist kein Ehebett, es gibt keine Ehe, keine Frau, nicht mehr.
Und wach ist er, unabänderlich wach. Augen können nicht geschlossen werden, Ohren auch nicht. Gleichmäßig fallen Schläge von oben, von der Baßtrommel. Schmalzig und schmachtend die Stimme, dünn, aus einem anderen Zusammenhang.
Sein Mund ist trocken, der Hinterkopf pocht, Glieder sind steif und schwer. Zuviel Alkohol, gestern, nicht nur gestern.
Man greift danach, man füllt das Glas, man trinkt die Flasche aus.
Er schwimmt darin. Er hat Mut, Pläne. Immer wieder. Er fühlt sich gut.
Irgendwann versinkt man, schläft.

Autos fahren über Kopfsteinpflaster am Haus vorbei.
Das Haus ist alt, ca. 80 Jahre. Steine, Holz, Mörtel.
Unsichtbar eingearbeitet: Muskeln, Schweiß, der Zahltag der Bauarbeiter.
Heute: Der Besitzer, Mietverträge, die Stimmen der Bewohner, manchmal, meistens Streit.
Niemand singt. Man schaltet ein, spielt ab, beschallt den Raum.

Seine Wohnung Teil einer ehemals größeren Wohnung, dünn abgetrennt durch Holz und Rigips, das Schlafzimmer zur Straße zu. Das stört immer schon, seit über einem Jahr besonders.
Er hat viel Zeit, viel Zeit zum Schlafen. Er ist arbeitslos.

Es ist Vormittag, vielleicht schon Mittag.
Er sieht zum Fenster: Graubraun wird zu Diolenstores. Plastik mit Dreck an den Fäden, von der Decke bis zum Boden.
Er sieht nach unten. Dort ist auch Plastik, preiswerte Auslegware, hellmelliert.
Tage kommen, Stück für Stück, ziehen durch den Kopf, lückenlos vierundzwanzig Stunden, quadratisch.
Manche liegen in der Erinnerung.
Er denkt an Elvira.
Eingerichtet haben sie die Wohnung gemeinsam.
Er wischt die Gedanken weg.

Elvira bleibt; klein, schwarzhaarig.
Ihr Hinter, ihre Hüften! Breit sind sie, nicht dick.
Er liebt sie.
Seine Hände an ihren Hüften, von der Seite nach hinten. Sie ist nicht dick, im Profil sogar schmal.
Die Haut, die Form, die samtene Spannung.
Das ist Frau.
Dieser Hintern, er liebt ihn, ja, liebt ihn, und wie! Streicheln, küssen, oh, und dann fahren die Hände fest, daran entlang, kneten sie, die Haut, diese Haut, Elvira, und die Zähne knabbern daran.
Manchmal, aber nur manchmal, drückt er ihre Pobacken zusammen und öffnet sie wieder, ganz langsam.
Das ist schön, ist Offenbarung!
Sie will es, daß er sie so sieht.
Das ist ohne Worte, heimlich, nur zwischen ihnen.
Wirklich nur zwischen ihnen?
Der Atem seufzt bis in den Bauch, einmal, zweimal.
Gefühle treiben Gedanken.

Der Körper dreht sich um hundertachzig Grad zur Wand. Sein Blick streift Schrank, Schminkkomode, Hocker: Alles Esche natur, Erbstücke von seinen Großeltern, Nachkriegsanschaffung weitergegeben an das junge Paar.
Elvira's Gesicht ist mißmutig, ihr Mund schmal:
'Alte-Leute-Möbel', und: 'Zu hell.', manchmal: 'Rentner - Schlafzimmer.'
Niemals läßt sie locker. Sie kennt die Großeltern garnicht, nichtmal das Grab.
Mit ihr zum Grab, nienals! Sie haßt Vergänglichkeit.
Er auch.
Sie liebt das Gegenwärtige: Die Moderne, die Jugend, usw. Er auch.
Sie möchte alles festhalten, konservieren.
Er möchte es leben. mehr leben, auskosten, austrinken bis auf den Grund.
Sie will Sicherheit.
Er lacht.

Dabei: Er erzählt viel.
Der Großvater: Rektor, pensioniert, immer mit Krawatte, auch im Wald. Möglichst jeden Tag Vögel hören, Pflanzensamen finden, dazu das Kurkonzert vom Ort im Tal. Und er der Bub, dem er Natur erklärt.
Klar, logisch, benannt, erkannt.
Ordnung überall.
Wir erkennen sie!

Die Großmutter: Weiße Schürze, Kostüme, Blusen, stöhnt über die Hüfte und die Hitze, und Frau Kutzer, die mit dem Terrier.
Außerdem: Kochen, backen, wischen. Zweimal in der Woche kommt die Bedienerin, dann wird viel geredet.
Das Radio am Abend: Holz, glänzend lackiert, aus schwarzem Glas die Skala, hellbrauner Stoff verdeckt den Lautsprecher, und dann das magische grüne Auge.
Der Großvater sitzt nach vorn gebeugt davor, in Weste, die wenigen Haare verrutscht, ein Ohr mit der Hand dem Lautsprecher zugeschoben, hört überlaut Weltnachrichten. Studenten demonstrieren, Politiker wollen Notstandsgesetze, der Bundespräsident sagt in Afrika: "Meine Damen und Herren, liebe Neger."

Die Großmutter in der Küche, die Hände im Schoß auf der weißen Schürze, wartet geduldig und seufzt.
Später serviert sie das Nachtmahl. Es wird über das Wetter für morgen geredet.
Seine Mutter irgenwann einmal: Der Opa kauft Pillen in der Apotheke, für die Liebe. Kann von der Oma nicht lassen, bis heute.
Er ruiniert beide.
Wochen der Überlegung: Ruiniert lange Liebe?
Er mag die Großeltern, danach sogar stärker.
Sie sind lange tot.
Er möchte nicht nachdenken, wirklich nicht.

Die Frau in der Wohnung über ihm spricht, telephoniert. Worte versteht er nicht, das kennt er schon. Sie lebt allein.
Jetzt lacht sie, keck juchzend, dann brabbelt sie, schreit spitz auf, lacht wieder.
Ein Mann ist nie zu Besuch. Jedenfalls, er hört keinen.
Ihre Stimme ist gut, aber die Figur: Richtig dick, fett. Im Treppenhaus kommt er kaum vorbei, und wenn sie Einkaufstüten dabei hat, garnicht. Dann muß er zurück, auf der Zwischenplattform warten.
Sie legt den Hörer auf, er hört das Klacken, ihre Stille.
Sofort: Elviraaa, dicht vor ihm. Sein Gesicht in ihren schwarzen halblangen Haaren. Er atmet ihren Geruch, ihren leichten Duft.
Keine andere hat so einen leichten Duft.
Seine Hände fassen in ihre Haare, zausen gegen den Strich.
Elvira ist warm, Elvira ist fest.
Sie fordert ihn, bietet ihm Widerstand, und sie lacht.

Dann ist sie nicht mehr da.
Nur noch Autos, Fliegen, Musik.
Elvira ist nur Erinnerung.
Trauer in den Gliedern, bis in die letzte Zelle nur Trauer.
Er sieht Rauhfasertapete, matt, öde-weißes Papier. Sinnlos klebt es an der Wand, ja, lächerlich.

Er tapeziert, Elvira hilft. An blanken Drähten die Glühbirne von der Decke, der Raum hell und unfertig. Er erklärt: Zuschneiden, kleistern, und wie man Tapeten anbringt. Bahn für Bahn bekleben sie die Wand.
Sie lachen viel.
Und wenn sie ihm eine Tapetenbahn reicht, spreizt sie die kleinen Finger ab, wie andere, wenn sie eine Tasse Kaffee zum Mund führen. Er nimmt ihre winzigen Finger, küßt sie, bestaunt sie. Er kann nicht anders.
So klein sind sie, daß er sich nicht vostellen kann, wie sie funktionieren. Von einem Finger machen sie Gipsabdrücke.
Später hält er das Ergebnis in der Hand: Es ist ein Schatz, Abdruck dessen, was für ihn Frau ist, Inbegriff des Weiblichen, Liebe zum anderen und doch gleichen.

Ein Gipsfinger liegt in einem Schuhkarton im Schrank.
Und wo ist sie?
Und Michael, sein Sohn?
Ihr Kind, wie sie meint.

Der Baß von oben schlägt in seine Nerven. Tränen kommen nicht. Schritte sind zu hören, das Knarren der Dielen über ihm. Autos fahren weiter, die da oben geht weiter.
Ignorant ist es, Schritt für Schritt. Die Welt übergeht ihn vollständig.

Er sieht nah und klar: Viel Bett, viel leeres Bett, Kopfkissen, Zudecke, schön ordentlich gefaltet, bereit für jemanden.

Er holt sie wieder: Elvira, hier, neben ihm, er fühlt sie, er liebt sie, konkret. Elvira, warm und knochig, immer wieder, immer wieder sie.
Er stupst sie mit der Nase, wie er sie immer mit der Nase stupst, fällt in einen Kuß mit ihr. Das ist langvermißte Nahrung.
'Du.', flüstert sein Mund, 'Du.'

Vor sich hat er nur Tapete.
Nein, das kann nicht sein.
Elvira ist da, er sieht sie doch, er riecht sie doch. Seine Hände greifen nach ihr. Er fühlt sie an seiner Brust, ihre Rippen, wie sie atmen, und wie sie lacht. Sie lacht und schreit: 'Ja, komm.', vor Lust. Sie will ihn, sie nimmt ihn.
Elvira, Elvira.

Niemals traf man sich.
Man will sich, man liebt sich, man sucht sich. Man dringt ineinander.
Man bleibt allein.
Es ist Illusion.
Man sieht sich allenfalls, man spürt sich, mehr oder weniger.
Vielleicht sind Kinder die Verbindung ?

Die Dielen über ihm knarren und knacken. Dort oben, da geht sie gleichmäßig auf und ab, nein, nicht sie, nicht Elvira, sondern die, die dort oben wohnt, erzeugt das Geknarre und Geknacke.
Bedrohlich die Schritte, diese nackten Füße.
Sie müßten nackt sein, wie sich das anhört, schwielig-breite Frauenfüße auf Holz, über seinem Schlafzimmer.
Es ist ihm trocken im Hals. Er hustet.
Es knackt laut dort oben. Schweißige Frauenfüße auf den Rippen eines Brustkorbs, und er sieht ihre Waden.
Je weiter er hinaufschaut, desto massiger wird es: Dicke Schenkel, Hänge-Bauch, riesiger Busen.
Vom Busen wird er schier erdrückt, dann sieht er gerade noch ein
fettes Kinn, Nasen-Höhlen, eine schweißbeperlte Stirn, Pickel, und darüber Locken, steif, durch Haarspray in Draht verwandelt.

Sie geht auf und ab. Dielen biegen sich, knarren und knacken, Dann bricht sie durch, bricht durch den Plafond seines Schlafzimmers. Gips bröckelt, Bretter brechen, und sie fällt neben ihn, in sein Bett. Die gefaltete Bettdecke, tief eingedrückt. Zipfel streben in die Gegenrichtung, und sie rückt näher, grient ihn an.

Mein Gott, das ist auch eine Frau, denkt er.
Still kommen ihre Hände auf ihn zu, fassen nach seinem Gesicht.
"Nein!", schreit er, "Nein, nicht!"
Mit einem Ruck sitzt er aufrecht und schlägt nach den Händen:
"Nein, ich will keine Frau, keine von oben, und keine Elvira."

Gast

Beitragvon Gast » 26.10.2007, 23:55

Lieber moshe

ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, wenn ich gern wüsste, warum du diesen Text erneut postest. Es kann durchaus gute Gründe geben, aber vielleicht würde es auch für dich sinnvoll sein, den alten Faden zu verlinken oder ihn vorzuholen, damit alle Kommentare gebündelt sind. :smile:

http://www.blauersalon.net/online-liter ... &highlight

Im Juni 2006 hast du diesen Text schon im Salon unter dem Titel: "Erwachen" vorgestellt.

Mir kam "Elvira" gleich so bekannt vor beim Lesen. ;-)

Beim ersten Teil, den du erneut unter dem Titel: "Vom Jäger" noch ein weiteres Mal unter : " Zu kalt für Mitte Mai" erneut unter Kurzprosa gespostet hast, ist mir das nicht aufgefallen.
Möglich, dass ich in 2006 auch erst konzentriert den II Teil gelesen habe, der vielleicht spektakulärer ist.

Nachtgrüße
Gerda

moshe.c

Beitragvon moshe.c » 27.10.2007, 00:09

Liebe Gerda!

Ich verstehe dich.

Die Begründung liegt im Kom von Anette zum Jäger.

Soweit

Moshe

PS.: Ich hätte einen Link setzen soilen. Das wäre sinnvoller gewesen.


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