Acactl

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 26.09.2007, 10:55

Ben schwitzte.
Es tropfte in seine Augen, brannte. Mit der Machete trennte er einen Streifen vom Shirt ab und band ihn sich um den Kopf.
Und er stank.
Alle sagten, er solle nicht wochenlang ungewaschen herumlaufen. Er würde verrotten, verfaulen, unkten sie. Ben wusste es besser. Acactl wusste es besser.
Mit dem Rauchen war es nicht anders.
„Du bist erst achtzehn“, jammerte die Großmutter, „paffst drei Päckchen am Tag und bekommst Lungenkrebs. Warum putzt du nie deine Zähne? Sie werden dir ausfallen! Wasch dich wenigstens alle zwei oder drei Tage!“
Er kratzte sich zwischen den Beinen. Sie kapierte nichts! Beschützt von Acactl konnte er machen, was er wollte. Hundert Jahre würde er werden oder mehr, egal, was die anderen sagten. Es war entsetzlich heiß im Dschungel. Die mannshohe Pflanze, die ihm im Weg stand, hackte er mit einem kraftvollen Schlag um. Zack! Schon lag sie am Boden.
„Nicht mit mir“, murmelte er, „keiner kann mich aufhalten, den heiligen Weg zu beschreiten.“
Saft tropfte aus den Schnittstellen. Sah wie Blut aus. Ben lachte. Weiter. Er musste weiter. Zum Schamanentempel. In Bens linker Schädelhälfte meldete sich das vertraute Pulsieren. „Wenn du mir gehorchst, bist du unsterblich, egal, was du treibst.“ Acactl mochte nicht, dass Ben sich mit Kleinigkeiten aufhielt. Ben nickte und bahnte sich den Weg mit der Machete.

Gestern hatten sie seinen Geburtstag gefeiert.
„Du bist nun volljährig, mein Junge!“, sagte die Großmutter, als sie ihn besuchte. Sie weinte. Wahrscheinlich tat ihr leid, was sie getan hatte.
Er hatte bei ihr gelebt, seit dem Tod seiner Mutter vor sechs Jahren. Doch letzten Monat, aus heiterem Himmel, fuhr die Rettung vor.
„Du wirst niemals wieder glücklich sein, Oma! Acactl verflucht dich, denn du hast mich verstoßen!“ Er stampfte auf den Paneelen herum, die er während der Nacht von den Wänden seines Zimmers gerissen hatte. „Ich musste das tun, verstehst du das nicht, du alte Kuh? Hinter der Wand ist der Ausgang zum Tempel“, schrie er, während die Sanitäter ihn auf der Liege im Auto fixierten.

In der Klinik für Seelenfrieden liefen nur echte Verrückte herum. Er verdrehte die Augen, als er an diesen Komiker dachte, der mit „Kaiser Nero“ angesprochen werden wollte. Lächerlich, wie auch ein gewisser Kurt, der von einer Panik in die nächste fiel, wenn er aufs Klo musste.
„Meine Seele fällt mit der Scheiße aus meinem Körper raus“, schrie er andauernd.

Niemand verstand, dass Ben im Gegensatz dazu auf dem Weg der Erleuchtung war!

Auf einer Techno-Party, bei der er Ekstasy probiert hatte, war Acactl in ihn eingedrungen. Seither wies er Ben an, beriet ihn. Er hatte ihm die Augen geöffnet. Auch über den Tod seiner Mutter. Alle logen ihn an. Es hieß, sie sei an einer Überdosis gestorben.
Acactl erzählte ihm die Wahrheit. „Sie ist abgehauen, weil sie keine Lust hatte, für dich zu sorgen.“
Ben wusste, dass er ihn niemals täuschen würde. Wütend schlug er einer Pflanze, die mit ihren Zweigen nach ihm angelte, den Kopf ab. Einen Moment wunderte er sich, woher plötzlich diese Einkaufsstraße mit den vielen Menschen mitten im Dschungel kam, dann verschwand sie aber wieder hinter den Urwaldriesen und Lianen. Er kämpfte sich weiter den schmalen Pfad entlang.
„Ist nur Einbildung, Ben. Du bist auf dem Weg zu meinem Tempel, um unsterblich zu werden.“
Ben lachte laut und schwang die Machete. „Logo. Wenn es bloß nicht so heiß wäre … außerdem habe ich Hunger.“
Acactl war ein großer Zauberer. Vielleicht der größte überhaupt, denn kaum hatte Ben den Wunsch geäußert, stand er vor einem Imbiss. Der Würstchenverkäufer wich zurück; bestimmt erkannte er die Macht, die von dem heiligen Mann in Bens Kopf ausging. Nachdem der Typ offenbar nicht in der Lage war, ihn zu bedienen, versorgte er sich selbst, nahm eine schöne Wurst vom Grill, klatschte Mayo und Ketchup ins Brötchen und griff nach einer Cola.
Ben fand einen bequemen, umgestürzten Baum, der fast wie eine Bank aussah. Es schmeckte ihm. Die Bude verschwand.
Acactl grinste, Ben spürte es genau. „So lange du an mich glaubst, ist alles gut, Ben. Und ich sage dir, du leidest nicht an paranoider Schizophrenie, wie sie dir einreden wollen. Alles Lügner.“
„Genau!“, antwortete Ben.
Sie wollten ihn vergiften. Vertrauensvoll hatte er einige Wochen die Pillen geschluckt. Dreimal täglich. Bald bemerkte er, dass er müde und dick davon wurde. Ab da verbarg er sie unter der Zunge und spuckte sie ins Klo, sobald der Pfleger das Zimmer verlassen hatte.
Weil er scheinbar so brav gewesen war, hatte Ben heute mit Oma die Klinik verlassen dürfen, um etwas Schönes von ihrem Geburtstagsgeld zu kaufen.
Unterwegs hatte ihm die Stimme den Auftrag erteilt, im Afrikashop eine Machete zu erstehen, damit er sich den Dschungelpfad frei schlagen konnte, der zum Tempel führte.
Kurzerhand entriss Ben seiner Oma die Handtasche und schmiss sie ihr vor die Füße, nachdem er die Geldbörse herausgenommen hatte. Er konnte viel schneller laufen als Oma, und schon hatte er Acactls Befehl ausgeführt.

Als er den letzten Bissen in den Mund stopfte, wurde er von hinten gepackt.
Zurück in der Klinik schüttete Ben sich aus vor Lachen, als der Weißmantel sagte: „Ben, Sie haben heute mit Ihrer Machete zwei Menschen geköpft und drei weitere schwer verletzt. Wissen Sie das?“
Ben wischte die Lachtränen von seinen Wangen.
„Sie sind ab sofort auf der geschlossenen Abteilung untergebracht.“
Die Injektionsnadel piekste.
„Wir werden Sie nun ruhig stellen.“
„Was für ein Idiot“, flüsterte Acactl, der eintausend Jahre alte Aztekenpriester in Bens Kopf.



Korrekturen in blau - ich bedanke mich, Jürgen


(c) Elsa Rieger
Zuletzt geändert von Elsa am 27.09.2007, 23:32, insgesamt 1-mal geändert.
Schreiben ist atmen

Jürgen

Beitragvon Jürgen » 27.09.2007, 10:52

Hallo Elsa,

das ist hier mal eine Abwechslung, ein rabenschwarzer Text. Erst dachte ich, Du hättest eine Fantasystory geschrieben, aber wahrscheinlich ist Ben wirklich schizophren. Obwohl ich immer dachte, bei dieser Krankheit wechselt der Betroffene zwischen zwei Persönlichkeiten hin und her, Bens Zustand hingegen ist permanent. Aber ich kenn mich da auch nicht wirklich aus. Die Docs werden schon wissen, was sie bei Ben diagnostiziert haben. Wenn sie da nicht falsch liegen und Acactl wirklich in Bens Kopf wohnt ;-) .

Acactl klingt in meinen Ohren sehr aztekisch. Gut ausgewählt. Ist es ein echtes aztekisches Wort oder ein Fantasieprodukt?

Am Ende würde ich unbedingt umstellen:
Zurück in der Klinik schüttete Ben sich aus vor Lachen, als der Weißmantel sagte: „Ben, Sie sind ab sofort auf der geschlossenen Abteilung untergebracht. Sie haben heute mit Ihrer Machete zwei Menschen geköpft und drei weitere schwer verletzt. Wissen Sie das?“

Das liest sich so etwas zu läppisch. Ich kann mir nicht vorstellen, dass so ein Mensch spricht.
Erst die Anklage: "Sie haben zwei Menschen geköpft, drei verletzt. Wissen Sie das?"
Als Ben darauf hysterisch lacht, erklärt der Mann, dass der Junge ab sofort in der Geschlossenen untergebracht wird.
Dann, wie auch im Text, die Spritze.

So dürfte der Aufbau meines Erachtens nach sauberer sein.


Dieser Satz:
"In der Klinik für Seelenfrieden liefen nur echte Verrückte herum."
steht etwas einsam herum.
Er lädt geradezu dazu ein, zwei Beispiele aufzuführen, die Bens Einschätzung unterstreichen und ihn bestätigen der Auserwählte von Acactl zu sein.

Mit finsterem Schmunzeln gelesen

Jürgen

Klara
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Beitragvon Klara » 27.09.2007, 12:36

... wo habe ich das denn nur schon mal gelesen? Hast du das schon mal hier eingestellt, Elsa? Oder anderswo unter anderem Namen? Kommt mir so bekannt vor...

Grüße
Klara

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 27.09.2007, 12:42

Ich habe es auf meinem Schreibblog und der Hompage. Vielleicht daher?

LG
ELsa
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Elsa
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Beitragvon Elsa » 27.09.2007, 13:00

Lieber Jürgen,

Jaaa, genau! Danke für die Vorschläge, die nehme ich. Ich habe gerade am Ende so herumgetan, furchtbar. So ist es dann gut. *freu*

aber wahrscheinlich ist Ben wirklich schizophren. Obwohl ich immer dachte, bei dieser Krankheit wechselt der Betroffene zwischen zwei Persönlichkeiten hin und her, Bens Zustand hingegen ist permanent.
Bei paran. Schiz. ist der Zustand permanent da, sofern keine Medikamente genommen werden.

Aber wer weiß schon, ob der Acactl (ja, der Name ist erfunden, gut, nech? :-) ) nicht wirklich ....
Wenn wir uns an den Naturvölkern (vor allem den Indianern) orientieren, dann ist Schiz. keine Krankheit, sondern ein geöffnetes Tor zu besonderen Wahrnehmungen. Da könnt es hinkommen mit deiner Überlegung.

Über
Dieser Satz:
"In der Klinik für Seelenfrieden liefen nur echte Verrückte herum."
steht etwas einsam herum. Er lädt geradezu dazu ein, zwei Beispiele aufzuführen, die Bens Einschätzung unterstreichen und ihn bestätigen der Auserwählte von Acactl zu sein.
denke ich noch ein bisschen nach, wie es zu lösen wäre.

Vielen Dank und liebe Grüße
ELsa
Schreiben ist atmen

Rala

Beitragvon Rala » 27.09.2007, 22:58

Hallo Elsa!

Finde ich gut geschrieben und sehr unterhaltsam. Vom Inhalt her traue ich mich allerdings nicht, das zu beurteilen, weil ich keine Ahnung habe, was sich bei so einem Menschen wirklich im Kopf abspielt ... Von daher finde ich es auch mutig, dass du die Innenperspektive von Ben gewählt hast. Weiß nicht, ob ich mich so was trauen würde.
Aber ganz unabhängig davon, wie gesagt: guter Text, mal was anderes, gern gelesen.

Liebe Grüße,
Rala

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 27.09.2007, 23:28

Hallo Rala,

danke fürs Lesen und Lob! Ja, ich kann dir versichern, es ist so bei bestimmten Ausformungen des Krankheitsbildes.

Lieben Gruß
ELsa

PS: Ich stelle nun die überarbeitete Fassung nach Jürgens Anregungen (danke, Jürgen!) ein.
Schreiben ist atmen

Mucki
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Beitragvon Mucki » 27.09.2007, 23:29

Liebe Elsie,

ich kenne und schätze deinen "Acactl" ja schon länger, aber sag mal, das Ende hast du verändert, oder trügt mich meine Erinnerung?
Saludos
Mucki

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Elsa
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Beitragvon Elsa » 27.09.2007, 23:35

Liebe Mucki,

Ja, du kennst ihn, als er noch "schwülstiger" war :-)

Nein, das Ende war immer so.

Danke, dass du ihn schätzst!

Lieben Gruß
ELsie
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