Ausgeruht
Verfasst: 25.09.2007, 16:12
Ausgeruht
Viele Menschen verdrängen alles, was mit dem Tod –zumal dem eigenen- zusammenhängt. Bei den Schönenborns war das anders.
Seit mehr als hundert Jahren hielt die Familie eine Gruft in bester Lage eines parkartigen, mit alten Bäumen bestandenen Friedhofs. Inmitten des mit Immergrün bepflanzten Grabbeetes saß ein Marmorengel und wachte über die Gebeine mehrerer Generationen von Schönenborns.
Mit längerem zeitlichem Abstand hatten die Schwestern Edeltraut und Hildegard, beide geborene Schönenborns, ihre beiden Ehemänner verloren und in diesem Grab beisetzen lassen. Die Schönenbornsche Grabstätte war auf vier Särge ausgerichtet. Nach ihrem eigenen Tod würden die beiden Schwestern nachfolgen, so war es seit langem geplant. Sie stellten es sich angenehm vor, friedlich neben ihren Ehemännern und im Kreis der übrigen Ahnen der Ewigkeit entgegenzuschlummern.
Natürlich hatten weder Edeltraut noch ihre drei Jahre jüngere Schwester vor, diese freien Plätze in nächster Zeit in Anspruch zu nehmen. Beide erfreuten sich bester Gesundheit und hatten die Absicht, es sich nach dem Tod ihrer geliebten Ehemänner als Witwen noch ein paar Jahre gemütlich zu machen.
Die Schwestern unternahmen Einkaufsbummel, gaben Kaffeegesellschaften und fuhren mit ihrem Wagen ab und zu ins Grüne. Zweimal in der Woche besuchten sie den Engel und zupften das Immergrün zurecht. „Probeliegen“ nannte das ihr Großneffe, der den beiden ab und zu einen Besuch abstattete, wenn er in der Stadt war.
Es war Mittwoch, Hildegard und Edeltraut kamen gerade von einem ihrer Friedhofsbesuche zurück, als ebendieser Neffe anrief und die traurige Mitteilung machte, seine Mutter sei in der Nacht gestorben.
Derartige Nachrichten nahmen die Schwestern nicht besonders schwer. In ihrem Alter waren Sterben und Tod nichts Ungewöhnliches und nach ihrer Schönenbornschen Familienmeinung eine reine Frage der Vorbereitung und Organisation. Außerdem hatte man aufgrund einer unschönen, jedoch lang zurückliegenden, Familienzwistigkeit zu dieser Cousine keinen Kontakt mehr gepflegt.
Im Umgang mit Trauerfällen routiniert, orderten die Schwestern umgehend einen stattlichen Kranz blassrosa Rosen in der Friedhofsgärtnerei sowie eine schwarze Schleife mit rührender Inschrift in silbrigen Lettern. Die Bestattung würde auf dem gleichen Friedhof stattfinden, auf dem der Schönenbornsche Engel im Immergrün saß.
Hildegard bürstete gerade ihr Beerdigungskostüm aus und Edeltraut war mit dem Bügeln ihrer schwarzen Trauerbluse beschäftigt, als das Telefon klingelte. Es war der Neffe.
Als Hildegard das Gespräch beendet hatte und zu ihrer Schwester ans Bügelbrett trat, war sie bleich und konnte kaum sprechen. Edeltraut führte sie zu ihrem gestreiften Biedermeiersofa und brachte ihr ein Glas Wasser. „Nun erzähl doch“, sagte sie zu ihrer starr und stumm auf dem Sofa sitzenden Schwester, „was ist passiert?“
“Besetzt!“, Hildegard stammelte. „Besetzt! Sie will in unserer Gruft beerdigt werden!“ Sie begann zu schluchzen.
„In unserer Gruft?“, fragte Edeltraut fassungslos.
In den Unterlagen der Cousine hatte man das Testament desjenigen Schönenborn vorgefunden, der die Grabstätte vor mehr als hundert Jahren erworben hatte. Dieser hatte verfügt, dass in das Schönenborn-Grab in chronologischer Reihenfolge Einzug gehalten werden sollte. Wer starb, hatte Anspruch auf einen der vier Plätze. Vorausgesetzt, es war einer frei. Die Cousine war als Nächste an der Reihe gewesen und hatte ihrerseits testamentarisch verfügt, dass sie den freien Platz unbedingt in Anspruch nehmen wollte. So einfach war das.
„Und wir? Was soll aus uns werden?“ Hildegard war deprimiert. Die beiden Frauen saßen zusammen auf dem Sofa und waren mit ihrem Latein am Ende. Auf die gemeinsame Grabruhe hatte man sich jahrzehntelang gefreut. Alles war im Detail durchdacht. Eine Gärtnerfirma hatte man bereits damit beauftragt, den Immergrün zu zupfen, wenn die Schwestern einmal nicht mehr waren. In der Schublade des Steinmetzmeisters lag fix und fertig der Entwurf für die Inschrift, es fehlten nur noch die Sterbedaten. Und jetzt? Jetzt drängte sich diese Person dazwischen.
In ihren schwarzen Kostümen gingen die Schwestern zur Beerdigung. Als der Sarg versenkt wurde, schluchzten sie laut und verzweifelt auf. Der Neffe schaute irritiert. Schließlich war das Verhältnis zwischen den Schwestern und seiner verstorbenen Mutter nie besonders eng gewesen.
Nach der Bestattung zogen die Schwestern die traurige Bilanz: Nur eine von ihnen würde Platz im Familiengrab finden. Logischerweise diejenige, die als erste starb. Nun wollte keine der Schwestern, bei allem Hang zu Bestattungen und Friedhofsangelegenheiten, früher aus dem Leben scheiden, als unbedingt notwendig. Nichts lag ihnen ferner.
Bei aller schwesterlichen Liebe wollte jedoch auch keine von beiden der Schwester den freien Platz überlassen. Ein Kampf um Leben und Tod entbrannte zwischen Edeltraut und Hildegard. Nach außen merkte man nichts. Die Schwestern lebten freundlich miteinander. Sie brachten um einiges mehr an gegenseitiger Fürsorge auf, als unter Schwestern gemeinhin üblich. Aufopfernd sorgten sie dafür, dass der anderen nur ja nichts passierte, dass die andere nur bloß nicht krank wurde.
Hildegard pflegte Edeltraut in den folgenden Jahren liebevoll über einen leichten Herzinfarkt, eine Bypass-Operation und eine unangenehme „Frauensache“ hinweg. Edeltraut selbst kümmerte sich rührend um ihre Schwester, als diese beim Fensterputzen von der Leiter gefallen war, und stand ihr bei einer schweren Lungenentzündung zur Seite. Aufgrund ihrer robusten Konstitution gab es im „Rennen um den Tod“, der Neffe hatte den skurrilen Wettkampf seiner Tanten so getauft, keine Gewinnerin.
Der fünfundzwanzigste Todestag von Hildegards Ehemann war für die Schwestern, beide inzwischen weit in den 90ern, ein feierlicher Tag: Nach 25 Jahren galt die „Ruhezeit für Leichen“, wie es die Friedhofsverwaltung nüchtern nannte, als abgelaufen. Er hatte „ausgeruht“. Der ersehnte Platz war somit frei.
Die Schwestern saßen an diesem Abend bei einer Flasche Sekt nebeneinander auf ihrem Sofa. Edeltraut las wie jeden Abend in der Apothekerzeitung. Hildegard beschäftigte sich einmal mehr mit ihrem Gesundheitsratgeber, als ein Anruf die abendliche Eintracht störte.
Es waren die städtischen Kliniken. Der Neffe hatte einen schweren Autounfall. Er war auf dem Weg zu der sonderbaren Feier seiner Tanten gewesen.
Die Schwestern bestellten sich eine Taxe. Inzwischen fuhren sie nicht mehr bei Dunkelheit mit ihrem Wagen und außerdem waren sie viel zu aufgeregt. Schließlich war dieser Neffe ihr einziger Verwandter.
Als Hildegard und Edeltraut ins Krankenzimmer traten, lag er inmitten der vielen blinkenden Monitore und piepsenden Maschinen in seinem Bett.
Er öffnete die Augen. Als er die Schwestern sah, lächelte er schwach. Leise flüsterte er: „Besetzt!“, und schloss die Augen für immer.
Viele Menschen verdrängen alles, was mit dem Tod –zumal dem eigenen- zusammenhängt. Bei den Schönenborns war das anders.
Seit mehr als hundert Jahren hielt die Familie eine Gruft in bester Lage eines parkartigen, mit alten Bäumen bestandenen Friedhofs. Inmitten des mit Immergrün bepflanzten Grabbeetes saß ein Marmorengel und wachte über die Gebeine mehrerer Generationen von Schönenborns.
Mit längerem zeitlichem Abstand hatten die Schwestern Edeltraut und Hildegard, beide geborene Schönenborns, ihre beiden Ehemänner verloren und in diesem Grab beisetzen lassen. Die Schönenbornsche Grabstätte war auf vier Särge ausgerichtet. Nach ihrem eigenen Tod würden die beiden Schwestern nachfolgen, so war es seit langem geplant. Sie stellten es sich angenehm vor, friedlich neben ihren Ehemännern und im Kreis der übrigen Ahnen der Ewigkeit entgegenzuschlummern.
Natürlich hatten weder Edeltraut noch ihre drei Jahre jüngere Schwester vor, diese freien Plätze in nächster Zeit in Anspruch zu nehmen. Beide erfreuten sich bester Gesundheit und hatten die Absicht, es sich nach dem Tod ihrer geliebten Ehemänner als Witwen noch ein paar Jahre gemütlich zu machen.
Die Schwestern unternahmen Einkaufsbummel, gaben Kaffeegesellschaften und fuhren mit ihrem Wagen ab und zu ins Grüne. Zweimal in der Woche besuchten sie den Engel und zupften das Immergrün zurecht. „Probeliegen“ nannte das ihr Großneffe, der den beiden ab und zu einen Besuch abstattete, wenn er in der Stadt war.
Es war Mittwoch, Hildegard und Edeltraut kamen gerade von einem ihrer Friedhofsbesuche zurück, als ebendieser Neffe anrief und die traurige Mitteilung machte, seine Mutter sei in der Nacht gestorben.
Derartige Nachrichten nahmen die Schwestern nicht besonders schwer. In ihrem Alter waren Sterben und Tod nichts Ungewöhnliches und nach ihrer Schönenbornschen Familienmeinung eine reine Frage der Vorbereitung und Organisation. Außerdem hatte man aufgrund einer unschönen, jedoch lang zurückliegenden, Familienzwistigkeit zu dieser Cousine keinen Kontakt mehr gepflegt.
Im Umgang mit Trauerfällen routiniert, orderten die Schwestern umgehend einen stattlichen Kranz blassrosa Rosen in der Friedhofsgärtnerei sowie eine schwarze Schleife mit rührender Inschrift in silbrigen Lettern. Die Bestattung würde auf dem gleichen Friedhof stattfinden, auf dem der Schönenbornsche Engel im Immergrün saß.
Hildegard bürstete gerade ihr Beerdigungskostüm aus und Edeltraut war mit dem Bügeln ihrer schwarzen Trauerbluse beschäftigt, als das Telefon klingelte. Es war der Neffe.
Als Hildegard das Gespräch beendet hatte und zu ihrer Schwester ans Bügelbrett trat, war sie bleich und konnte kaum sprechen. Edeltraut führte sie zu ihrem gestreiften Biedermeiersofa und brachte ihr ein Glas Wasser. „Nun erzähl doch“, sagte sie zu ihrer starr und stumm auf dem Sofa sitzenden Schwester, „was ist passiert?“
“Besetzt!“, Hildegard stammelte. „Besetzt! Sie will in unserer Gruft beerdigt werden!“ Sie begann zu schluchzen.
„In unserer Gruft?“, fragte Edeltraut fassungslos.
In den Unterlagen der Cousine hatte man das Testament desjenigen Schönenborn vorgefunden, der die Grabstätte vor mehr als hundert Jahren erworben hatte. Dieser hatte verfügt, dass in das Schönenborn-Grab in chronologischer Reihenfolge Einzug gehalten werden sollte. Wer starb, hatte Anspruch auf einen der vier Plätze. Vorausgesetzt, es war einer frei. Die Cousine war als Nächste an der Reihe gewesen und hatte ihrerseits testamentarisch verfügt, dass sie den freien Platz unbedingt in Anspruch nehmen wollte. So einfach war das.
„Und wir? Was soll aus uns werden?“ Hildegard war deprimiert. Die beiden Frauen saßen zusammen auf dem Sofa und waren mit ihrem Latein am Ende. Auf die gemeinsame Grabruhe hatte man sich jahrzehntelang gefreut. Alles war im Detail durchdacht. Eine Gärtnerfirma hatte man bereits damit beauftragt, den Immergrün zu zupfen, wenn die Schwestern einmal nicht mehr waren. In der Schublade des Steinmetzmeisters lag fix und fertig der Entwurf für die Inschrift, es fehlten nur noch die Sterbedaten. Und jetzt? Jetzt drängte sich diese Person dazwischen.
In ihren schwarzen Kostümen gingen die Schwestern zur Beerdigung. Als der Sarg versenkt wurde, schluchzten sie laut und verzweifelt auf. Der Neffe schaute irritiert. Schließlich war das Verhältnis zwischen den Schwestern und seiner verstorbenen Mutter nie besonders eng gewesen.
Nach der Bestattung zogen die Schwestern die traurige Bilanz: Nur eine von ihnen würde Platz im Familiengrab finden. Logischerweise diejenige, die als erste starb. Nun wollte keine der Schwestern, bei allem Hang zu Bestattungen und Friedhofsangelegenheiten, früher aus dem Leben scheiden, als unbedingt notwendig. Nichts lag ihnen ferner.
Bei aller schwesterlichen Liebe wollte jedoch auch keine von beiden der Schwester den freien Platz überlassen. Ein Kampf um Leben und Tod entbrannte zwischen Edeltraut und Hildegard. Nach außen merkte man nichts. Die Schwestern lebten freundlich miteinander. Sie brachten um einiges mehr an gegenseitiger Fürsorge auf, als unter Schwestern gemeinhin üblich. Aufopfernd sorgten sie dafür, dass der anderen nur ja nichts passierte, dass die andere nur bloß nicht krank wurde.
Hildegard pflegte Edeltraut in den folgenden Jahren liebevoll über einen leichten Herzinfarkt, eine Bypass-Operation und eine unangenehme „Frauensache“ hinweg. Edeltraut selbst kümmerte sich rührend um ihre Schwester, als diese beim Fensterputzen von der Leiter gefallen war, und stand ihr bei einer schweren Lungenentzündung zur Seite. Aufgrund ihrer robusten Konstitution gab es im „Rennen um den Tod“, der Neffe hatte den skurrilen Wettkampf seiner Tanten so getauft, keine Gewinnerin.
Der fünfundzwanzigste Todestag von Hildegards Ehemann war für die Schwestern, beide inzwischen weit in den 90ern, ein feierlicher Tag: Nach 25 Jahren galt die „Ruhezeit für Leichen“, wie es die Friedhofsverwaltung nüchtern nannte, als abgelaufen. Er hatte „ausgeruht“. Der ersehnte Platz war somit frei.
Die Schwestern saßen an diesem Abend bei einer Flasche Sekt nebeneinander auf ihrem Sofa. Edeltraut las wie jeden Abend in der Apothekerzeitung. Hildegard beschäftigte sich einmal mehr mit ihrem Gesundheitsratgeber, als ein Anruf die abendliche Eintracht störte.
Es waren die städtischen Kliniken. Der Neffe hatte einen schweren Autounfall. Er war auf dem Weg zu der sonderbaren Feier seiner Tanten gewesen.
Die Schwestern bestellten sich eine Taxe. Inzwischen fuhren sie nicht mehr bei Dunkelheit mit ihrem Wagen und außerdem waren sie viel zu aufgeregt. Schließlich war dieser Neffe ihr einziger Verwandter.
Als Hildegard und Edeltraut ins Krankenzimmer traten, lag er inmitten der vielen blinkenden Monitore und piepsenden Maschinen in seinem Bett.
Er öffnete die Augen. Als er die Schwestern sah, lächelte er schwach. Leise flüsterte er: „Besetzt!“, und schloss die Augen für immer.