Zum letzten Mal

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moana

Beitragvon moana » 10.03.2006, 18:37

Ganz unverhofft erfasst mich wieder diese dumpfe Traurigkeit. Die Wände sind nun schon fast alle abgeräumt. Fast leer. Nur graue Schatten lassen noch erahnen, wie schön geschmückt sie waren. Damals. Heute. Eine Träne rinnt sanft über meine heiße Wange, als würde sie mich trösten wollen. Sie landet in meinem Mundwinkel. Ich habe nicht die Kraft dazu, sie aufzulecken. Das mache ich sonst immer. Heute nicht. Heute stehe ich einfach nur da und starre die weiß-graue Wand an. Dreizehn Jahre lang ist sie meine persönliche Wand gewesen. Es haben schon unzählige Poster, Fotos und Bilder daran gehangen. Immer meine. Von mir. Für mich. Nun ist die Wand so anonym, leer. Auch ich fühle mich leer, als seien meine Vergangenheit und meine Persönlichkeit freiwillig mit den Gegenständen, Stück für Stück, in die Kisten gewandert. Schöne alte Welt, ich will dich nicht verlassen. Ich muss seufzen. Es ist fast schon ein Schluchzen. Ich stelle bedauernd fest, dass es nie beim Alten bleibt. Es ändert sich immer etwas. Diesmal ist es ja nur mein Leben, denke ich mit einem ironischen Lächeln. Was macht das schon, die Gewohnheit wird mich ohnehin bald wieder einholen. Die Realität. Die Gegenwart? Jetzt jedoch bin ich traurig. Loslassen, das muss ich. Darin bin ich noch nie gut gewesen. Aber wer ist das schon? Ich starre noch immer auf die Wand. Sie sieht mich aus vorwurfsvollen Augen an, ja, tatsächlich. Wände haben keine Augen? Und schauen können sie auch nicht? Doch, denn dieses Zimmer war mein Freund. Ist mein Freund! Noch bin ich hier! Und noch werde ich kämpfen und leben, bis zum Schluss. So sage ich mir das ständig. Ich freue mich schon irgendwie auf die neue Wohnung. Aber die alte Wohnung ist doch mein Zuhause! Bis jetzt ist der Gedanke an die neue Wohnung einfach ein Spielplatz zum Austoben der eigenen Kreativität. Klar, macht es Spaß zu streichen. Zu planen und in Gedanken schon verzieren, einräumen, umstellen. Aber für immer hier weg? Langsam löst sich meinen Blick von der geliebten Wand. Er wandert weiter, zur nächsten Wand. An ihr hängt noch ein Spiegel. Als ich hineinsehe, sehe ich wieder vorwurfsvolle Augen. Es sind jedoch meine eigenen. Warum, fragen sie. Warum musst du weg. Bleib doch hier, hier ist doch dein Zuhause. Ja, antworte ich. Aber manchmal muss man auch von Zuhause weg. Urlaub machen. Ich bin verwirrt über meine eigenen Gedanken. Ich kann die Realität noch nicht erfassen. Noch nicht glauben. Will sie nicht glauben. Schuldgefühle packen mich. Die neue Wohnung kann doch nichts dafür. Hat sie nicht eine Chance verdient? Vielleicht wird sie ja noch besser und noch schöner. Und ich werde sicherlich wieder viele Sachen in ihr erleben. Das Leben geht schließlich weiter. Und doch- ich werde niemals meinen ersten Kuss in ihr erleben. Mein erstes Mal. Mein erstes Gedicht, meine erste Geschichte. Werde nicht mein erstes Vier-Stunden-Telefonat in ihr führen können. Das erste Mal, das ein Junge bei mir übernachtet. Das erste Mal, das eine Freundschaft zerbricht. So viel Tränen habe ich in die Kissen geweint, die auf dem Bett in der Ecke liegen. So viele Rosen habe ich liebevoll an die Wände geklebt. Ich kann sie doch nicht wieder abhängen? Sie gehören zum Zimmer! Ich gehöre zum Zimmer! Es tut weh. Lasse ich das Zimmer zurück, leer und verlassen, lasse ich auch einen Teil von mir selbst zurück. Ich fühle mich jedoch noch nicht bereit dazu. Warum müssen wir hier fort, frage ich mich. Frage ich in Gedanken meine Mutter. Auch sie antwortet mir, vorwurfsvoll und traurig. Weil du es so wolltest. Vor Schreck wende ich mich vom Spiegel ab. Ja, ich bin es gewesen, die sich beschwert hat. Die Nervenzusammenbrüche erlitten hat. Die geweint und gefleht hat. Doch jetzt, wo es fast soweit ist, will ich plötzlich nicht mehr. Zumindest bin ich mir nicht mehr so sicher. Es kostet so viel Zeit. So viel Energie. Und vor allem Geld. Eigentlich ziehen wir doch hauptsächlich des Geldes wegen aus. Weil es einfach zu teuer wird. Ist das die Wahrheit? Ich gehe einen Schritt zurück. Weiche vor meinen eigenen Gedanken zurück. Werde prompt von der Realität wieder eingeholt, denn ich stolpere über einen Umzugskarton. Es ist der mit den Bildern. Beim Zusammenstoß ist der Karton aufgegangen und ich werde von einem Foto angesehen. Mit vorwurfsvollen Augen. Es ist mein Kater. Er ist vor fast 10 Jahren gestorben. Auch hier, in dieser Wohnung. Eine weitere Träne fließt aus meinen verschleierten Augen. Ich lecke sie diesmal auf. Eine weitere Erinnerung entfaltet sich. Und noch eine. Mit jeder Träne, die mir übers Gesicht läuft, kommen weitere Erinnerungen. Ich muss mich setzen, muss mich anlehnen. Wanke blind zum Bett, wo ich schon so oft meine Tränen vergossen habe. Dort werde ich nun ein letztes Mal weinen. Um mein Zuhause, das ich verliere. Um mich, die ich hier zurücklassen muss. Ich weine auch ein bisschen vor Freude. Dass wir uns endlich nicht mehr diesen Terror anhören müssen. Dass ein neuer Lebensabschnitt kommt. Eine neue Herausforderung, die es zu bewältigen gilt. Es wird ja alles beim Alten bleiben. Meine Freunde. Meine Gewohnheiten. Mein Leben. Bis darauf, dass ich nun eine Weile nicht mehr zu Hause sein kann. Aber auch das wird sich ändern. Hoffe ich. Ich kann nicht mehr an dem Alten festhalten. Ich muss aufgeben. Ich resigniere, stehe mechanisch auf. Die Tränen sind versiegt. Dann verabschiede ich mich und gehe. Ziehe ein letztes Mal die Haustür hinter mir zu. Höre ein letztes Mal die untere Türe hinter mir langsam und schwer zuschlagen. Sehe hoch zu den Fenstern, die mich wie leere Augenhöhlen anstarren. Vorwurfsvoll. Klagend. Warum verlässt du uns, fragen sie. Ich weiß es nicht, antworte ich ihnen. Ich weiß es nicht. Dann atme ich ein letztes Mal aus. Und bin fort.

Maija

Beitragvon Maija » 10.03.2006, 21:46

Hallo moana,

So ein Umzug kann einen schon ganz schön hart treffen, weil man seine gewohnte Umgebung oft nicht verlassen will und jeder neue Schritt tut weh, aber es kann ein Schritt nach vorne sein.
Eine schöne Geschichte die sich schön liest und ich habe nichts gefunden was ich ändern würde. Die Kurzgeschichte steht für sich klar und deutlich und man kann schön mitfühlen, dass ist für mich immer ein wichtiger Aspekt zum weiter lesen. :thumbleft:

Gruß Maija

moana

Beitragvon moana » 11.03.2006, 13:59

Vielen Dank Maija, mir selbst geht es nicht so schlimm, obwohl wir gerade umziehen, aber ich habe mir die dichterische Freiheit genommen und das ganze ein bisschen dramatisiert. Schön, dass es auch gut rüberkommen ist und überzeugend, das soll es natürlich auch sein. Vielleicht mache ich daraus auch eine Biographie, mal schaun! Du motivierst mich total dazu mit deiner Geschichte von der kleinen Maija!! gruß und schönes Wochenende, moana

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 13.03.2006, 14:53

Hallo moana,
auch ich finde, dass der Ton deiner Geschichte die Sache trifft und von einem Auszug erzählt, der mehr ist als der aus einer Wohnung, wobei ich von mir auch das Phänomen kenne, gerade solche Empfindungen an Dingen festzumachen. Sehr gelungen!

Sprachlich ist mir aufgefallen, dass das Wort vorwurfsvoll recht häufig fällt, vielleicht kann mane s durch passende synonyme etc. ersetzen.

moana

Beitragvon moana » 15.03.2006, 11:14

Hallo Lisa!

Ich danke dir vielmals für deinen Kommentar! Das Wort "vorwurfsvoll" war absichtlich so häufig eingesetzt, da es so etwas wie der rote Faden sein soll, die komplette Stimmung des Gedichts im Hingergrund bestimmen soll. Trotz Traurigkeit und Freude und allem ist immer dieser Vorwurf dabei. Wenn es dennoch zu viel ist, kann ichs nochmal durchgehen.

grüßerl moana

Luvya

Beitragvon Luvya » 16.03.2006, 21:10

Liebe moana,
ich hab beim Lesen eine richtige Gänsehaut bekommen. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich selbst bald umziehen muss und mir nicht so wohl dabei ist, aber ich kann die Gefühle im Text sehr gut nachvollziehen. Danke dafür, ich freu mich schon auf weitere Sachen von dir :smile:.
Übrigens glaub ich, wir haben eine ähnliche Art zu schreiben. Vielleicht ist dir das beim Lesen meines Textes auch aufgefallen. Wir gehen beide von Sinneseindrücken aus und schildern Gefühle und Gedanken, die daraus entstehen, manchmal auch nur in Teilsätzen. Und eigene Gefühle zu dramatisieren ist immer noch die beste Inspirationsquelle. Was meinst du dazu?

Rayo del Sol

Beitragvon Rayo del Sol » 17.03.2006, 10:24

Liebe moana,

obwohl ich selber nie so empfunden habe - mein Umzug hat mich mit uneingeschränkter Freude erfüllt - konnte ich mich sehr gut hineinversetzen. Gut beschrieben!

Liebe Grüße
Rayo del Sol

moana

Beitragvon moana » 17.03.2006, 11:10

!Hey Luvya,

habe gerade deinen Text kommentiert und las dann das hier! Lustig...aber: da könntest du durchaus recht haben :grin: ! Das zeigt mir, dass ich nicht ganz alleine dastehe und man meine Text wohl auch nachvollziehen kann :mrgreen: Danke für den Kommentar!


Hallo Sonnenstrahl,

danke dir auch für deinen Kommentar. Wie gesagt: So schlimm war's bei mir nicht, aber um einen Text produzieren zu können muss man halt seinen Stoff aus der Fantasie nehmen. Wobei es mir wirklich schwer gefallen ist.

Einigermaßen gut eingelebt inzwischen und endlich wieder ein wenig Luft für das Forum habend,

eure moana


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