Pssst, Opa schreibt!
Verfasst: 19.09.2007, 00:49
Endfassung
Pssst, Opa schreibt!
Immer, wenn meine Oma mir diesen Satz zuflüsterte, hatte ich mucksmäuschenstill zu sein. Meist sprach sie ihn gar nicht mehr aus, sondern legte nur den Zeigefinger auf ihre Lippen, um dann wie ein Geist durch das Haus zu schweben. Manchmal dachte ich, sie hielt sogar den Atem an. Beklommen lauschte ich der Stille im Haus.
Schon als Kleinkind brachten mich meine Eltern mit dem Auto ein paar Mal im Jahr zu meinen Großeltern. Die Fahrt dauerte über fünf Stunden. Ich blieb meist für zwei Wochen zu Besuch. Jedes Mal wunderte ich mich, wie viele Stunden Opa täglich in seinem rund angelegten Wintergarten mit den hohen Fenstern und der enormen Kakteensammlung verbrachte. Bücher stapelten sich in allen Winkeln. In den überquellenden Regalen fanden sie keinen Platz mehr. Er saß an einem kleinen Holztisch und schrieb immer mit Bleistift. Eine mit Leder überzogene, längliche Dose enthielt etliche und alle waren gespitzt. Er benutzte dafür ein metallenes Gerät mit einer Kurbel.
Ohne, dass er mich bemerkte, beobachtete ich ihn aufmerksam durch die geschlossene Glastür. Ich war inzwischen zehn Jahre alt. Meinem Opa zuzuschauen, war für mich aufregender als mit den Nachbarskindern zu spielen. Auf meinem Schoß lagen aufgeschlagene Schulhefte. Wenn meine Oma mich argwöhnisch fragte, was ich denn da zu suchen hätte, zeigte ich auf meine Hefte und erntete ein lächelndes „Fleißiges Kind!“
Mal hockte er einfach nur so da, den Stift in der Hand drehend, die Augen geschlossen. Die Falten auf der Stirn zeugten von tiefer Konzentration. Dann wieder raufte er sich die Haare, ging unruhig auf und ab. Er redete dann laut, ja fast schimpfend, mit sich selbst. Oder aber er schrieb wie besessen. Weit vorgebeugt saß er da, seine Hand fegte hektisch über das Papier. Oft zerknüllte er das Geschriebene fluchend, um nach dem nächsten Zettel zu greifen. Zwischendurch spitzte er immer wieder seine Stifte, auch wenn sie schon spitz waren und deshalb brachen.
Sein heiliges Reich. Niemand durfte es betreten. Nicht einmal meine Oma. Ich hatte einen Heidenrespekt vor Opa. Er strahlte Autorität aus und konnte ziemlich aufbrausend werden. Aber manchmal lachte ich insgeheim über ihn, dachte an einen zerstreuten Professor. Er vergaß ständig irgendetwas, begann einen Satz, brach ihn abrupt ab, schüttelte den Kopf und ging wortlos fort. Niemand im Haus fragte nach, jeder ließ ihn tun, was er wollte.
Zugang verboten. Bisher hatte ich mich brav daran gehalten. Doch meine Neugierde wuchs und war schließlich größer als die Angst, erwischt zu werden. Als Opa einmal außer Haus war und Oma sich hingelegt hatte, nutzte ich den Moment, um in seinem Allerheiligsten zu stöbern. Vorsichtig sah ich mich um. Ich wusste, dass er pedantisch jeden Block, jedes Buch an einem bestimmten Platz aufbewahrte, durfte also nichts verändern. Sonst gäbe es ein Donnerwetter allererster Güte. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Kartons mit tausenden von losen Blättern standen herum, der Boden war übersät von zerknüllten Zetteln und Bleistiftfasern. Wann er wohl das letzte Mal den Spitzer entleert hatte? Wie auf rohen Eiern bewegte ich mich und zupfte vorsichtig das unterste Blatt aus einem Stapel auf seinem Schreibtisch. Es würde ihm bestimmt nicht auffallen. Schnell versteckte ich es unter meinen Pulli und verließ mit einem neidischen Blick den gläsernen Raum. So ein Spielzimmer müsste man haben! Nur würde Mutti solch eine Unordnung nicht dulden. Oma sagte mal zu mir, als ich sie darauf ansprach: „Opa braucht das, um zu schreiben.“
Merkwürdig, das habe ich nie verstanden.
Ich rannte in meine Kammer und schaute mir aufgeregt den eroberten Schatz an. Meine Güte, was für eine krakelige Handschrift. Trotzdem konnte ich sie mühelos lesen. Aber, was hatte er da bloß geschrieben? Ich begriff kein einziges Wort, wollte aber unbedingt den Sinn dahinter erkennen, um meinen Opa zu verstehen, um ein bisschen in seine Welt einzutauchen, die mir so fremd vorkam. Ich wartete, bis ich hörte, dass Oma aufgestanden war, nahm all meinen Mut zusammen und zeigte ihr den Zettel. Entrüstet sah sie mich an.
„Gabi! Wie kannst du es wagen? Selbst ich habe noch niemals etwas von ihm gelesen!“
„Ich bringe es sofort wieder zurück. Versprochen! Aber sag mir, was das bedeutet, bitte!“, drängte ich.
„Opa schreibt Gedichte, das weißt du doch“, meinte sie nur.
„Lies es doch mal und erklär es mir!“, quengelte ich.
Sie gab nach, nahm das Papier und stutzte.
"Ich kann kein einziges Wort entziffern“, sagte sie verblüfft.
„Wieso das denn nicht?“ Ich las es ihr vor und schaute sie hoffnungsvoll an. Doch offenbar waren Opas Zeilen auch für sie ein Rätsel. Sie schüttelte nur den Kopf.
„Leg es schnell wieder zurück!“
Zu spät. In diesem Moment kam mein Opa herein und mit ihm das befürchtete Donnerwetter. Wütend riss er mir das Blatt aus der Hand und ging Richtung Arbeitszimmer, blieb jedoch plötzlich stehen.
„Du kannst meine Schrift lesen?“ Sein Unterton signalisierte noch nicht verrauchten Zorn, aber auch Überraschung.
„Ja, warum fragst du?“, meinte ich kleinlaut.
„Du bist die Einzige, die das kann“, murmelte er und verzog sich für den Rest des Tages in sein Atelier.
Am nächsten Morgen fragte er mich, ob ich eine Schreibmaschine bedienen könnte. Es müsste nicht perfekt sein. Hauptsache gedruckt. Er selbst hätte dafür keine Zeit. Ich bejahte freudig. So hatte ich doch etwas erreicht mit meiner Neugierde! Von da an durfte ich seine handschriftlichen Texte auf einer alten Schreibmaschine abtippen. Ich war so stolz darauf, auch wenn sich mir der Inhalt seiner Gedichte nie erschlossen hat. Ihn zu fragen, traute ich mich nicht.
Viele Jahre sind vergangen, mein Opa ist vor langer Zeit gestorben und ich habe keine Ahnung, wo all seine Werke geblieben sind. Ich möchte sie unbedingt lesen. Ich werde sofort meine Tante anrufen und sie fragen, wo sich seine Gedichte befinden. Ich muss sie einfach haben. Heute werde ich seine Zeilen und meinen Opa verstehen.
Das Gespräch mit Tante Agnes war ziemlich entmutigend. Sie meinte, dass Opas Manuskripte bei einer Überschwemmung vernichtet worden seien. Die Einzige, die vielleicht noch etwas von ihm besitzen könnte, wäre meine Cousine Karin. Ich rief sie umgehend an. Treffer! Ihr Sohn Manuel hatte tatsächlich einen Karton mit Gedichten und etlichen Novellen meines Opas gerettet! Er würde die Texte für mich einscannen und auf CD brennen. Was für eine Freude!
Heute früh bekam ich eine Email von Karin. Die CD sei an mich unterwegs! Es ist lange her, dass ich so sehnsüchtig auf Post gewartet habe wie in diesen Tagen.
2. Fassung
Pssst, Opa schreibt!
Immer, wenn meine Oma mir diesen Satz zuflüsterte, hatte ich mucksmäuschenstill zu sein. Meist sprach sie ihn gar nicht mehr aus, sondern legte nur den Zeigefinger auf ihre Lippen, um dann wie ein Geist durch das Haus zu schweben. Manchmal dachte ich, sie hält sogar den Atem an. Beklommen lauschte ich der Stille im Haus.
Viele Stunden täglich verbrachte mein Opa in seinem rund angelegten Wintergarten mit den hohen Fenstern und der enormen Kakteensammlung. Bücher stapelten sich in allen Winkeln. In den überquellenden Regalen fanden sie keinen Platz mehr. Er saß an einem kleinen Holztisch und schrieb immer mit Bleistift. Eine mit Leder überzogene, längliche Dose enthielt etliche und alle waren gespitzt. Er benutzte dafür ein metallenes Gerät mit einer Kurbel. Ohne, dass er mich bemerkte, beobachtete ich ihn aufmerksam durch die geschlossene Glastür. Mal hockte er einfach nur so da, den Stift in der Hand drehend, die Augen geschlossen. Die Falten auf der Stirn zeugten von tiefer Konzentration. Dann wieder raufte er sich die Haare, ging unruhig auf und ab. Er redete dann laut, ja fast schimpfend, mit sich selbst. Oder aber er schrieb wie besessen. Weit vorgebeugt saß er da, seine Hand fegte hektisch über das Papier. Oft zerknüllte er das Geschriebene fluchend, um nach dem nächsten Zettel zu greifen. Zwischendurch spitzte er immer wieder seine Stifte, auch wenn sie schon spitz waren und deshalb brachen.
Sein heiliges Reich. Niemand durfte es betreten. Nicht einmal meine Oma. Ich hatte einen Heidenrespekt vor Opa. Er strahlte Autorität aus und konnte ziemlich aufbrausend werden. Aber manchmal lachte ich insgeheim über ihn, dachte an einen zerstreuten Professor. Er vergaß ständig irgendetwas, begann einen Satz, brach ihn abrupt ab, schüttelte den Kopf und ging wortlos fort. Niemand im Haus fragte nach, jeder ließ ihn tun, was er wollte.
Zugang verboten. Für eine Zehnjährige ruft dies eine unsagbare Neugierde auf den Plan, größer als die Angst, erwischt zu werden. Ich nutzte die erstbeste Gelegenheit, um in seinem Allerheiligsten zu stöbern. Opa war außer Haus. Vorsichtig sah ich mich um. Ich wusste, dass er pedantisch jeden Block, jedes Buch an einem bestimmten Platz aufbewahrte, durfte also nichts verändern. Sonst gäbe es ein Donnerwetter allererster Güte. Kartons mit tausenden von losen Blättern standen herum, der Boden war übersät von zerknüllten Zetteln und Bleistiftfasern. Wann er wohl das letzte Mal den Spitzer entleert hatte? Wie auf rohen Eiern bewegte ich mich und zupfte vorsichtig das unterste Blatt aus einem Stapel auf seinem Schreibtisch. Es würde ihm bestimmt nicht auffallen. Schnell versteckte ich es unter meinen Pulli und verließ mit einem neidischen Blick den gläsernen Raum. So ein Spielzimmer müsste man haben! Nur würde Mutti solch eine Unordnung nicht dulden. Oma sagte mal zu mir, als ich sie darauf ansprach: „Opa braucht das, um zu schreiben.“
Merkwürdig, das hab ich nie verstanden.
In der Kammer, in der ich schlief, wenn ich hier zu Besuch war, schaute ich mir meinen eroberten Schatz an. Meine Güte, was für eine krakelige Handschrift. Trotzdem konnte ich sie mühelos lesen. Aber, was hatte er da bloß geschrieben? Ich begriff kein einziges Wort, wollte aber unbedingt den Sinn dahinter erkennen, um meinen Opa zu verstehen, um ein bisschen in seine Welt einzutauchen, die mir so fremd vorkam. Ich nahm all meinen Mut zusammen und ging zu Oma, zeigte ihr den Zettel. Entrüstet sah sie mich an.
„Gabi! Wie kannst du es wagen? Selbst ich habe noch niemals etwas von ihm gelesen!“
„Ich bringe es sofort wieder zurück. Versprochen! Aber sag mir, was das bedeutet, bitte!“, drängte ich.
„Opa schreibt Gedichte, das weißt du doch“, meinte sie nur.
„Lies es doch mal und erklär es mir!“, quengelte ich.
Sie gab nach, nahm das Papier und stutzte.
„Ich kann kein einziges Wort entziffern“, sagte sie verblüfft.
„Wieso das denn nicht?“ Ich las es ihr vor und schaute sie hoffnungsvoll an. Doch offenbar waren Opas Zeilen auch für sie ein Rätsel. Sie schüttelte nur den Kopf.
„Leg es schnell wieder zurück!“
Zu spät. In diesem Moment kam mein Opa herein und mit ihm das befürchtete Donnerwetter. Wütend riss er mir das Blatt aus der Hand und ging Richtung Arbeitszimmer, blieb jedoch plötzlich stehen.
„Du kannst meine Schrift lesen?“ Sein Unterton signalisierte noch nicht verrauchten Zorn, aber auch Überraschung.
„Ja, warum fragst du?“, meinte ich kleinlaut.
„Du bist die Einzige, die das kann“, murmelte er und verzog sich für den Rest des Tages in sein Atelier.
Am nächsten Morgen fragte er mich, ob ich eine Schreibmaschine bedienen könnte. Es müsste nicht perfekt sein. Hauptsache gedruckt. Er selbst hätte dafür keine Zeit. Ich bejahte freudig. So hatte ich doch etwas erreicht mit meiner Neugierde! Von da an durfte ich seine handschriftlichen Texte auf einer alten Schreibmaschine abtippen. Ich war so stolz darauf, auch wenn sich mir der Inhalt seiner Gedichte nie erschlossen hat. Ihn zu fragen, traute ich mich nicht.
Viele Jahre sind vergangen, mein Opa ist vor langer Zeit gestorben und ich habe keine Ahnung, wo all seine Werke geblieben sind. Ich möchte sie unbedingt lesen. Ich werde sofort meine Tante anrufen und sie fragen, wo sich seine Gedichte befinden. Ich muss sie einfach haben. Heute werde ich seine Zeilen und meinen Opa verstehen.
Das Gespräch mit Tante Agnes war ziemlich entmutigend. Sie meinte, dass Opas Manuskripte bei einer Überschwemmung vernichtet worden seien. Die Einzige, die vielleicht noch etwas von ihm besitzen könnte, wäre meine Cousine Karin. Ich rief sie umgehend an. Treffer! Ihr Sohn Manuel hatte tatsächlich einen Karton mit Gedichten und etlichen Novellen meines Opas gerettet! Er würde die Texte für mich einscannen und auf CD brennen. Was für eine Freude!
Heute früh bekam ich eine Email von Karin. Die CD sei an mich unterwegs! Es ist lange her, dass ich so sehnsüchtig auf Post gewartet habe wie in diesen Tagen.
1. Fassung
Pssst, Opa schreibt!
Immer, wenn meine Oma mir diesen Satz zuflüsterte, hatte ich mucksmäuschenstill zu sein. Meist sprach sie ihn gar nicht mehr aus, sondern legte nur den Zeigefinger auf ihre Lippen, um dann wie ein Geist durch das Haus zu schweben, nur keine Geräusche. Manchmal dachte ich, sie hält sogar den Atem an. Diese Stille im Haus wirkte beklemmend.
Stunden verbrachte mein Opa in seinem rund angelegten Wintergarten mit den hohen Fenstern und der enormen Kakteensammlung. Bücher stapelten sich in allen Winkeln. In den überquellenden Regalen fanden sie keinen Platz mehr. Er saß an einem kleinen Holztisch und schrieb immer mit Bleistift. Eine mit Leder überzogene längliche Dose enthielt etliche davon. Alle waren gespitzt. Er benutzte dafür so ein metallenes Drehgerät. Durch die geschlossene Glastür beobachtete ich ihn neugierig vom Sofa aus. Er bemerkte mich nicht. Mal hockte er einfach nur so da, den Stift in der Hand drehend, die Augen geschlossen. Die Falten auf der Stirn zeugten von tiefer Konzentration. Dann wieder raufte er sich die Haare, ging unruhig auf und ab, schien an irgendetwas zu verzweifeln. Er redete dann laut, ja fast schimpfend mit sich selbst. Oder aber er schrieb wie besessen. Weit vorgebeugt fegte seine Hand hektisch über das Papier. Opa nahm oft einen Zettel, notierte etwas, zerknüllte ihn fluchend, um nach dem nächsten zu greifen. Zwischendurch spitzte er immer wieder seine Stifte, auch wenn sie schon spitz waren und deshalb brachen.
Sein heiliges Reich. Niemand durfte es betreten. Nicht einmal meine Oma. Ich hatte einen Heidenrespekt vor meinem Opa. Er strahlte Autorität aus, konnte ziemlich aufbrausend werden. Aber manchmal lachte ich insgeheim über ihn, dachte an einen zerstreuten Professor. Er vergaß ständig irgendetwas, begann einen Satz, brach ihn abrupt ab, schüttelte den Kopf und ging wortlos fort. Niemand im Haus fragte nach, jeder ließ ihn tun, was er wollte.
Zugang verboten. Für eine 10-jährige ruft dies eine unsagbare Neugierde auf den Plan, größer als die Angst, erwischt zu werden. Ich nutzte die erstbeste Gelegenheit aus, um in seinem Allerheiligsten zu stöbern. Opa war außer Haus. Vorsichtig sah ich mich um. Ich wusste, dass er pedantisch jeden Block, jedes Buch an einem bestimmten Platz aufbewahrte, durfte also um Himmels willen nichts verändern. Sonst gäbe es ein Donnerwetter allererster Güte. Kartons mit tausenden von losen Blättern standen herum, der Boden war übersät von zerknüllten Zetteln und Bleistiftfasern. Wann er wohl das letzte Mal den Spitzer entleert hatte? Wie auf rohen Eiern bewegte ich mich und zupfte vorsichtig ein Blatt von seinem Schreibtisch. Es war das Unterste von einem Stapel. Das würde bestimmt nicht auffallen. Schnell steckte ich es gerade unter meinen Pulli, damit es nicht verknitterte und verließ mit einem neidischen Blick den gläsernen Raum. So ein Spielzimmer müsste man haben! Nur würde Mutti solch eine Unordnung nicht dulden. Oma sagte mal zu mir, als ich sie darauf ansprach: Opa braucht das, um zu schreiben. Merkwürdig, das hab ich nie verstanden.
In meiner Kammer, in der ich immer schlief, wenn ich hier zu Besuch war, schaute ich mir den Zettel an. Meine Güte, was für eine krakelige Handschrift. Trotzdem konnte ich sie mühelos lesen. Aber, was hatte er da bloß geschrieben? Ich begriff kein einziges Wort, wollte es aber unbedingt verstehen, um meinen Opa zu verstehen, um ein bisschen in seine Welt einzutauchen, die mir so fremd vorkam. Ich nahm allen Mut zusammen und ging zu Oma, zeigte ihr den Zettel. Entrüstet sah sie mich an.
„Wie kannst du es wagen? Selbst ich habe noch niemals etwas von ihm gelesen!“
„Ich bringe es sofort wieder zurück. Versprochen! Aber sag mir doch, was das bedeutet, bitte!“, drängte ich.
„Opa schreibt Gedichte, das weißt du doch“, meinte sie nur.
„Lies es mal und erklär es mir!“, quengelte ich. Sie gab nach, nahm das Papier und stutzte.
„Ich kann kein einziges Wort entziffern“, sagte sie verblüfft.
„Wieso das denn nicht?“ Ich las es ihr vor und schaute sie hoffnungsvoll an. Doch offenbar waren die Worte auch für Oma ein Rätsel. Sie schüttelte nur den Kopf.
„Leg es schnell wieder zurück!“
Zu spät. In diesem Moment kam mein Opa herein und mit ihm eine deftige Schelte. Er hatte also mitgehört. Wütend riss er mir das Blatt weg und ging Richtung Arbeitszimmer, blieb jedoch plötzlich stehen.
„Du kannst meine Schrift lesen?“ Sein Unterton signalisierte noch nicht verrauchten Zorn, aber auch Überraschung.
„Ja, warum fragst du?“, meinte ich kleinlaut. Ich fühlte mich irgendwie schuldig deswegen.
„Du bist die Einzige, die das kann“, murmelte er und verzog sich für den Rest des Tages in sein Atelier.
Auch wenn er ziemlich sauer auf mich war, so hatte ich doch etwas erreicht. Am nächsten Tag fragte er mich, ob ich eine Schreibmaschine bedienen könnte. Es müsste nicht perfekt sein. Hauptsache gedruckt. Er selbst hätte dafür keine Zeit. Ich bejahte freudig. Ab diesem Tag durfte ich seine handschriftlichen Texte auf einer alten Schreibmaschine abtippen. Ich tat dies voller Stolz, auch wenn sich mir der Inhalt seiner Gedichte nie erschlossen hat. Ihn zu fragen, traute ich mich nicht.
Viele Jahre sind vergangen, mein Opa ist vor langer Zeit gestorben und ich habe keine Ahnung, wo all seine Werke geblieben sind. Ich möchte sie unbedingt lesen. Ich werde sofort meine Tante anrufen und sie fragen, wo sich seine Gedichte befinden. Ich muss sie einfach haben. Heute werde ich seine Zeilen und meinen Opa verstehen.
© Mucki
09.2007
Pssst, Opa schreibt!
Immer, wenn meine Oma mir diesen Satz zuflüsterte, hatte ich mucksmäuschenstill zu sein. Meist sprach sie ihn gar nicht mehr aus, sondern legte nur den Zeigefinger auf ihre Lippen, um dann wie ein Geist durch das Haus zu schweben. Manchmal dachte ich, sie hielt sogar den Atem an. Beklommen lauschte ich der Stille im Haus.
Schon als Kleinkind brachten mich meine Eltern mit dem Auto ein paar Mal im Jahr zu meinen Großeltern. Die Fahrt dauerte über fünf Stunden. Ich blieb meist für zwei Wochen zu Besuch. Jedes Mal wunderte ich mich, wie viele Stunden Opa täglich in seinem rund angelegten Wintergarten mit den hohen Fenstern und der enormen Kakteensammlung verbrachte. Bücher stapelten sich in allen Winkeln. In den überquellenden Regalen fanden sie keinen Platz mehr. Er saß an einem kleinen Holztisch und schrieb immer mit Bleistift. Eine mit Leder überzogene, längliche Dose enthielt etliche und alle waren gespitzt. Er benutzte dafür ein metallenes Gerät mit einer Kurbel.
Ohne, dass er mich bemerkte, beobachtete ich ihn aufmerksam durch die geschlossene Glastür. Ich war inzwischen zehn Jahre alt. Meinem Opa zuzuschauen, war für mich aufregender als mit den Nachbarskindern zu spielen. Auf meinem Schoß lagen aufgeschlagene Schulhefte. Wenn meine Oma mich argwöhnisch fragte, was ich denn da zu suchen hätte, zeigte ich auf meine Hefte und erntete ein lächelndes „Fleißiges Kind!“
Mal hockte er einfach nur so da, den Stift in der Hand drehend, die Augen geschlossen. Die Falten auf der Stirn zeugten von tiefer Konzentration. Dann wieder raufte er sich die Haare, ging unruhig auf und ab. Er redete dann laut, ja fast schimpfend, mit sich selbst. Oder aber er schrieb wie besessen. Weit vorgebeugt saß er da, seine Hand fegte hektisch über das Papier. Oft zerknüllte er das Geschriebene fluchend, um nach dem nächsten Zettel zu greifen. Zwischendurch spitzte er immer wieder seine Stifte, auch wenn sie schon spitz waren und deshalb brachen.
Sein heiliges Reich. Niemand durfte es betreten. Nicht einmal meine Oma. Ich hatte einen Heidenrespekt vor Opa. Er strahlte Autorität aus und konnte ziemlich aufbrausend werden. Aber manchmal lachte ich insgeheim über ihn, dachte an einen zerstreuten Professor. Er vergaß ständig irgendetwas, begann einen Satz, brach ihn abrupt ab, schüttelte den Kopf und ging wortlos fort. Niemand im Haus fragte nach, jeder ließ ihn tun, was er wollte.
Zugang verboten. Bisher hatte ich mich brav daran gehalten. Doch meine Neugierde wuchs und war schließlich größer als die Angst, erwischt zu werden. Als Opa einmal außer Haus war und Oma sich hingelegt hatte, nutzte ich den Moment, um in seinem Allerheiligsten zu stöbern. Vorsichtig sah ich mich um. Ich wusste, dass er pedantisch jeden Block, jedes Buch an einem bestimmten Platz aufbewahrte, durfte also nichts verändern. Sonst gäbe es ein Donnerwetter allererster Güte. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Kartons mit tausenden von losen Blättern standen herum, der Boden war übersät von zerknüllten Zetteln und Bleistiftfasern. Wann er wohl das letzte Mal den Spitzer entleert hatte? Wie auf rohen Eiern bewegte ich mich und zupfte vorsichtig das unterste Blatt aus einem Stapel auf seinem Schreibtisch. Es würde ihm bestimmt nicht auffallen. Schnell versteckte ich es unter meinen Pulli und verließ mit einem neidischen Blick den gläsernen Raum. So ein Spielzimmer müsste man haben! Nur würde Mutti solch eine Unordnung nicht dulden. Oma sagte mal zu mir, als ich sie darauf ansprach: „Opa braucht das, um zu schreiben.“
Merkwürdig, das habe ich nie verstanden.
Ich rannte in meine Kammer und schaute mir aufgeregt den eroberten Schatz an. Meine Güte, was für eine krakelige Handschrift. Trotzdem konnte ich sie mühelos lesen. Aber, was hatte er da bloß geschrieben? Ich begriff kein einziges Wort, wollte aber unbedingt den Sinn dahinter erkennen, um meinen Opa zu verstehen, um ein bisschen in seine Welt einzutauchen, die mir so fremd vorkam. Ich wartete, bis ich hörte, dass Oma aufgestanden war, nahm all meinen Mut zusammen und zeigte ihr den Zettel. Entrüstet sah sie mich an.
„Gabi! Wie kannst du es wagen? Selbst ich habe noch niemals etwas von ihm gelesen!“
„Ich bringe es sofort wieder zurück. Versprochen! Aber sag mir, was das bedeutet, bitte!“, drängte ich.
„Opa schreibt Gedichte, das weißt du doch“, meinte sie nur.
„Lies es doch mal und erklär es mir!“, quengelte ich.
Sie gab nach, nahm das Papier und stutzte.
"Ich kann kein einziges Wort entziffern“, sagte sie verblüfft.
„Wieso das denn nicht?“ Ich las es ihr vor und schaute sie hoffnungsvoll an. Doch offenbar waren Opas Zeilen auch für sie ein Rätsel. Sie schüttelte nur den Kopf.
„Leg es schnell wieder zurück!“
Zu spät. In diesem Moment kam mein Opa herein und mit ihm das befürchtete Donnerwetter. Wütend riss er mir das Blatt aus der Hand und ging Richtung Arbeitszimmer, blieb jedoch plötzlich stehen.
„Du kannst meine Schrift lesen?“ Sein Unterton signalisierte noch nicht verrauchten Zorn, aber auch Überraschung.
„Ja, warum fragst du?“, meinte ich kleinlaut.
„Du bist die Einzige, die das kann“, murmelte er und verzog sich für den Rest des Tages in sein Atelier.
Am nächsten Morgen fragte er mich, ob ich eine Schreibmaschine bedienen könnte. Es müsste nicht perfekt sein. Hauptsache gedruckt. Er selbst hätte dafür keine Zeit. Ich bejahte freudig. So hatte ich doch etwas erreicht mit meiner Neugierde! Von da an durfte ich seine handschriftlichen Texte auf einer alten Schreibmaschine abtippen. Ich war so stolz darauf, auch wenn sich mir der Inhalt seiner Gedichte nie erschlossen hat. Ihn zu fragen, traute ich mich nicht.
Viele Jahre sind vergangen, mein Opa ist vor langer Zeit gestorben und ich habe keine Ahnung, wo all seine Werke geblieben sind. Ich möchte sie unbedingt lesen. Ich werde sofort meine Tante anrufen und sie fragen, wo sich seine Gedichte befinden. Ich muss sie einfach haben. Heute werde ich seine Zeilen und meinen Opa verstehen.
Das Gespräch mit Tante Agnes war ziemlich entmutigend. Sie meinte, dass Opas Manuskripte bei einer Überschwemmung vernichtet worden seien. Die Einzige, die vielleicht noch etwas von ihm besitzen könnte, wäre meine Cousine Karin. Ich rief sie umgehend an. Treffer! Ihr Sohn Manuel hatte tatsächlich einen Karton mit Gedichten und etlichen Novellen meines Opas gerettet! Er würde die Texte für mich einscannen und auf CD brennen. Was für eine Freude!
Heute früh bekam ich eine Email von Karin. Die CD sei an mich unterwegs! Es ist lange her, dass ich so sehnsüchtig auf Post gewartet habe wie in diesen Tagen.
2. Fassung
Pssst, Opa schreibt!
Immer, wenn meine Oma mir diesen Satz zuflüsterte, hatte ich mucksmäuschenstill zu sein. Meist sprach sie ihn gar nicht mehr aus, sondern legte nur den Zeigefinger auf ihre Lippen, um dann wie ein Geist durch das Haus zu schweben. Manchmal dachte ich, sie hält sogar den Atem an. Beklommen lauschte ich der Stille im Haus.
Viele Stunden täglich verbrachte mein Opa in seinem rund angelegten Wintergarten mit den hohen Fenstern und der enormen Kakteensammlung. Bücher stapelten sich in allen Winkeln. In den überquellenden Regalen fanden sie keinen Platz mehr. Er saß an einem kleinen Holztisch und schrieb immer mit Bleistift. Eine mit Leder überzogene, längliche Dose enthielt etliche und alle waren gespitzt. Er benutzte dafür ein metallenes Gerät mit einer Kurbel. Ohne, dass er mich bemerkte, beobachtete ich ihn aufmerksam durch die geschlossene Glastür. Mal hockte er einfach nur so da, den Stift in der Hand drehend, die Augen geschlossen. Die Falten auf der Stirn zeugten von tiefer Konzentration. Dann wieder raufte er sich die Haare, ging unruhig auf und ab. Er redete dann laut, ja fast schimpfend, mit sich selbst. Oder aber er schrieb wie besessen. Weit vorgebeugt saß er da, seine Hand fegte hektisch über das Papier. Oft zerknüllte er das Geschriebene fluchend, um nach dem nächsten Zettel zu greifen. Zwischendurch spitzte er immer wieder seine Stifte, auch wenn sie schon spitz waren und deshalb brachen.
Sein heiliges Reich. Niemand durfte es betreten. Nicht einmal meine Oma. Ich hatte einen Heidenrespekt vor Opa. Er strahlte Autorität aus und konnte ziemlich aufbrausend werden. Aber manchmal lachte ich insgeheim über ihn, dachte an einen zerstreuten Professor. Er vergaß ständig irgendetwas, begann einen Satz, brach ihn abrupt ab, schüttelte den Kopf und ging wortlos fort. Niemand im Haus fragte nach, jeder ließ ihn tun, was er wollte.
Zugang verboten. Für eine Zehnjährige ruft dies eine unsagbare Neugierde auf den Plan, größer als die Angst, erwischt zu werden. Ich nutzte die erstbeste Gelegenheit, um in seinem Allerheiligsten zu stöbern. Opa war außer Haus. Vorsichtig sah ich mich um. Ich wusste, dass er pedantisch jeden Block, jedes Buch an einem bestimmten Platz aufbewahrte, durfte also nichts verändern. Sonst gäbe es ein Donnerwetter allererster Güte. Kartons mit tausenden von losen Blättern standen herum, der Boden war übersät von zerknüllten Zetteln und Bleistiftfasern. Wann er wohl das letzte Mal den Spitzer entleert hatte? Wie auf rohen Eiern bewegte ich mich und zupfte vorsichtig das unterste Blatt aus einem Stapel auf seinem Schreibtisch. Es würde ihm bestimmt nicht auffallen. Schnell versteckte ich es unter meinen Pulli und verließ mit einem neidischen Blick den gläsernen Raum. So ein Spielzimmer müsste man haben! Nur würde Mutti solch eine Unordnung nicht dulden. Oma sagte mal zu mir, als ich sie darauf ansprach: „Opa braucht das, um zu schreiben.“
Merkwürdig, das hab ich nie verstanden.
In der Kammer, in der ich schlief, wenn ich hier zu Besuch war, schaute ich mir meinen eroberten Schatz an. Meine Güte, was für eine krakelige Handschrift. Trotzdem konnte ich sie mühelos lesen. Aber, was hatte er da bloß geschrieben? Ich begriff kein einziges Wort, wollte aber unbedingt den Sinn dahinter erkennen, um meinen Opa zu verstehen, um ein bisschen in seine Welt einzutauchen, die mir so fremd vorkam. Ich nahm all meinen Mut zusammen und ging zu Oma, zeigte ihr den Zettel. Entrüstet sah sie mich an.
„Gabi! Wie kannst du es wagen? Selbst ich habe noch niemals etwas von ihm gelesen!“
„Ich bringe es sofort wieder zurück. Versprochen! Aber sag mir, was das bedeutet, bitte!“, drängte ich.
„Opa schreibt Gedichte, das weißt du doch“, meinte sie nur.
„Lies es doch mal und erklär es mir!“, quengelte ich.
Sie gab nach, nahm das Papier und stutzte.
„Ich kann kein einziges Wort entziffern“, sagte sie verblüfft.
„Wieso das denn nicht?“ Ich las es ihr vor und schaute sie hoffnungsvoll an. Doch offenbar waren Opas Zeilen auch für sie ein Rätsel. Sie schüttelte nur den Kopf.
„Leg es schnell wieder zurück!“
Zu spät. In diesem Moment kam mein Opa herein und mit ihm das befürchtete Donnerwetter. Wütend riss er mir das Blatt aus der Hand und ging Richtung Arbeitszimmer, blieb jedoch plötzlich stehen.
„Du kannst meine Schrift lesen?“ Sein Unterton signalisierte noch nicht verrauchten Zorn, aber auch Überraschung.
„Ja, warum fragst du?“, meinte ich kleinlaut.
„Du bist die Einzige, die das kann“, murmelte er und verzog sich für den Rest des Tages in sein Atelier.
Am nächsten Morgen fragte er mich, ob ich eine Schreibmaschine bedienen könnte. Es müsste nicht perfekt sein. Hauptsache gedruckt. Er selbst hätte dafür keine Zeit. Ich bejahte freudig. So hatte ich doch etwas erreicht mit meiner Neugierde! Von da an durfte ich seine handschriftlichen Texte auf einer alten Schreibmaschine abtippen. Ich war so stolz darauf, auch wenn sich mir der Inhalt seiner Gedichte nie erschlossen hat. Ihn zu fragen, traute ich mich nicht.
Viele Jahre sind vergangen, mein Opa ist vor langer Zeit gestorben und ich habe keine Ahnung, wo all seine Werke geblieben sind. Ich möchte sie unbedingt lesen. Ich werde sofort meine Tante anrufen und sie fragen, wo sich seine Gedichte befinden. Ich muss sie einfach haben. Heute werde ich seine Zeilen und meinen Opa verstehen.
Das Gespräch mit Tante Agnes war ziemlich entmutigend. Sie meinte, dass Opas Manuskripte bei einer Überschwemmung vernichtet worden seien. Die Einzige, die vielleicht noch etwas von ihm besitzen könnte, wäre meine Cousine Karin. Ich rief sie umgehend an. Treffer! Ihr Sohn Manuel hatte tatsächlich einen Karton mit Gedichten und etlichen Novellen meines Opas gerettet! Er würde die Texte für mich einscannen und auf CD brennen. Was für eine Freude!
Heute früh bekam ich eine Email von Karin. Die CD sei an mich unterwegs! Es ist lange her, dass ich so sehnsüchtig auf Post gewartet habe wie in diesen Tagen.
1. Fassung
Pssst, Opa schreibt!
Immer, wenn meine Oma mir diesen Satz zuflüsterte, hatte ich mucksmäuschenstill zu sein. Meist sprach sie ihn gar nicht mehr aus, sondern legte nur den Zeigefinger auf ihre Lippen, um dann wie ein Geist durch das Haus zu schweben, nur keine Geräusche. Manchmal dachte ich, sie hält sogar den Atem an. Diese Stille im Haus wirkte beklemmend.
Stunden verbrachte mein Opa in seinem rund angelegten Wintergarten mit den hohen Fenstern und der enormen Kakteensammlung. Bücher stapelten sich in allen Winkeln. In den überquellenden Regalen fanden sie keinen Platz mehr. Er saß an einem kleinen Holztisch und schrieb immer mit Bleistift. Eine mit Leder überzogene längliche Dose enthielt etliche davon. Alle waren gespitzt. Er benutzte dafür so ein metallenes Drehgerät. Durch die geschlossene Glastür beobachtete ich ihn neugierig vom Sofa aus. Er bemerkte mich nicht. Mal hockte er einfach nur so da, den Stift in der Hand drehend, die Augen geschlossen. Die Falten auf der Stirn zeugten von tiefer Konzentration. Dann wieder raufte er sich die Haare, ging unruhig auf und ab, schien an irgendetwas zu verzweifeln. Er redete dann laut, ja fast schimpfend mit sich selbst. Oder aber er schrieb wie besessen. Weit vorgebeugt fegte seine Hand hektisch über das Papier. Opa nahm oft einen Zettel, notierte etwas, zerknüllte ihn fluchend, um nach dem nächsten zu greifen. Zwischendurch spitzte er immer wieder seine Stifte, auch wenn sie schon spitz waren und deshalb brachen.
Sein heiliges Reich. Niemand durfte es betreten. Nicht einmal meine Oma. Ich hatte einen Heidenrespekt vor meinem Opa. Er strahlte Autorität aus, konnte ziemlich aufbrausend werden. Aber manchmal lachte ich insgeheim über ihn, dachte an einen zerstreuten Professor. Er vergaß ständig irgendetwas, begann einen Satz, brach ihn abrupt ab, schüttelte den Kopf und ging wortlos fort. Niemand im Haus fragte nach, jeder ließ ihn tun, was er wollte.
Zugang verboten. Für eine 10-jährige ruft dies eine unsagbare Neugierde auf den Plan, größer als die Angst, erwischt zu werden. Ich nutzte die erstbeste Gelegenheit aus, um in seinem Allerheiligsten zu stöbern. Opa war außer Haus. Vorsichtig sah ich mich um. Ich wusste, dass er pedantisch jeden Block, jedes Buch an einem bestimmten Platz aufbewahrte, durfte also um Himmels willen nichts verändern. Sonst gäbe es ein Donnerwetter allererster Güte. Kartons mit tausenden von losen Blättern standen herum, der Boden war übersät von zerknüllten Zetteln und Bleistiftfasern. Wann er wohl das letzte Mal den Spitzer entleert hatte? Wie auf rohen Eiern bewegte ich mich und zupfte vorsichtig ein Blatt von seinem Schreibtisch. Es war das Unterste von einem Stapel. Das würde bestimmt nicht auffallen. Schnell steckte ich es gerade unter meinen Pulli, damit es nicht verknitterte und verließ mit einem neidischen Blick den gläsernen Raum. So ein Spielzimmer müsste man haben! Nur würde Mutti solch eine Unordnung nicht dulden. Oma sagte mal zu mir, als ich sie darauf ansprach: Opa braucht das, um zu schreiben. Merkwürdig, das hab ich nie verstanden.
In meiner Kammer, in der ich immer schlief, wenn ich hier zu Besuch war, schaute ich mir den Zettel an. Meine Güte, was für eine krakelige Handschrift. Trotzdem konnte ich sie mühelos lesen. Aber, was hatte er da bloß geschrieben? Ich begriff kein einziges Wort, wollte es aber unbedingt verstehen, um meinen Opa zu verstehen, um ein bisschen in seine Welt einzutauchen, die mir so fremd vorkam. Ich nahm allen Mut zusammen und ging zu Oma, zeigte ihr den Zettel. Entrüstet sah sie mich an.
„Wie kannst du es wagen? Selbst ich habe noch niemals etwas von ihm gelesen!“
„Ich bringe es sofort wieder zurück. Versprochen! Aber sag mir doch, was das bedeutet, bitte!“, drängte ich.
„Opa schreibt Gedichte, das weißt du doch“, meinte sie nur.
„Lies es mal und erklär es mir!“, quengelte ich. Sie gab nach, nahm das Papier und stutzte.
„Ich kann kein einziges Wort entziffern“, sagte sie verblüfft.
„Wieso das denn nicht?“ Ich las es ihr vor und schaute sie hoffnungsvoll an. Doch offenbar waren die Worte auch für Oma ein Rätsel. Sie schüttelte nur den Kopf.
„Leg es schnell wieder zurück!“
Zu spät. In diesem Moment kam mein Opa herein und mit ihm eine deftige Schelte. Er hatte also mitgehört. Wütend riss er mir das Blatt weg und ging Richtung Arbeitszimmer, blieb jedoch plötzlich stehen.
„Du kannst meine Schrift lesen?“ Sein Unterton signalisierte noch nicht verrauchten Zorn, aber auch Überraschung.
„Ja, warum fragst du?“, meinte ich kleinlaut. Ich fühlte mich irgendwie schuldig deswegen.
„Du bist die Einzige, die das kann“, murmelte er und verzog sich für den Rest des Tages in sein Atelier.
Auch wenn er ziemlich sauer auf mich war, so hatte ich doch etwas erreicht. Am nächsten Tag fragte er mich, ob ich eine Schreibmaschine bedienen könnte. Es müsste nicht perfekt sein. Hauptsache gedruckt. Er selbst hätte dafür keine Zeit. Ich bejahte freudig. Ab diesem Tag durfte ich seine handschriftlichen Texte auf einer alten Schreibmaschine abtippen. Ich tat dies voller Stolz, auch wenn sich mir der Inhalt seiner Gedichte nie erschlossen hat. Ihn zu fragen, traute ich mich nicht.
Viele Jahre sind vergangen, mein Opa ist vor langer Zeit gestorben und ich habe keine Ahnung, wo all seine Werke geblieben sind. Ich möchte sie unbedingt lesen. Ich werde sofort meine Tante anrufen und sie fragen, wo sich seine Gedichte befinden. Ich muss sie einfach haben. Heute werde ich seine Zeilen und meinen Opa verstehen.
© Mucki
09.2007