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Das Telefon

Verfasst: 10.09.2007, 22:42
von Orit
Das Telefon


Er sitzt im Wohnzimmer in seiner Ecke und puzzelt. Faßt immer wieder in die Hosentasche, klimpert mit den Groschen und denkt unentwegt an die Tüte Bonbons, die er auf dem Weg zur Arbeit kaufen wollte. Drei Groschen fehlten. Taschengeld bekommt er erst in drei Tagen und es hat keinen Sinn, vorher darum zu bitten. Auch nicht um drei Groschen.
„Geeerald!“, tönt es aus der Küche. Er haßt seine Mutter noch heute für diesen Namen. „Gehst halt noch Eier kaufen?“
„Geeerald! Na wirds bald!“
„Ja, ja ... Sonja.“
Nach erledigtem Einkauf puzzelt er weiter. Zehntausend Teile, das Schloß Neuschwanstein ist schon zu erkennen.
„Geeerald! Hast du schon deine Herztablette genommen?“
„Ja, Sonja ...“
„Geeerald!“, tönt es jetzt direkt hinter ihm. „Die Bügelfalten!“
Bis neun Uhr abends ist ihm aufgetragen, in seiner Anzughose zu bleiben.
Um für überraschenden Besuch gewappnet zu sein. Und für die Nachbarin, die jeden Montag um sechs zum Scrabble-Spiel kommt. Da hat er manierlich auszusehen. Für dieses Wort haßt er seine Mutter noch heute.
„Eine gute Ehefrau achtet darauf, daß der Gatte wenigstens bis neun Uhr abends manierlich aussieht.“ Überhaupt hat Sonja vieles von seiner Mutter übernommen. Vielleicht auch von der eigenen.
Er setzt sich so, daß die Bügelfalten nicht zu Schaden kommen.
„Geeerald!“, immer noch hinter ihm. „Die Nachbarin kommt um sechs zum Scrabbel-Spiel. Daß du mir nicht wieder so laut hustest.“
„Ja, Sonja.“
„Geeerald!“, jetzt vom Sofa aus. „Hörst du! Nicht so laut husten! Sag mal, was hustest du überhaupt. Doktor Müller sagte, du hast gar keinen Husten.“
Wenn er so in dem Tempo weiter puzzelt, kann er bis Ende der Woche fertig sein. In seinen Überlegungen hinein tönt es aus dem Bad: „Geeerald! Wie oft soll ich dir noch sagen: Die blauen Handtücher sind Zierhandtücher. Damit trocknet man sich nicht ab. Geeerald! Wann hörst du endlich mal, was ich dir sage. Sophie hat besser gehorcht!“
Sophie, die gute alte Doggendame. Mit Wehmut denkt er an sie. „Zieh doch zu Sophie in die Hütte. Platz ist da genug für dich“, hörte er, als Sophie noch lebte. Die Hundehütte steht nun leer und ungenutzt im Garten neben dem Baum.
Es klingelt an der Tür. Die Nachbarin ist pünktlich.
Irgendwie hat er heute das Gefühl, es reicht ihm.
„Geeerald!“ Genug! Er mag seinen Namen nicht mehr hören.
„Geeerald! Hörst du nicht! Geh halt mal in die Küche und mach uns Kaffee.“
Er weiß, es würde keinen Sinn machen. Sie zu bitten, auf die Anrede zu verzichten. Er wäre dafür sogar bereit gewesen, dieses Wort „manierlich“ hinzunehmen. Die Mutter sagte immer zu ihm: „Geee Rald, sei manierlich. Wie es sich für einen braven Jungen gehört.“
Er könnte ihr „Raldi“ anbieten. So wie ihn seine Klassenkameraden nannten damals.
An den Vater hat er keine Erinnerung. Nur an das eine Foto auf dem Nachttisch der Mutter: Er auf dem Arm des Mannes in Wehrmachtsuniform und daneben die Mutter.
Noch am selben Abend zieht er freiwillig in die Hundehütte.
Drei Tage später kommt der bestellte Techniker der Telekom und verlegt einen zweiten Anschluß in die Hütte. Auf ausdrücklichen Wunsch der Kundin nur für den hausinternen Gebrauch. Das einfachste Modell in Moosgrün wird mit extra langer Schnur versehen, damit der zweite Teilnehmer auch außerhalb der Hütte telefonieren kann.
Der Techniker erfüllt der Kundin einen weiteren Wunsch. Er blockiert die Lautstärkenregelung der Klingel.
Noch am selben Abend erhängt sich Gerald. Die Schnur ist lang genug. Sein Taschengeld bleibt auf dem Küchentisch liegen ...

Verfasst: 11.09.2007, 08:10
von Pjotr
Hallo Orit,

ein runder kompakter Text, in meinen Augen, thematisch oftmals gerne für Sketch-Vorlagen verwendet. Das einzige, was mir ein wenig unrund vorkam, war meine anfängliche Bildlosigkeit darüber, ob die Rufende die Mutter oder die Gattin ist. Bis die klärende Zeile erschien, hing mein Lesefluss. Aber vielleicht ist diese späte Auflösung von Dir Absicht, vielleicht als spannendes Element? -- Wie wäre es denn, das genaue Verwandschaftsverhältnis überhaupt nicht aufzulösen, sodass es sich hier sowohl um einen Gatten als auch um einen bülowschen Ödipussi handeln könnte?


Salute

Pjotr

Verfasst: 11.09.2007, 08:35
von Elsa
Liebe Orit,

ein erwachsener Mann, der in seiner Tradition - gehorche der Mutter - weitermacht. Ich frage mich, wie hat er überhaupt eine Ehefrau abbekommen können, so, wie er ist? Auch frage ich mich, warum er sich erhängt und nicht Sonja stattdessen das Licht ausbläst. Das wäre die Wandlung vom Muttersöhnchen zur Befreiung.

Du sprichst vieles aus Geeeralds Leben an, auch, dass er seine Mutter hasste (kein Wunder). Ich hätte mir einen anderen Ausgang gewünscht für den armen Kerl. Auch denke ich, die Geschichte hat das Potential, auserzählt zu werden.

Liebe mehr davon Grüße,
ELsa

Verfasst: 11.09.2007, 08:46
von Pjotr
Hallo Elsa,

ich denke, er kam schon mit devoter Veranlagung auf die Welt, so unterwarf er sich allen, der Mutter, der Gattin, den Nachbarn ... Die Gattin und die Mutter kamen mit dominanter Veranlagung auf die Welt. Ich glaube, bei so einer devoten Biografie gibt es Erhängung nur in der Sketchwelt. Denn entweder reduziert sich im Lauf der Zeit die Devotheit und es folgt die Trennung, oder es bleibt weiterhin devot und eine Erhängung wäre dabei ja kontraproduktiv. Ich glaube, erhängen tun sich nur diejenigen, die nicht devot veranlagt sind und unfreiwillig in eine devote Rolle fallen und keine Chance zur Flucht mehr sehen.


Salute

Pjotr

Verfasst: 11.09.2007, 08:53
von Heidrun
Liebe Orit!

Ein Horrorszenario, das verstörend "alltäglich" präsentiert wird. Ähnlich einem Chabrolfilm. Klasse!

Zwei Dinge habe ich anzumerken.

Beim Lesen des ersten Satzes hatte ich zunächst den Eindruck, der Protagonist puzzle in der Hosentasche, was mich spontan an "Zweideutiges" denken ließ (grinst). Vielleicht würde es genügen, mit dem Puzzeln erst später zu beginnen?

Dem Tipp von Pjotr möchte ich mich anschließen. - M. E. hätte der Text auch nach "Die Nachbarin ist pünktlich" aufhören können. So bliebe der Horror die Aufgabe des Lesers.

Aber das ist nur ein Vorschlag. Sicherlich hast du dir bei allem etwas gedacht; die Geschichte gefällt mir auch in dieser Form wirklich gut.

Schöne Grüße
Heidrun

Verfasst: 11.09.2007, 08:57
von Elsa
Lieber Pjotr,

Ich glaube, erhängen tun sich nur diejenigen, die nicht devot veranlagt sind und unfreiwillig in eine devote Rolle fallen und keine Chance zur Flucht mehr sehen.
Sach ich doch! Wenn, dann killt er seine Frau, aber nicht sich selbst.

Lieben Gruß
ELsa

Verfasst: 11.09.2007, 10:34
von Pjotr
Ich bin fasziniert von der Bestürztheit der bisherigen Kommentatoren. Bild Ich sehe diesen Text wirklich als Sketch, als (leicht schwarze) Karikatur, als irreale Groteske. Ich meine, da ist ein Mann, der von seiner Gattin Taschengeld bekommt! Und in einer Hundehütte einzieht! Das ist doch zu satirisch, um sorgenvoll ernst zu werden. Finde ich.


Salve

Pjotr

Verfasst: 11.09.2007, 14:09
von Jürgen
Hallo Orit,

ein armer Kerl, der Geeerald. Solch bedauernswerte Gestalten gibt es leider und es sind nicht nur Männer. Ein schön geschriebenes Beispiel, wie jemand die Strukturen, die er in der Kindheit gelernt hat, als Erwachsener weiterlebt. Sehr gerne gelesen. Da sind ein paar Rechtschreibfehler im Text, die aber ausnahmslos mit der neuen Rechtschreibung zu tun haben. Da ich nicht weiß, ob Du bewußt die alte Rechtschreibung benutzt, merke ich sie mal nicht an.

Liebe Grüße

Jürgen

Verfasst: 11.09.2007, 20:45
von Orit
Euch vielen, vielen Dank fürs Lesen und die Diskussion. :bussi:
Ich werde morgen meine Gedanken zum Text und euren interessanten Kommentaren schreiben.

:-) Orit

Verfasst: 14.09.2007, 18:15
von Orit
Lieber Pjotr!
Sind die Grenzen zwischen realem Leben und Satire nicht fließend? Das Taschengeld z.B. ist für dich irreale Groteske, ich brauchte aber bei einer Freundin nur über den Gartenzaun zu schauen. Dort gab es diese Realität, er bekam von "Mutti" Taschengeld. Die anfängliche Verwirrung habe ich beabsichtigt, der fließende Übergang von der Mutter zu "Mutti". Wäre eine interessante Variante, es im Unklaren zu lassen.

Liebe Elsa!
Ich hätte mir für meinen Helden auch ein anderes Ende gewünscht. Aber gerade die Ausweglosigkeit in seinem Leben wollte ich rüberbringen. Er versuchte sich auf seine Art zu befreien ... aber "Mutti" verfolgt ihn ...
Mir war immer wieder aufgefallen, daß Frauen ihre Ehemänner wie Deppen und Dummerchen behandeln, in verschiedensten Abstufungen, vor allem bei der Kriegs- und Nachkriegsgeneration ( kurz angerissen habe ich es mit dem Foto des Vaters in Wehrmachtsuniform).
"das Potential, auserzählt zu werden" freut mich sehr!

Lieber Jürgen!
Ja, der fließende Übergang von der Mutter zu "Mutti. Freut mich, daß es so gut rüberkommt.
Es sind nicht nur Männer, aber ich habe mich hier ganz bewußt für einen armen KERL entschieden, weil ich finde, die kommen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung etwas zu kurz.
Vielen Dank fürs "Sehr gerne gelesen"!
Ich bin für jeden Rechtschreibtip (tipp ...) dankbar, nur bei einem bleibe ich stur: beim "ß" ...

:-) Orit

Verfasst: 14.09.2007, 18:28
von Pjotr
Hallo Orit,

ja, es gibt wohl einen fließenden Übergang, der heißt dann Realsatire, hehe.


Cheers

Pjotr

Verfasst: 14.09.2007, 19:41
von Jürgen
Hallo Orit

Ich bin für jeden Rechtschreibtip (tipp ...) dankbar, nur bei einem bleibe ich stur: beim "ß"


Und sämtliche von mir entdeckten Rechtschreibfehler beinhalten eben dieses geschätzte "ß". Ich merk´s mir für weitere Texte von Dir ;-)

Schönen Gruß

Jürgen

Verfasst: 14.09.2007, 20:54
von Elsa
Liebe Orit,

er kann eben nicht anders, das ist klar, sonst hätte er schon früher ...

Lieben Gruß
ELsa