Das Paket
Verfasst: 22.07.2007, 10:20
Das Paket
Die folgende kleine Geschichte, verehrter Leser, spielt irgendwo in Deutschland im Jahre 2004, zu einer Zeit also, die durch den hohen Standard ihres technischen Fortschritts den Alltag der Menschen verschönt und erleichtert.
Die deutsche Presse vermeldet, dass in Kürze ein Handy auf den Markt kommt, mit dem man bequem vom Büro aus den heimischen Herd ein- und die Stereoanlageausschalten kann. Wer zuviel Geld hat, kann sich überlegen, ob er nach seinem Ableben, zu Asche verbrannt und in eine handliche Bleihülse geschweißt, ins All geschossen werden möchte, und die Erkundung von Jupiter, Mars und Saturn ist nur noch wenig aufregender als die navigationsgesteuerte Durchquerung eines unbekannten Viertels von Erwitte – Anröchte.
Angesichts solcher Segnungen unserer modernen Zivilisation mutet es seltsam an, dass ein ebenso simpler wie archaisch anmutender Gegenstand wie ein Paket zu einem schier unlösbaren Problem werden kann. Doch der Reihe nach …
Ein befreundetes Ehepaar mittleren Alters beschloss, von zermürbender Arbeit ausgelaugt, ihr körperliches und seelisches Wohlbefinden wiederherzustellen und buchte zu diesem Zwecke „Wellness – Weeks“, ein dreiwöchiges Angebot eines Privatsanatoriums. In früheren Zeiten hatte man dies wohl einmal „Kur“ genannt, aber ein solches Wort passt nicht mehr zu unserer in Anglizismen vernarrten Gesellschaft, die jedes noch so banale Ereignis zum „event“ erhöht. Doch einige deutsche Worte haben erstaunlicherweise feindliche Übernahmeversuche durch Wissenschaft, Werbung, Freizeit oder gar den mächtigen Volksmund überlebt, der sich in den vergangenen Jahren bekanntlich ja schon erfolgreich am Genitiv verging und ihn weitgehend ausrottete. Zu ihnen zählt unter anderem das Wort „Paket“, um das es im weiteren Verlauf geht, obwohl es ja auch hierbei schon erste Aufweichtendenzen gibt, denkt man an die im Straßenbild mittlerweile wohl vertrauten braunen Lieferautos mit der Aufschrift UPS. In diesem speziellen Fall muss ich jedoch gestehen, dass englische Abkürzungen auch geradezu gnädig sein können. Oder wollten Sie sich etwa einen Nationalen Post- und Paketdienst mit dem Namenskürzel „NPD“ auf Lieferautos, dazu noch braunen, vorstellen? Aber ich schweife ab…
Der Tag der Abreise meiner Freunde rückte unaufhaltsam näher und beide arbeiteten sich unter Aufbietung letzter Kraftreserven durch den Kuraufenthaltsvorbereitungszettel, der unter anderem auch den Punkt „Post“ aufwies. Während neben einigen Einträgen schon Häkchen prangten, deren schwungvolle Linienführung von der Erleichterung und dem Stolz ob des erfolgreich Erledigten zeugte, herrschte neben „Post“ noch gähnende Leere. Um die Komplexität dieser vier Buchstaben im Allgemeinen und ihre Bedeutung für diese Geschichte zu verstehen, muss man berücksichtigen, dass es selbst im Jahre 2004 noch fortschrittsresistente Menschen gibt, die schriftliche Mitteilungen wirklich noch in Form eines betippten oder gar hand beschriebenen Blattes Papier erledigen, welches der Deutschen Post überhändigt wird, um dann ( hoffentlich) am nächsten Tag von freundlichen Zustellern dem mehr oder weniger erwartungsvoll harrenden Adressaten ausgehändigt zu werden. Angesichts dieses rückständigen Kommunikationsverhaltens stößt jedoch das Fassungsvermögen eines Briefkastens in kürzester Zeit an seine Grenzen, ist der Empfänger verreist, ohne für seine (des Briefkastens) Entleerung Sorge getragen zu haben.
Meine Freunde kamen nach einem kurzen Blick in den ihren zu dem übereinstimmenden Ergebnis, dass er nicht annähernd dafür ausgelegt war, die zu erwartende Papierflut von drei Wochen aufzunehmen, ohne an akuter Verstopfung zu leiden. Das Problem erkannt, entschieden sie, die Post lagern zu lassen. Das für diesen Zweck entworfene Antragsformular wurde besorgt ( Reinhard Mey lässt schön grüßen! ), nach bestem Wissen und Gewissen ausgefüllt, erneut zur Post expediert, und so konnte, die erforderliche Gebühr entrichtet, schließlich auf der to-do-Liste (wie Sie feststellen, lieber Leser, erliege auch ich mitunter der Faszination der Anglizismen) ein weiteres Häkchen gesetzt werden.
Bevor sie abreisten, fragten meine Freunde mich, ob ich während ihrer Abwesenheit gelegentlich im Haus nach dem Rechten sehen und die Blumen vor dem Ertrocknungstod retten könnte. Da wir nicht weit von einander entfernt wohnten und der Auftrag auch nicht nach übermäßiger Arbeit aussah, sagte ich zu, übernahm den Zweitschlüssel und war somit Hausmeister auf Zeit.
Die ersten Besuche verliefen, wie ich es erwartet hatte, völlig ereignislos. Weder war eingebrochen worden noch fand ich die Topfpflanzen in Agonie vor, dafür jedoch mit schöner Regelmäßigkeit im Briefkasten kostenlose Wochenzeitungen, die ja hauptsächlich aus vielen Druckfehlern und noch mehr Werbung bestehen, und die ich mit ebensolcher Regelmäßigkeit stante pede zum Altpapier beförderte. So versah ich meinen Dienst im Haus mit gewissenhafter Hingabe und ohne irgendwelche Vorkommnisse.
Das sollte sich am Donnerstag der dritten Woche, zwei Tage vor ihrer Rückkehr, ändern. Ich öffnete die Eingangstür und fand die obligatorischen Druckerzeugnisse. Als ich sie griff, fiel mir eine leuchtend rote Karte entgegen. Ich wähnte sie bereits als freundliche Einladung zur Eröffnung eines Friseur- oder Hundesalons, als mein Blick auf das Wort „Paketzustellung“ fiel, was mich veranlasste, diesen Einwurf näher zu betrachten. Der Name meiner Freundin stimmte ebenso wie die Adresse. Mit deutscher Gründlichkeit zeugten Datum und Uhrzeit von dem vergeblichen Besuch eines pflichtbewussten Zustellers, der offensichtlich nichts von dem Lagerauftrag gewusst hatte. Also beschloss ich, noch am nämlichen Tage meine Freundin anzurufen, um sie von der Überraschung in Kenntnis zu setzen.
„Hallo Thea, ich bin’s.“
„Oh, hallo. Ist was passiert?“
„Nein, warum?“
„Weil du um diese Zeit anrufst.“
Es war etwa 17.30 und sie empfand offenbar Anrufe um diese Uhrzeit als bedrohlich.
„Nein, es ist nichts passiert, aber die Post hat versucht, ein Paket zuzustellen und eine Abholkarte hinterlassen.“
„Ein Paket? Für wen?“
„Für dich. Auf der Karte steht dein Name.“
Sekundenlanges Schweigen.
„Das kann nicht sein, ich erwarte kein Paket!“
„Versuch dich zu erinnern. Hast du irgendwas bestellt?“
Sekundenlanges Schweigen.
„Nein, nichts. Absolut nichts!“
„Na gut, erwartest du irgendwelche Geschenke?“
Sekundenlanges Schweigen.
„Leider nein, ich wüsste nicht von wem. Und schon gar nicht, aus welchem Anlass.“
„Vielleicht hast du etwas gewonnen.“
„Ich?! Ich hab in meinem Leben noch nie etwas gewonnen!“
„Na gut, ich werde das Paket abholen und wenn du möchtest, öffne ich es für dich oder ich sende es an eure Adresse weiter, OK?“
„Abholen wär’ prima! Ja, mach das. Nur bitte nicht nachschicken, das ergibt keinen Sinn, bis das Paket hier ist, sind wir schon wieder zurück. Ist ja interessant …“
Am nächsten Tag, es war schwül und dunkle Wolken am Himmel zeugten von dräuendem Unheil, fuhr ich mit der Karte zu dem angegebenen Postamt, wobei jedoch dieser Begriff eine schamlose Übertreibung darstellte angesichts der Lokalität. Sie bestand aus einem rechteckigen Raum mit einem Fenster und zwei Schaltern. Vor dem rechten der beiden stand ein Schild, welches dem geschätzten Kunden erklärte, dass im Zuge der Personaleinsparung dieser Schalter aufgehört hatte, ein solcher zu sein. Aha! Ein Blick durch das Fenster auf die beiden Parkplätze vermittelte den irrigen Eindruck, es herrsche dichtester Nebel, während die auf der Fensterbank befindliche Pflanze ihr Leben eindeutig schon gelebt hatte und vermutlich an Licht- und Wassermangel verblichen war. Lediglich noch zwei Blätter krallten sich im Todeskampf am Stamm fest und trotzten den Naturgesetzen.
Der Boden und die Wände des Raumes waren in dezenten Grautönen gehalten, welche nur durch ein Plakat aufgelockert wurden, das im Namen des Deutschen Roten Kreuzes für eine Woche der Blutspenden warb, die in der Zeit vom 20. bis 27. März 2002 (!) stattgefunden hatte. Ich musste mit einer gewissen Bewunderung feststellen, dass alles in diesem Raum auf einander abgestimmt zu sein schien, denn selbst dem Schalterbeamten war es gelungen, sich dem Ambiente seines Arbeitsplatzes anzupassen. Es handelte sich um einen Mann vermutlich jenseits der 50 mit einer gewaltigen Hakennase, einer ausgesprochen ungesunden Gesichtsfarbe und einem anthrazitfarbenen Pullunder über einem Hemd, dessen Farbgebung sich irgendwo zwischen „Verwaschenblau“ und „Herbstnebeldämmerungsgrau“ verlor. In Ermangelung einer Krawatte hatte er die beiden obersten Knöpfe geöffnet, die den Blick auf einen blassen, faltigen Hals freigaben. Und obwohl ich dem Mann niemals zuvor begegnet war, wusste ich bei seinem Anblick sofort, dass das letzte Lachen dieses Menschen Jahre zurück liegen musste, wenn es denn überhaupt jemals stattgefunden haben sollte. In seinem Gesicht schien sich das ganze Leid dieser Welt und das gesamte Elend seines Arbeitsplatzes zu spiegeln. Hierzu passte schließlich auch der Umstand, dass diese beklagenswerte Kreatur zu allem Übel auch noch hinter einer dicken Glasscheibe gehalten wurde, was in mir Bilder von meinem letzten Zoobesuch und dem Anblick eines traurig – melancholischen Leguans in einem Terrarium wachrief.
Da ich der einzige Kunde war, bewahrte mich die Frage „Bitte schön?“ des Schalterbeamten davor, mich zu sehr mit der moribunden Atmosphäre dieses Raums und seines Bewohners zu beschäftigen. Ich würde ganz einfach das Paket abholen, eventuelle Gebühren bezahlen und dann dieses postalische Leichenschauhaus auf dem schnellsten Wege wieder verlassen. Ich atmete tief durch und es entspann sich folgender Dialog:
„Guten Tag! Ich möchte für eine Freundin, die verreist ist, ein Paket abholen.“
Dabei schob ich, einer Fütterung nicht unähnlich, dem Leguan die Abholkarte unter der Glasscheibe durch. Er griff mit knochigen Händen nach ihr, beförderte sie dicht vor sein Gesicht und beäugte sie eingehend.
„Haben Sie ihren Personalausweis dabei?“
„Ja, natürlich.“ Auch er wanderte unter der Scheibe hindurch ins Terrarium.
„Dann brauche ich noch die Vollmacht.“
„Bitte?“
„Die Vollmacht, dass Sie das Paket abholen dürfen.“
„Ich habe keine Vollmacht. Meine Freundin rechnete ja gar nicht mit einem Paket.“
„Tja, ohne eine Vollmacht darf ich Ihnen das Paket nicht aushändigen. Das steht auch hier auf der Karte, “er wies mit seiner Klaue auf Kleingedrucktes, „haben Sie das denn nicht gelesen?“ Der Vorwurf in seiner Stimme angesichts meines respektlosen Umgangs mit einer Paketzustellungsbenachrichtigungskarte war unüberhörbar. War der Leguan etwa auf Kampf aus?
„Nein, das habe ich allerdings nicht gelesen, sonst wäre ich ja wohl kaum hier. Aber ich habe noch gestern mit meiner Freundin telefoniert und sie hat mich darum gebeten, das Paket für sie in Empfang zu nehmen.“
„Das mag ja sein, aber da könnte ja jeder kommen und für irgendwen ein Paket abzuholen.“ Seine Stimme hatte leicht an Schärfe zugenommen und mir kam eine Tiersendung im Vorabendprogramm in den Sinn, in der es unter anderem um das aggressive Verhalten von Echsen im Falle einer Bedrohung ging. Ich holte tief Luft, um meinen Ärger über die doppelte Entindividualisierung im Zaum zu halten. Ich war doch nicht jeder und meine Freundin nicht irgendwer!
Der Leguan legte nach: „Ich brauche eine Vollmacht, ohne die geht gar nichts!“ Er betrachtete mich aus seinem Glaskäfig mit einer Mischung aus Mitleid in Anbetracht meiner Unwissenheit und aufsteigender Ungeduld ob meiner Begriffsstutzigkeit.
„Hören Sie, meine Freunde haben ihre Post für die Dauer ihrer Abwesenheit lagern lassen—“
„Die kann ich Ihnen auch nicht geben. Auch dafür benötigen Sie eine Vollmacht!“
Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel.
„Ich möchte ja auch gar nicht die ganze Post abholen, sondern lediglich dieses eine Paket. Ich verstehe nicht, wie das zugestellt werden konnte, obwohl doch ein Lagerauftrag vorliegt.“
„Dann haben Ihre Freunde wohl vergessen, an der entsprechenden Stelle ein Häkchen zu setzen!“ Der Triumph ließ seine Stimme leicht erzittern. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Regalschrank und verschränkte die Hände vor der Brust. Offensichtlich war damit diese Angelegenheit für ihn erledigt.
Obwohl ich ein Mensch bin, der, wie ich zugeben muss, im Angesicht von Amtsgewalt und scheinbar unumstößlichen Wahrheiten schnell bereit ist, klein beizugeben, lief ich diesem Moment zu nie gekannter Höchstform auf. Was lag näher, als sich des Handys zu bedienen, meine Freundin anzurufen, den Apparat dann dem Leguan ins Reptilarium hineinzureichen und alles klären zu lassen! Während ich die eingespeicherte Nummer eintippte, teilte ich dem Wesen hinter Glas meine rettende Idee mit, die jedoch in der gleichen Sekunde schon wieder zunichte gemacht wurde.
„Hören Sie, woher soll ich wissen, dass die Person, mit der ich dann spreche, auch wirklich die rechtmäßige Empfängerin des Pakets ist?“
„Ganz einfach, weil ich es Ihnen sage!“
„Nee, nee, guter Mann, so einfach, wie Sie sich das vorstellen, ist das nicht“ – dieser tiefsinnigen Feststellung hätte es nun wahrlich nicht mehr bedurft – „ich kenne Sie ja gar nicht!“
Hinter mir ertönten ein höfliches Hüsteln und das Klimpern eines Schlüsselbundes. Als ich mich umdrehte, blickte ich in drei Gesichter, die mehr oder weniger erfolgreich versuchten, ihre Ungeduld zu verbergen. Ich hatte beim Kampf mit dem Leguan das Kommen anderer Kunden gar nicht bemerkt. Also läutete ich die letzte Runde ein und bereitete meinen geordneten Rückzug vor.
„Kann meine Freundin Sie hier anrufen?“ „Erstens habe ich Ihnen eben schon gesagt, dass ich weder Sie noch Ihre Freundin kenne, und zweitens haben wir hier kein Telefon.“ Hätte er mir jetzt erklärt, in den Nachrichten sei soeben vermeldet worden, der Papst sei in Wirklichkeit eine Frau, hätte ich dem in diesem Moment vermutlich mehr Glauben geschenkt. Kein Telefon? In einer Postfiliale?? Meine Mimik musste mir wohl entglitten sein, denn er fühlte sich zu dem Zusatz genötigt: „Na ja, also Telefon haben wir hier natürlich schon, aber nur für postinterne Gespräche. Sie können uns nicht von außerhalb anrufen.“
Ein abermaliges, nun jedoch deutlich asthmatisches Husten hinter mir verhinderte, dass ich diese bemerkenswerte Mitteilung in Frage zu stellen oder auch nur zu kommentieren wagte. Und als würde er meine Gedanken erraten, schob er noch schnell hinterher: „Und ein Fax geht auch nicht, ein Faxgerät haben wir wirklich nicht.“
Ich beschloss die Waffen zu strecken und einen möglichst würdevollen Abgang hinzukriegen. Ich würde mir meine Niederlage nicht anmerken lassen und Größe bewahren. „Was passiert nun mit dem Paket?“
„Das wird zurück an den Absender geschickt, wenn es nicht rechtzeitig abgeholt wird!“ Ich hätte laut schreien können! Mit aller mir noch zu Gebote stehenden Freundlichkeit bedankte ich mich, wünschte einen schönen Tag und fragte im Weggehen: „Haben Sie dafür eine Vollmacht?“ Ich glaube noch heute, es war gut, dass ich nicht mehr verstand, was das Reptil murmelte.
Genau in dem Moment, als ich am Fenster vorbeikam, fiel von der Topfpflanze das vorletzte vertrocknete Blatt ab und blieb neben einem kleinen Stapel vergilbter Werbezettel liegen. Darauf stand in großen Buchstaben:
„Ihre Post – immer zuverlässig für Sie da!“
Die folgende kleine Geschichte, verehrter Leser, spielt irgendwo in Deutschland im Jahre 2004, zu einer Zeit also, die durch den hohen Standard ihres technischen Fortschritts den Alltag der Menschen verschönt und erleichtert.
Die deutsche Presse vermeldet, dass in Kürze ein Handy auf den Markt kommt, mit dem man bequem vom Büro aus den heimischen Herd ein- und die Stereoanlageausschalten kann. Wer zuviel Geld hat, kann sich überlegen, ob er nach seinem Ableben, zu Asche verbrannt und in eine handliche Bleihülse geschweißt, ins All geschossen werden möchte, und die Erkundung von Jupiter, Mars und Saturn ist nur noch wenig aufregender als die navigationsgesteuerte Durchquerung eines unbekannten Viertels von Erwitte – Anröchte.
Angesichts solcher Segnungen unserer modernen Zivilisation mutet es seltsam an, dass ein ebenso simpler wie archaisch anmutender Gegenstand wie ein Paket zu einem schier unlösbaren Problem werden kann. Doch der Reihe nach …
Ein befreundetes Ehepaar mittleren Alters beschloss, von zermürbender Arbeit ausgelaugt, ihr körperliches und seelisches Wohlbefinden wiederherzustellen und buchte zu diesem Zwecke „Wellness – Weeks“, ein dreiwöchiges Angebot eines Privatsanatoriums. In früheren Zeiten hatte man dies wohl einmal „Kur“ genannt, aber ein solches Wort passt nicht mehr zu unserer in Anglizismen vernarrten Gesellschaft, die jedes noch so banale Ereignis zum „event“ erhöht. Doch einige deutsche Worte haben erstaunlicherweise feindliche Übernahmeversuche durch Wissenschaft, Werbung, Freizeit oder gar den mächtigen Volksmund überlebt, der sich in den vergangenen Jahren bekanntlich ja schon erfolgreich am Genitiv verging und ihn weitgehend ausrottete. Zu ihnen zählt unter anderem das Wort „Paket“, um das es im weiteren Verlauf geht, obwohl es ja auch hierbei schon erste Aufweichtendenzen gibt, denkt man an die im Straßenbild mittlerweile wohl vertrauten braunen Lieferautos mit der Aufschrift UPS. In diesem speziellen Fall muss ich jedoch gestehen, dass englische Abkürzungen auch geradezu gnädig sein können. Oder wollten Sie sich etwa einen Nationalen Post- und Paketdienst mit dem Namenskürzel „NPD“ auf Lieferautos, dazu noch braunen, vorstellen? Aber ich schweife ab…
Der Tag der Abreise meiner Freunde rückte unaufhaltsam näher und beide arbeiteten sich unter Aufbietung letzter Kraftreserven durch den Kuraufenthaltsvorbereitungszettel, der unter anderem auch den Punkt „Post“ aufwies. Während neben einigen Einträgen schon Häkchen prangten, deren schwungvolle Linienführung von der Erleichterung und dem Stolz ob des erfolgreich Erledigten zeugte, herrschte neben „Post“ noch gähnende Leere. Um die Komplexität dieser vier Buchstaben im Allgemeinen und ihre Bedeutung für diese Geschichte zu verstehen, muss man berücksichtigen, dass es selbst im Jahre 2004 noch fortschrittsresistente Menschen gibt, die schriftliche Mitteilungen wirklich noch in Form eines betippten oder gar hand beschriebenen Blattes Papier erledigen, welches der Deutschen Post überhändigt wird, um dann ( hoffentlich) am nächsten Tag von freundlichen Zustellern dem mehr oder weniger erwartungsvoll harrenden Adressaten ausgehändigt zu werden. Angesichts dieses rückständigen Kommunikationsverhaltens stößt jedoch das Fassungsvermögen eines Briefkastens in kürzester Zeit an seine Grenzen, ist der Empfänger verreist, ohne für seine (des Briefkastens) Entleerung Sorge getragen zu haben.
Meine Freunde kamen nach einem kurzen Blick in den ihren zu dem übereinstimmenden Ergebnis, dass er nicht annähernd dafür ausgelegt war, die zu erwartende Papierflut von drei Wochen aufzunehmen, ohne an akuter Verstopfung zu leiden. Das Problem erkannt, entschieden sie, die Post lagern zu lassen. Das für diesen Zweck entworfene Antragsformular wurde besorgt ( Reinhard Mey lässt schön grüßen! ), nach bestem Wissen und Gewissen ausgefüllt, erneut zur Post expediert, und so konnte, die erforderliche Gebühr entrichtet, schließlich auf der to-do-Liste (wie Sie feststellen, lieber Leser, erliege auch ich mitunter der Faszination der Anglizismen) ein weiteres Häkchen gesetzt werden.
Bevor sie abreisten, fragten meine Freunde mich, ob ich während ihrer Abwesenheit gelegentlich im Haus nach dem Rechten sehen und die Blumen vor dem Ertrocknungstod retten könnte. Da wir nicht weit von einander entfernt wohnten und der Auftrag auch nicht nach übermäßiger Arbeit aussah, sagte ich zu, übernahm den Zweitschlüssel und war somit Hausmeister auf Zeit.
Die ersten Besuche verliefen, wie ich es erwartet hatte, völlig ereignislos. Weder war eingebrochen worden noch fand ich die Topfpflanzen in Agonie vor, dafür jedoch mit schöner Regelmäßigkeit im Briefkasten kostenlose Wochenzeitungen, die ja hauptsächlich aus vielen Druckfehlern und noch mehr Werbung bestehen, und die ich mit ebensolcher Regelmäßigkeit stante pede zum Altpapier beförderte. So versah ich meinen Dienst im Haus mit gewissenhafter Hingabe und ohne irgendwelche Vorkommnisse.
Das sollte sich am Donnerstag der dritten Woche, zwei Tage vor ihrer Rückkehr, ändern. Ich öffnete die Eingangstür und fand die obligatorischen Druckerzeugnisse. Als ich sie griff, fiel mir eine leuchtend rote Karte entgegen. Ich wähnte sie bereits als freundliche Einladung zur Eröffnung eines Friseur- oder Hundesalons, als mein Blick auf das Wort „Paketzustellung“ fiel, was mich veranlasste, diesen Einwurf näher zu betrachten. Der Name meiner Freundin stimmte ebenso wie die Adresse. Mit deutscher Gründlichkeit zeugten Datum und Uhrzeit von dem vergeblichen Besuch eines pflichtbewussten Zustellers, der offensichtlich nichts von dem Lagerauftrag gewusst hatte. Also beschloss ich, noch am nämlichen Tage meine Freundin anzurufen, um sie von der Überraschung in Kenntnis zu setzen.
„Hallo Thea, ich bin’s.“
„Oh, hallo. Ist was passiert?“
„Nein, warum?“
„Weil du um diese Zeit anrufst.“
Es war etwa 17.30 und sie empfand offenbar Anrufe um diese Uhrzeit als bedrohlich.
„Nein, es ist nichts passiert, aber die Post hat versucht, ein Paket zuzustellen und eine Abholkarte hinterlassen.“
„Ein Paket? Für wen?“
„Für dich. Auf der Karte steht dein Name.“
Sekundenlanges Schweigen.
„Das kann nicht sein, ich erwarte kein Paket!“
„Versuch dich zu erinnern. Hast du irgendwas bestellt?“
Sekundenlanges Schweigen.
„Nein, nichts. Absolut nichts!“
„Na gut, erwartest du irgendwelche Geschenke?“
Sekundenlanges Schweigen.
„Leider nein, ich wüsste nicht von wem. Und schon gar nicht, aus welchem Anlass.“
„Vielleicht hast du etwas gewonnen.“
„Ich?! Ich hab in meinem Leben noch nie etwas gewonnen!“
„Na gut, ich werde das Paket abholen und wenn du möchtest, öffne ich es für dich oder ich sende es an eure Adresse weiter, OK?“
„Abholen wär’ prima! Ja, mach das. Nur bitte nicht nachschicken, das ergibt keinen Sinn, bis das Paket hier ist, sind wir schon wieder zurück. Ist ja interessant …“
Am nächsten Tag, es war schwül und dunkle Wolken am Himmel zeugten von dräuendem Unheil, fuhr ich mit der Karte zu dem angegebenen Postamt, wobei jedoch dieser Begriff eine schamlose Übertreibung darstellte angesichts der Lokalität. Sie bestand aus einem rechteckigen Raum mit einem Fenster und zwei Schaltern. Vor dem rechten der beiden stand ein Schild, welches dem geschätzten Kunden erklärte, dass im Zuge der Personaleinsparung dieser Schalter aufgehört hatte, ein solcher zu sein. Aha! Ein Blick durch das Fenster auf die beiden Parkplätze vermittelte den irrigen Eindruck, es herrsche dichtester Nebel, während die auf der Fensterbank befindliche Pflanze ihr Leben eindeutig schon gelebt hatte und vermutlich an Licht- und Wassermangel verblichen war. Lediglich noch zwei Blätter krallten sich im Todeskampf am Stamm fest und trotzten den Naturgesetzen.
Der Boden und die Wände des Raumes waren in dezenten Grautönen gehalten, welche nur durch ein Plakat aufgelockert wurden, das im Namen des Deutschen Roten Kreuzes für eine Woche der Blutspenden warb, die in der Zeit vom 20. bis 27. März 2002 (!) stattgefunden hatte. Ich musste mit einer gewissen Bewunderung feststellen, dass alles in diesem Raum auf einander abgestimmt zu sein schien, denn selbst dem Schalterbeamten war es gelungen, sich dem Ambiente seines Arbeitsplatzes anzupassen. Es handelte sich um einen Mann vermutlich jenseits der 50 mit einer gewaltigen Hakennase, einer ausgesprochen ungesunden Gesichtsfarbe und einem anthrazitfarbenen Pullunder über einem Hemd, dessen Farbgebung sich irgendwo zwischen „Verwaschenblau“ und „Herbstnebeldämmerungsgrau“ verlor. In Ermangelung einer Krawatte hatte er die beiden obersten Knöpfe geöffnet, die den Blick auf einen blassen, faltigen Hals freigaben. Und obwohl ich dem Mann niemals zuvor begegnet war, wusste ich bei seinem Anblick sofort, dass das letzte Lachen dieses Menschen Jahre zurück liegen musste, wenn es denn überhaupt jemals stattgefunden haben sollte. In seinem Gesicht schien sich das ganze Leid dieser Welt und das gesamte Elend seines Arbeitsplatzes zu spiegeln. Hierzu passte schließlich auch der Umstand, dass diese beklagenswerte Kreatur zu allem Übel auch noch hinter einer dicken Glasscheibe gehalten wurde, was in mir Bilder von meinem letzten Zoobesuch und dem Anblick eines traurig – melancholischen Leguans in einem Terrarium wachrief.
Da ich der einzige Kunde war, bewahrte mich die Frage „Bitte schön?“ des Schalterbeamten davor, mich zu sehr mit der moribunden Atmosphäre dieses Raums und seines Bewohners zu beschäftigen. Ich würde ganz einfach das Paket abholen, eventuelle Gebühren bezahlen und dann dieses postalische Leichenschauhaus auf dem schnellsten Wege wieder verlassen. Ich atmete tief durch und es entspann sich folgender Dialog:
„Guten Tag! Ich möchte für eine Freundin, die verreist ist, ein Paket abholen.“
Dabei schob ich, einer Fütterung nicht unähnlich, dem Leguan die Abholkarte unter der Glasscheibe durch. Er griff mit knochigen Händen nach ihr, beförderte sie dicht vor sein Gesicht und beäugte sie eingehend.
„Haben Sie ihren Personalausweis dabei?“
„Ja, natürlich.“ Auch er wanderte unter der Scheibe hindurch ins Terrarium.
„Dann brauche ich noch die Vollmacht.“
„Bitte?“
„Die Vollmacht, dass Sie das Paket abholen dürfen.“
„Ich habe keine Vollmacht. Meine Freundin rechnete ja gar nicht mit einem Paket.“
„Tja, ohne eine Vollmacht darf ich Ihnen das Paket nicht aushändigen. Das steht auch hier auf der Karte, “er wies mit seiner Klaue auf Kleingedrucktes, „haben Sie das denn nicht gelesen?“ Der Vorwurf in seiner Stimme angesichts meines respektlosen Umgangs mit einer Paketzustellungsbenachrichtigungskarte war unüberhörbar. War der Leguan etwa auf Kampf aus?
„Nein, das habe ich allerdings nicht gelesen, sonst wäre ich ja wohl kaum hier. Aber ich habe noch gestern mit meiner Freundin telefoniert und sie hat mich darum gebeten, das Paket für sie in Empfang zu nehmen.“
„Das mag ja sein, aber da könnte ja jeder kommen und für irgendwen ein Paket abzuholen.“ Seine Stimme hatte leicht an Schärfe zugenommen und mir kam eine Tiersendung im Vorabendprogramm in den Sinn, in der es unter anderem um das aggressive Verhalten von Echsen im Falle einer Bedrohung ging. Ich holte tief Luft, um meinen Ärger über die doppelte Entindividualisierung im Zaum zu halten. Ich war doch nicht jeder und meine Freundin nicht irgendwer!
Der Leguan legte nach: „Ich brauche eine Vollmacht, ohne die geht gar nichts!“ Er betrachtete mich aus seinem Glaskäfig mit einer Mischung aus Mitleid in Anbetracht meiner Unwissenheit und aufsteigender Ungeduld ob meiner Begriffsstutzigkeit.
„Hören Sie, meine Freunde haben ihre Post für die Dauer ihrer Abwesenheit lagern lassen—“
„Die kann ich Ihnen auch nicht geben. Auch dafür benötigen Sie eine Vollmacht!“
Ich schickte ein Stoßgebet zum Himmel.
„Ich möchte ja auch gar nicht die ganze Post abholen, sondern lediglich dieses eine Paket. Ich verstehe nicht, wie das zugestellt werden konnte, obwohl doch ein Lagerauftrag vorliegt.“
„Dann haben Ihre Freunde wohl vergessen, an der entsprechenden Stelle ein Häkchen zu setzen!“ Der Triumph ließ seine Stimme leicht erzittern. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen einen Regalschrank und verschränkte die Hände vor der Brust. Offensichtlich war damit diese Angelegenheit für ihn erledigt.
Obwohl ich ein Mensch bin, der, wie ich zugeben muss, im Angesicht von Amtsgewalt und scheinbar unumstößlichen Wahrheiten schnell bereit ist, klein beizugeben, lief ich diesem Moment zu nie gekannter Höchstform auf. Was lag näher, als sich des Handys zu bedienen, meine Freundin anzurufen, den Apparat dann dem Leguan ins Reptilarium hineinzureichen und alles klären zu lassen! Während ich die eingespeicherte Nummer eintippte, teilte ich dem Wesen hinter Glas meine rettende Idee mit, die jedoch in der gleichen Sekunde schon wieder zunichte gemacht wurde.
„Hören Sie, woher soll ich wissen, dass die Person, mit der ich dann spreche, auch wirklich die rechtmäßige Empfängerin des Pakets ist?“
„Ganz einfach, weil ich es Ihnen sage!“
„Nee, nee, guter Mann, so einfach, wie Sie sich das vorstellen, ist das nicht“ – dieser tiefsinnigen Feststellung hätte es nun wahrlich nicht mehr bedurft – „ich kenne Sie ja gar nicht!“
Hinter mir ertönten ein höfliches Hüsteln und das Klimpern eines Schlüsselbundes. Als ich mich umdrehte, blickte ich in drei Gesichter, die mehr oder weniger erfolgreich versuchten, ihre Ungeduld zu verbergen. Ich hatte beim Kampf mit dem Leguan das Kommen anderer Kunden gar nicht bemerkt. Also läutete ich die letzte Runde ein und bereitete meinen geordneten Rückzug vor.
„Kann meine Freundin Sie hier anrufen?“ „Erstens habe ich Ihnen eben schon gesagt, dass ich weder Sie noch Ihre Freundin kenne, und zweitens haben wir hier kein Telefon.“ Hätte er mir jetzt erklärt, in den Nachrichten sei soeben vermeldet worden, der Papst sei in Wirklichkeit eine Frau, hätte ich dem in diesem Moment vermutlich mehr Glauben geschenkt. Kein Telefon? In einer Postfiliale?? Meine Mimik musste mir wohl entglitten sein, denn er fühlte sich zu dem Zusatz genötigt: „Na ja, also Telefon haben wir hier natürlich schon, aber nur für postinterne Gespräche. Sie können uns nicht von außerhalb anrufen.“
Ein abermaliges, nun jedoch deutlich asthmatisches Husten hinter mir verhinderte, dass ich diese bemerkenswerte Mitteilung in Frage zu stellen oder auch nur zu kommentieren wagte. Und als würde er meine Gedanken erraten, schob er noch schnell hinterher: „Und ein Fax geht auch nicht, ein Faxgerät haben wir wirklich nicht.“
Ich beschloss die Waffen zu strecken und einen möglichst würdevollen Abgang hinzukriegen. Ich würde mir meine Niederlage nicht anmerken lassen und Größe bewahren. „Was passiert nun mit dem Paket?“
„Das wird zurück an den Absender geschickt, wenn es nicht rechtzeitig abgeholt wird!“ Ich hätte laut schreien können! Mit aller mir noch zu Gebote stehenden Freundlichkeit bedankte ich mich, wünschte einen schönen Tag und fragte im Weggehen: „Haben Sie dafür eine Vollmacht?“ Ich glaube noch heute, es war gut, dass ich nicht mehr verstand, was das Reptil murmelte.
Genau in dem Moment, als ich am Fenster vorbeikam, fiel von der Topfpflanze das vorletzte vertrocknete Blatt ab und blieb neben einem kleinen Stapel vergilbter Werbezettel liegen. Darauf stand in großen Buchstaben:
„Ihre Post – immer zuverlässig für Sie da!“