E = mc²
Verfasst: 18.06.2007, 22:44
E = mc²
Die kühle Sonne lässt träge einen Lichtfinger über die Fahrradspeichen gleiten. Die Welt liegt noch ordentlich zusammengefaltet in den Regalen, der Asphalt flüstert leise mit den Reifen, ansonsten herrscht Vogelstille. Das Kind radelt schnell, in gleichmäßiger Geschwindigkeit, durch die morgenleeren Sonntagsstraßen. Es fröstelt in seiner dünnen Sweatjacke, aber das ist ihm egal, es ist nicht wichtig, keiner sieht es, also kann es ebenso gut sein, dass es gar nicht so ist.
Die Luft bietet keinen Widerstand, so wie der Rest der Welt, man muss sich einfach nur selbst zu einem Teil von ihr machen. Sie lässt das zu, im Grunde ist es ihr vollkommen einerlei, sie nimmt ohnehin kritiklos alles in sich auf, was ihr angeboten oder aufgezwungen wird, und so früh am Morgen ist sie noch beinahe leer. Ihre Moleküle mischen sich unter die des sonst so starr erscheinenden Körpers, der durchlässig wird, hier und jetzt muss er keine Form wahren, wozu auch, keiner sieht es. Es ist niemand da, der dem Kind hinterherrufen könnte, es solle gefälligst vernünftig sein und sich wärmer anziehen und außerdem seine Nase putzen; niemand, der ihm sagte, wie doof es sei, dass es ein hässliches Gesicht habe und abstehende Ohren und zu dumm sei, um eins und eins zusammenzuzählen, dass es ja nicht einmal einen Ball fangen könne; und niemand, der ihm mit spöttischer Miene klarmachte, dass es Unsinn sei zu glauben, man könne seine Körpermoleküle mit denen der Luft oder anderen vermischen, oder gar mit jenen fester Gegenstände. Und weil niemand da ist, der das sagt, fährt das Kind auf den nächsten Laternenpfahl zu und durch ihn hindurch, Moleküle streifen Moleküle, es kitzelt ein wenig, aber sie tun sich gegenseitig nichts, sie betasten sich, erkennen ferne Verwandtschaften, alte Bekannte, irgendwann waren wir doch einmal gemeinsam ..., leider geht es zu schnell, noch eine kurze Liebkosung zum Abschied, kleine elektrische Blitze, dann ist es schon wieder vorbei, keiner hat es gesehen, also kann es ebenso gut sein, dass es gar nicht passiert ist. Aber das ist egal, es hat Spaß gemacht.
Keiner sieht mich, also kann es ebenso gut sein, dass ich gar nicht existiere, denkt das Kind. Möglicherweise ist es nichts weiter als seine eigene Einbildung, sein eigener Traum oder der Traum von irgendjemand anderem, der jetzt, am Sonntagmorgen, noch im Bett liegt und ausschläft und sich beim Aufwachen nicht einmal mehr daran erinnern wird. Nur, was wird aus ihm, dem Kind, wenn der, der es träumt, aufwacht und sich nicht an es erinnert? Wird es weg sein, als habe es nie existiert? Wird es auf ewig in diesem Traum des anderen weiterradeln, bis er vielleicht irgendwann einmal wieder zu ihm zurückkehrt, möglicherweise auch erst in einem anderen Leben? Wenn es jetzt meint, aus eigenem Wunsch die Richtung zu ändern, ist das dann tatsächlich sein eigener Wunsch oder ein Einfall des anderen? So überlegt das Kind, während es durch ein Auto fährt, was sich kalt anfühlt, besonders der Motor, der kratzt auch ein wenig. Und wenn der Träumer keine anderen Menschen mit hineinträumt, dann wird es seine Ruhe haben, niemand wird es belästigen, und selbst seine Erinnerungen an andere Menschen wären nur geträumt, all die Alpträume, die es schon tatsächlich erlebt zu haben meint, wären gar nicht wahr gewesen. Und die schönen Erinnerungen ... was würde es ändern, ob die schönen Erinnerungen echt wären oder nur geträumt, es hätte sie weiterhin. Im Grunde brauchte es sich jetzt keine Sorgen mehr zu machen, eigentlich kann jetzt gar nichts mehr passieren, in diesem Moment ist das Leben perfekt, keine bösen Überraschungen mehr möglich, aber auf die Dauer ist das vielleicht doch ein bisschen langweilig ... irgendetwas fehlt noch, um die gegebene Perfektion weiter zu perfektionieren. Ein endgültiges Perfekt daraus zu machen. Der perfekte Abschluss.
Es ist sicherer, das Ganze jetzt abzuschließen, so lange es noch eine Möglichkeit dazu gibt, zumindest versuchen muss es das Kind, denn was ist, wenn der Träumer tatsächlich aufwacht und es einfach so im Nichts verschwinden lässt? Oder, noch schlimmer, wenn es ihm einfallen sollte, den Sonntag bis zum Ende und dann in einen hässlichen, alltäglichen Montag mit all den gewohnten kleinen Grausamkeiten hinüberzuträumen, an dem dann doch alles ist wie immer? Wenn das Leben dann plötzlich doch in die alten Bahnen zurückkehrt, sein altes Gesicht quälender Unendlichkeit zurückerhält? Noch zeigt sich die Welt neu und vielversprechend, noch ist sie am schönsten und somit ideal zum Aufhören. Bereit für das krönende Feuerwerk. Mit der Energie von dreißig Wasserstoffbomben, die jeder Mensch mit sich herumträgt, das Grandioseste, was diese Welt je gesehen hat. Das Einzige, was noch fehlt, ist ein Weg, diese Energie freizusetzen. Eine Initialzündung, die in der Lage ist, sämtliche Körpermoleküle auf einmal auseinanderzureißen.
Kein Problem, denkt das Kind, es ist Sonntagmorgen. Und radelt weiter durch die stillen Straßen, durch Häuser hindurch, in denen die Menschen – es sind also doch andere Menschen in dem Traum, aber sie sind blind für alles, von dem sie zu wissen glauben, dass es nicht sein kann – gerade das Frühstücksgeschirr zusammenräumen und sich fertig machen für die Kirche. Jetzt braucht es doch Menschen, noch nicht gleich, nicht jetzt, niemanden, der ihm jetzt erklärt, dass das nicht geht, was es da vorhat, der ihm wieder sagt, wie dumm es sei. Aber später braucht es sie. Damit sie alle sehen, dass es doch geht. Damit es jemanden gibt, der sein Lachen hört. Es fährt durch die Menschen hindurch, ihre Seelen – feinste Energiegespinste, kaum sichtbar, aber unzweifelhaft da –, einige davon bereits in stiller Vorbereitung auf den Gottesdienst, viele jedoch meilenweit davon entfernt. Der Träumer, sollte es ihn geben, lässt all dies geschehen, beobachtet gespannt, was geschieht. Das Kind kommt früher als die meisten bei der Kirche an. Direkt unter dem riesigen Glockenturm hält es an und bleibt auf seinem Fahrrad sitzen, abwartend, konzentriert. Während sich nach und nach die ersten Menschen auf dem Vorplatz sammeln, läuten schließlich die Glocken das Finale ein.
Es ist wie immer, doch diesmal lässt das Kind es zu. Hält sich nicht die Ohren zu, versucht nicht, so weit wie möglich davonzulaufen, sich irgendwie den Schlägen zu entziehen. Diesmal genießt es jede einzelne der heftigen Erschütterungen, sammelt sie, dass sich die Schwingungen im Körper addieren, spürt, wie sich jede einzelne Zelle mit Energie auflädt, bis schließlich mit dem letzten harten Schlag sämtliche Moleküle auf einmal auseinanderfliegen in einer Explosion, so mächtig, wie sie die Welt noch nie erlebt hat. Minuten, Stunden vergehen, auch wenn keine Uhr mehr da ist, die sie messen könnte, und noch immer bebt die Erde, zerfällt vorher felsenfest Geglaubtes in seine winzigsten Bestandteile. Und immer noch schießen neue scharfe Blitze fröhlich in endloses Schwarz.
Das ist jetzt nicht egal, das müssten alle gesehen haben, kann also sein, dass es tatsächlich passiert ist.
Die kühle Sonne lässt träge einen Lichtfinger über die Fahrradspeichen gleiten. Die Welt liegt noch ordentlich zusammengefaltet in den Regalen, der Asphalt flüstert leise mit den Reifen, ansonsten herrscht Vogelstille. Das Kind radelt schnell, in gleichmäßiger Geschwindigkeit, durch die morgenleeren Sonntagsstraßen. Es fröstelt in seiner dünnen Sweatjacke, aber das ist ihm egal, es ist nicht wichtig, keiner sieht es, also kann es ebenso gut sein, dass es gar nicht so ist.
Die Luft bietet keinen Widerstand, so wie der Rest der Welt, man muss sich einfach nur selbst zu einem Teil von ihr machen. Sie lässt das zu, im Grunde ist es ihr vollkommen einerlei, sie nimmt ohnehin kritiklos alles in sich auf, was ihr angeboten oder aufgezwungen wird, und so früh am Morgen ist sie noch beinahe leer. Ihre Moleküle mischen sich unter die des sonst so starr erscheinenden Körpers, der durchlässig wird, hier und jetzt muss er keine Form wahren, wozu auch, keiner sieht es. Es ist niemand da, der dem Kind hinterherrufen könnte, es solle gefälligst vernünftig sein und sich wärmer anziehen und außerdem seine Nase putzen; niemand, der ihm sagte, wie doof es sei, dass es ein hässliches Gesicht habe und abstehende Ohren und zu dumm sei, um eins und eins zusammenzuzählen, dass es ja nicht einmal einen Ball fangen könne; und niemand, der ihm mit spöttischer Miene klarmachte, dass es Unsinn sei zu glauben, man könne seine Körpermoleküle mit denen der Luft oder anderen vermischen, oder gar mit jenen fester Gegenstände. Und weil niemand da ist, der das sagt, fährt das Kind auf den nächsten Laternenpfahl zu und durch ihn hindurch, Moleküle streifen Moleküle, es kitzelt ein wenig, aber sie tun sich gegenseitig nichts, sie betasten sich, erkennen ferne Verwandtschaften, alte Bekannte, irgendwann waren wir doch einmal gemeinsam ..., leider geht es zu schnell, noch eine kurze Liebkosung zum Abschied, kleine elektrische Blitze, dann ist es schon wieder vorbei, keiner hat es gesehen, also kann es ebenso gut sein, dass es gar nicht passiert ist. Aber das ist egal, es hat Spaß gemacht.
Keiner sieht mich, also kann es ebenso gut sein, dass ich gar nicht existiere, denkt das Kind. Möglicherweise ist es nichts weiter als seine eigene Einbildung, sein eigener Traum oder der Traum von irgendjemand anderem, der jetzt, am Sonntagmorgen, noch im Bett liegt und ausschläft und sich beim Aufwachen nicht einmal mehr daran erinnern wird. Nur, was wird aus ihm, dem Kind, wenn der, der es träumt, aufwacht und sich nicht an es erinnert? Wird es weg sein, als habe es nie existiert? Wird es auf ewig in diesem Traum des anderen weiterradeln, bis er vielleicht irgendwann einmal wieder zu ihm zurückkehrt, möglicherweise auch erst in einem anderen Leben? Wenn es jetzt meint, aus eigenem Wunsch die Richtung zu ändern, ist das dann tatsächlich sein eigener Wunsch oder ein Einfall des anderen? So überlegt das Kind, während es durch ein Auto fährt, was sich kalt anfühlt, besonders der Motor, der kratzt auch ein wenig. Und wenn der Träumer keine anderen Menschen mit hineinträumt, dann wird es seine Ruhe haben, niemand wird es belästigen, und selbst seine Erinnerungen an andere Menschen wären nur geträumt, all die Alpträume, die es schon tatsächlich erlebt zu haben meint, wären gar nicht wahr gewesen. Und die schönen Erinnerungen ... was würde es ändern, ob die schönen Erinnerungen echt wären oder nur geträumt, es hätte sie weiterhin. Im Grunde brauchte es sich jetzt keine Sorgen mehr zu machen, eigentlich kann jetzt gar nichts mehr passieren, in diesem Moment ist das Leben perfekt, keine bösen Überraschungen mehr möglich, aber auf die Dauer ist das vielleicht doch ein bisschen langweilig ... irgendetwas fehlt noch, um die gegebene Perfektion weiter zu perfektionieren. Ein endgültiges Perfekt daraus zu machen. Der perfekte Abschluss.
Es ist sicherer, das Ganze jetzt abzuschließen, so lange es noch eine Möglichkeit dazu gibt, zumindest versuchen muss es das Kind, denn was ist, wenn der Träumer tatsächlich aufwacht und es einfach so im Nichts verschwinden lässt? Oder, noch schlimmer, wenn es ihm einfallen sollte, den Sonntag bis zum Ende und dann in einen hässlichen, alltäglichen Montag mit all den gewohnten kleinen Grausamkeiten hinüberzuträumen, an dem dann doch alles ist wie immer? Wenn das Leben dann plötzlich doch in die alten Bahnen zurückkehrt, sein altes Gesicht quälender Unendlichkeit zurückerhält? Noch zeigt sich die Welt neu und vielversprechend, noch ist sie am schönsten und somit ideal zum Aufhören. Bereit für das krönende Feuerwerk. Mit der Energie von dreißig Wasserstoffbomben, die jeder Mensch mit sich herumträgt, das Grandioseste, was diese Welt je gesehen hat. Das Einzige, was noch fehlt, ist ein Weg, diese Energie freizusetzen. Eine Initialzündung, die in der Lage ist, sämtliche Körpermoleküle auf einmal auseinanderzureißen.
Kein Problem, denkt das Kind, es ist Sonntagmorgen. Und radelt weiter durch die stillen Straßen, durch Häuser hindurch, in denen die Menschen – es sind also doch andere Menschen in dem Traum, aber sie sind blind für alles, von dem sie zu wissen glauben, dass es nicht sein kann – gerade das Frühstücksgeschirr zusammenräumen und sich fertig machen für die Kirche. Jetzt braucht es doch Menschen, noch nicht gleich, nicht jetzt, niemanden, der ihm jetzt erklärt, dass das nicht geht, was es da vorhat, der ihm wieder sagt, wie dumm es sei. Aber später braucht es sie. Damit sie alle sehen, dass es doch geht. Damit es jemanden gibt, der sein Lachen hört. Es fährt durch die Menschen hindurch, ihre Seelen – feinste Energiegespinste, kaum sichtbar, aber unzweifelhaft da –, einige davon bereits in stiller Vorbereitung auf den Gottesdienst, viele jedoch meilenweit davon entfernt. Der Träumer, sollte es ihn geben, lässt all dies geschehen, beobachtet gespannt, was geschieht. Das Kind kommt früher als die meisten bei der Kirche an. Direkt unter dem riesigen Glockenturm hält es an und bleibt auf seinem Fahrrad sitzen, abwartend, konzentriert. Während sich nach und nach die ersten Menschen auf dem Vorplatz sammeln, läuten schließlich die Glocken das Finale ein.
Es ist wie immer, doch diesmal lässt das Kind es zu. Hält sich nicht die Ohren zu, versucht nicht, so weit wie möglich davonzulaufen, sich irgendwie den Schlägen zu entziehen. Diesmal genießt es jede einzelne der heftigen Erschütterungen, sammelt sie, dass sich die Schwingungen im Körper addieren, spürt, wie sich jede einzelne Zelle mit Energie auflädt, bis schließlich mit dem letzten harten Schlag sämtliche Moleküle auf einmal auseinanderfliegen in einer Explosion, so mächtig, wie sie die Welt noch nie erlebt hat. Minuten, Stunden vergehen, auch wenn keine Uhr mehr da ist, die sie messen könnte, und noch immer bebt die Erde, zerfällt vorher felsenfest Geglaubtes in seine winzigsten Bestandteile. Und immer noch schießen neue scharfe Blitze fröhlich in endloses Schwarz.
Das ist jetzt nicht egal, das müssten alle gesehen haben, kann also sein, dass es tatsächlich passiert ist.