In Mathe war ich immer schlecht
Verfasst: 17.06.2007, 19:24
In Mathe war ich immer schlecht
Vielleicht hätte ich gewarnt sein können. Vielleicht hätte jemand, der schon zu Schulzeiten Lehrer als seine natürlichen Feinde und Prüfungen als reine Schikane betrachtet hat, nicht ausgerechnet einen Beruf ergreifen sollen, in dem es zu seinen Aufgaben gehört, Lehrerexamen abzunehmen. Vielleicht hätte mir zumindest jener denkwürdige Tag, an dem ich nach zehn Minuten wegen eines allergischen Schocks aus einem Lehrerzimmer getragen werden musste, in dem ich auf einen Freund wartete, ein Fingerzeig sein können.
Solche und ähnliche Gedanken gehen mir durch den Kopf, als ich einen Tag nach Rückgabe der Klausur „Mathematik für Lehramtskandidaten“ mein Büro betrete. TrandyAndy@msn.com hat geschrieben, seine Mail liegt obenauf in meiner Mailbox. – Trandy mit A. „Englisch kann er also auch nicht“, geht es mir durch den Kopf, bevor ich sein Schreiben öffne. TrandyAndy ist mit meiner Klausur unzufrieden, teilt er mir mit. Enttäuscht sei er, weil nur vier der acht Klausuraufgaben leicht lösbar gewesen seien, die anderen hingegen schwer. Er begreife ja, dass es auch schwierige Aufgaben geben müsse, aber davon seien in der Klausur eindeutig zu viele vorgekommen. – So viel Verständnis verdient natürlich eine Antwort:
„Lieber Herr Andy“, schreibe ich – ich werde ihn ja nicht mit dem Vornamen ansprechen –
„ich kann Ihre Enttäuschung nachvollziehen. Tatsächlich bin auch ich enttäuscht, dass Sie die Klausur nicht bestanden haben. Ihrem Ergebnis entnehme ich, dass nicht nur vier, sondern sieben der acht Aufgaben für Sie nicht lösbar waren, bei der achten haben sie immerhin die Hälfte der Punkte. – Mit zwei erfolgreich behandelten Aufgaben, wäre die Klausur bestanden gewesen. Leider hat sich an unserem Institut die Tradition eingeschlichen, die Klausuraufgaben am behandelten Stoff zu orientieren. Ich ziehe in Erwägung, Sie bei der nächsten Klausur vorher um Rat zu fragen.“
Danach ist mir wohler. Da kann ich mich auch daran begeben, die Mail von schwipps123@gmx.de zu beantworten. Schwipps heißt im wirklichen Leben Kathrin und fand schon bei der Evaluation, dass die Vorlesung neben den anderen sieben Veranstaltungen, die sie in diesem Semester belegt, nicht zu schaffen ist (dem kann ich nur zustimmen) und dass zudem das Skript mit 180 Seiten zu lang sei. Mit letzterem stößt sie ins gleiche Horn wie ihre Freundin Andrea, nur findet die, das Skript sei zu kurz.
Während ich maile, klopft es an der Tür. Als ich öffne, steht vor mir ein 1,65m großer, braun gebrannter Herkules auf Rollerblades. Er schaut mich an, als müsste ich wissen, mit wem ich es zu tun habe. Auf meine Nachfrage erklärt er es mir dennoch: Er sei in der Klausur mit einem Taschenrechner erwischt worden, daraufhin durchgefallen und wolle nun wissen, ob da noch etwas zu machen sei. Uff! Der Taschenrechner war ein programmierbares Wunderding, dass die Klausur locker alleine bestanden hätte und dass Taschenrechner nicht erlaubt sind, habe ich zweimal in der Vorlesung erklärt, es wurde vor der Klausur von der Aufsicht vorgelesen, stand während der Klausur an der Tafel und auch auf dem Aufgabenzettel. Wie, um Himmels Willen, hat er das übersehen können? In den Vorlesungen habe er wegen Krankheit gefehlt, außerdem sei er schwerhörig und kurzsichtig, erklärt er. Auf den Aufgabenzettel habe er wohl nicht gründlich genug geschaut. Ich seufze und bin nahe dran, ihm Sonderpunkte wegen schwerer Gebrechlichkeit zu geben. Aber selbst, wenn ich ihm nur die Punkte für die Aufgaben abziehe, wo er den Taschenrechner hätte verwenden können, ist er durchgefallen. Er habe ja nicht mogeln wollen, argumentiert er, schließlich hätte die Aufsicht den Taschenrechner ja bei ihm auf dem Tisch gefunden und nicht darunter. „Nun, sonst hätten Sie ihn wohl auch nicht lesen können“, antworte ich und erinnere ihn an seine Kurzsichtigkeit. Ja, selbst wenn ich großzügig bin und ihm nur für die Aufgabe, bei der er erwischt wurde Punkte abziehe, ist er durchgefallen, ja sogar, selbst wenn ihm nur die Punkte für die Rechnung, die er nachweislich mit dem Taschenrechner gemacht hat, fehlen, ändert sich an seinem Resultat nichts. Als ich schlussendlich sage, ich könne ihm schließlich nicht noch Extrapunkte dafür geben, dass er mit unerlaubten Hilfsmitteln erwischt wurde, rollt er aus meinem Büro und brüllt: „Mit Ihnen kann man ja nicht reden.“ Hoffentlich begegne ich ihm nicht nachts.
Inzwischen hat sich TrandyAndy wieder gemeldet. Er will wissen, wie man sich für die Nachklausur anmeldet – ich kann ihm sagen, dass er, da in der ersten Klausur durchgefallen, schon angemeldet ist. Kaum habe ich die Mail abgeschickt, gibt mir meine Mailbox schon wieder ein Zeichen. TrandyAndy ist zwar nicht der Hellste, was Mathematik betrifft, aber schnell wie der Blitz. Unter diesen Umständen, so hat er entschieden, will er sich von der Nachklausur wieder abmelden.
Mir bleibt keine Zeit mich zu wundern, ich muss zur Besprechung der Klausur. Der Hörsaal ist berstend voll. Schon bei der ersten Aufgabe möchte ein Student – ich tippe vom Aussehen auf Mathe/Sport oder Mathe/Erdkunde (mit Schwerpunkt auf dem jeweils anderen Fach) - wissen, was denn an seiner Lösung verkehrt ist. „3% einer Bevölkerung“, hieß es in der Aufgabe, „ leiden an TBC. Ein Test stellt TBC zu 99% fest, liegt TBC nicht vor, so fällt er mit 95% Wahrscheinlichkeit negativ aus. Mit welcher Wahrscheinlichkeit hat jemand, dessen Test positiv ist, auch wirklich TBC?“
Die Antwort des Studenten ist verblüffend: „Wir definieren die folgenden Ereignisse:
P sei das Ereignis, P ist eine Person.
P’ sei das Ereignis P ist negativ an TBC erkrankt.
P sei die Wahrscheinlichkeit von P.“
Danach berechnet er die Wahrscheinlichkeit, dass jemand negativ erkrankt ist, wenn er keine Person ist. Nicht weiter verwunderlich, dass ein Ergebnis auch noch die 100% weit übertrifft. Ich murmele etwas von einem extensiven Gebrauch des Buchstaben P und gehe weiter zur nächsten Aufgabe.
Auch die ist nicht ganz ohne Tücken. Jeder voreilige Stolz meinerseits, sie richtig an der Tafel vorgerechnet zu haben, wird jäh vom Zwischenruf eines Studenten zerstört: „Letzte Woche haben Sie noch gesagt x sei 0,7, jetzt ist es 0,3“, protestiert er. Meine Kniekehlen fühlen sich merkwürdig taub an. Bloß schnell weiter zu Aufgabe 3.
Hier stellt sich heraus, dass leider 30% der zukünftigen Lehrer die Binomische Formel vergessen haben. Doch ich bleibe stark und wiederhole sie rasch: a plus b in Klammern zum Quadrat ist a Quadrat plus zwei a b plus b Quadrat. Noch rasch ein Beispiel:
„Wenn man für a eins und für b minus eins einsetzt …“
In der zweiten Reihe zeigt eine Frau auf.
„Ja?“
„Aber Herr M! Für die Art Mathematik ist unser Gehirn nicht gemacht, damit müssen Sie doch rechnen.“
Rechnen? Ich mache den ganzen Tag nichts anderes. Nun hat sie mich doch so weit. Ich spüre wie mir das Blut in den Kopf und der Geifer aus dem Mund schießt.
„Sie wollen doch Lehrerin werden“, zische ich, „Mathematiklehrerin! Was würden Sie denn sagen, wenn Ihr Fahrlehrer mitten im Stadtverkehr sagte: Für diese Art von Verkehr ist mein Gehirn nicht gemacht. Und wenn dieser Fahrlehrer zudem Schwierigkeiten hätte, ein Auto von einem Schiff zu unterscheiden?“
Als ich den Hörsaal verlasse rast mein Puls immer noch – ich brauche eine Pause. Fünf Minuten, dann sitze ich in meinem Lieblingscafe. Vor mir einen Block, einen Milchkaffee und zwei Brötchen. Während ich Rechnungen auf mein Papier kritzele, erwecke ich das Interesse einer dunkelhaarigen Schönheit am Nebentisch. Immer wieder gleitet ihr Blick zu mir herüber. „Was machst Du da?“ fragt sie schließlich. „Schreibst Du einen Brief? Ist das Griechisch? Bist Du Grieche?“ – Ach, könnte ich „ja“ sagen, der Tag wäre gelaufen. So aber nuschele ich, es sei Mathematik und sie wendet sich mit einem angewiderten Gesichtsausdruck von mir ab, als hätte ich gesagt, ich habe Lepra.
Wenig später zahle ich. „8 Euro vierzig“ schmettert mir Renate, die Bedienung, den Preis so schnell entgegen, dass ich ahne, dass sie vorbereitet ist. Als ich einen Fünfzig-Euro-Schein zücke, legt sich ihre Stirn in tiefe Falten. Fieberhaft beginnt sie zu rechnen. Nach gut drei Minuten strahlt sie mich an und zählt mir mit Siegerlächeln 63 Euro 40 auf den Tisch. Als ich ihr zu erklären versuche, dass sie mir – egal was der richtige Betrag ist – keinesfalls mehr als 50 Euro zurückgeben sollte, kommt er endlich, mein Lieblingssatz, der absolute Höhepunkt eines jeden Tages: „In Mathe war ich immer schlecht!“
Reflexartig bildet sich in mir die Antwort: „Was ist so toll daran, schlecht in Mathematik zu sein? Wieso kann man damit angeben? Wieso sagt niemand erhobenen Hauptes: Ich kann weder schreiben noch lesen? oder: Sprechen liegt mir nicht so? Wieso würde sich jeder schämen zu sagen: Ich bin leider völlig humorlos und wieso ist es gleichzeitig völlig akzeptabel, wenn man sagt, dass man Mathematik nicht kann?“
Schon will ich diese Sätze herausschleudern, da denke ich an heute Morgen und mich überkommt eine tiefe Milde:
„Von wem hätte sie Mathematik denn lernen sollen?“ denke ich und verlasse friedlich den Raum.
Vielleicht hätte ich gewarnt sein können. Vielleicht hätte jemand, der schon zu Schulzeiten Lehrer als seine natürlichen Feinde und Prüfungen als reine Schikane betrachtet hat, nicht ausgerechnet einen Beruf ergreifen sollen, in dem es zu seinen Aufgaben gehört, Lehrerexamen abzunehmen. Vielleicht hätte mir zumindest jener denkwürdige Tag, an dem ich nach zehn Minuten wegen eines allergischen Schocks aus einem Lehrerzimmer getragen werden musste, in dem ich auf einen Freund wartete, ein Fingerzeig sein können.
Solche und ähnliche Gedanken gehen mir durch den Kopf, als ich einen Tag nach Rückgabe der Klausur „Mathematik für Lehramtskandidaten“ mein Büro betrete. TrandyAndy@msn.com hat geschrieben, seine Mail liegt obenauf in meiner Mailbox. – Trandy mit A. „Englisch kann er also auch nicht“, geht es mir durch den Kopf, bevor ich sein Schreiben öffne. TrandyAndy ist mit meiner Klausur unzufrieden, teilt er mir mit. Enttäuscht sei er, weil nur vier der acht Klausuraufgaben leicht lösbar gewesen seien, die anderen hingegen schwer. Er begreife ja, dass es auch schwierige Aufgaben geben müsse, aber davon seien in der Klausur eindeutig zu viele vorgekommen. – So viel Verständnis verdient natürlich eine Antwort:
„Lieber Herr Andy“, schreibe ich – ich werde ihn ja nicht mit dem Vornamen ansprechen –
„ich kann Ihre Enttäuschung nachvollziehen. Tatsächlich bin auch ich enttäuscht, dass Sie die Klausur nicht bestanden haben. Ihrem Ergebnis entnehme ich, dass nicht nur vier, sondern sieben der acht Aufgaben für Sie nicht lösbar waren, bei der achten haben sie immerhin die Hälfte der Punkte. – Mit zwei erfolgreich behandelten Aufgaben, wäre die Klausur bestanden gewesen. Leider hat sich an unserem Institut die Tradition eingeschlichen, die Klausuraufgaben am behandelten Stoff zu orientieren. Ich ziehe in Erwägung, Sie bei der nächsten Klausur vorher um Rat zu fragen.“
Danach ist mir wohler. Da kann ich mich auch daran begeben, die Mail von schwipps123@gmx.de zu beantworten. Schwipps heißt im wirklichen Leben Kathrin und fand schon bei der Evaluation, dass die Vorlesung neben den anderen sieben Veranstaltungen, die sie in diesem Semester belegt, nicht zu schaffen ist (dem kann ich nur zustimmen) und dass zudem das Skript mit 180 Seiten zu lang sei. Mit letzterem stößt sie ins gleiche Horn wie ihre Freundin Andrea, nur findet die, das Skript sei zu kurz.
Während ich maile, klopft es an der Tür. Als ich öffne, steht vor mir ein 1,65m großer, braun gebrannter Herkules auf Rollerblades. Er schaut mich an, als müsste ich wissen, mit wem ich es zu tun habe. Auf meine Nachfrage erklärt er es mir dennoch: Er sei in der Klausur mit einem Taschenrechner erwischt worden, daraufhin durchgefallen und wolle nun wissen, ob da noch etwas zu machen sei. Uff! Der Taschenrechner war ein programmierbares Wunderding, dass die Klausur locker alleine bestanden hätte und dass Taschenrechner nicht erlaubt sind, habe ich zweimal in der Vorlesung erklärt, es wurde vor der Klausur von der Aufsicht vorgelesen, stand während der Klausur an der Tafel und auch auf dem Aufgabenzettel. Wie, um Himmels Willen, hat er das übersehen können? In den Vorlesungen habe er wegen Krankheit gefehlt, außerdem sei er schwerhörig und kurzsichtig, erklärt er. Auf den Aufgabenzettel habe er wohl nicht gründlich genug geschaut. Ich seufze und bin nahe dran, ihm Sonderpunkte wegen schwerer Gebrechlichkeit zu geben. Aber selbst, wenn ich ihm nur die Punkte für die Aufgaben abziehe, wo er den Taschenrechner hätte verwenden können, ist er durchgefallen. Er habe ja nicht mogeln wollen, argumentiert er, schließlich hätte die Aufsicht den Taschenrechner ja bei ihm auf dem Tisch gefunden und nicht darunter. „Nun, sonst hätten Sie ihn wohl auch nicht lesen können“, antworte ich und erinnere ihn an seine Kurzsichtigkeit. Ja, selbst wenn ich großzügig bin und ihm nur für die Aufgabe, bei der er erwischt wurde Punkte abziehe, ist er durchgefallen, ja sogar, selbst wenn ihm nur die Punkte für die Rechnung, die er nachweislich mit dem Taschenrechner gemacht hat, fehlen, ändert sich an seinem Resultat nichts. Als ich schlussendlich sage, ich könne ihm schließlich nicht noch Extrapunkte dafür geben, dass er mit unerlaubten Hilfsmitteln erwischt wurde, rollt er aus meinem Büro und brüllt: „Mit Ihnen kann man ja nicht reden.“ Hoffentlich begegne ich ihm nicht nachts.
Inzwischen hat sich TrandyAndy wieder gemeldet. Er will wissen, wie man sich für die Nachklausur anmeldet – ich kann ihm sagen, dass er, da in der ersten Klausur durchgefallen, schon angemeldet ist. Kaum habe ich die Mail abgeschickt, gibt mir meine Mailbox schon wieder ein Zeichen. TrandyAndy ist zwar nicht der Hellste, was Mathematik betrifft, aber schnell wie der Blitz. Unter diesen Umständen, so hat er entschieden, will er sich von der Nachklausur wieder abmelden.
Mir bleibt keine Zeit mich zu wundern, ich muss zur Besprechung der Klausur. Der Hörsaal ist berstend voll. Schon bei der ersten Aufgabe möchte ein Student – ich tippe vom Aussehen auf Mathe/Sport oder Mathe/Erdkunde (mit Schwerpunkt auf dem jeweils anderen Fach) - wissen, was denn an seiner Lösung verkehrt ist. „3% einer Bevölkerung“, hieß es in der Aufgabe, „ leiden an TBC. Ein Test stellt TBC zu 99% fest, liegt TBC nicht vor, so fällt er mit 95% Wahrscheinlichkeit negativ aus. Mit welcher Wahrscheinlichkeit hat jemand, dessen Test positiv ist, auch wirklich TBC?“
Die Antwort des Studenten ist verblüffend: „Wir definieren die folgenden Ereignisse:
P sei das Ereignis, P ist eine Person.
P’ sei das Ereignis P ist negativ an TBC erkrankt.
P sei die Wahrscheinlichkeit von P.“
Danach berechnet er die Wahrscheinlichkeit, dass jemand negativ erkrankt ist, wenn er keine Person ist. Nicht weiter verwunderlich, dass ein Ergebnis auch noch die 100% weit übertrifft. Ich murmele etwas von einem extensiven Gebrauch des Buchstaben P und gehe weiter zur nächsten Aufgabe.
Auch die ist nicht ganz ohne Tücken. Jeder voreilige Stolz meinerseits, sie richtig an der Tafel vorgerechnet zu haben, wird jäh vom Zwischenruf eines Studenten zerstört: „Letzte Woche haben Sie noch gesagt x sei 0,7, jetzt ist es 0,3“, protestiert er. Meine Kniekehlen fühlen sich merkwürdig taub an. Bloß schnell weiter zu Aufgabe 3.
Hier stellt sich heraus, dass leider 30% der zukünftigen Lehrer die Binomische Formel vergessen haben. Doch ich bleibe stark und wiederhole sie rasch: a plus b in Klammern zum Quadrat ist a Quadrat plus zwei a b plus b Quadrat. Noch rasch ein Beispiel:
„Wenn man für a eins und für b minus eins einsetzt …“
In der zweiten Reihe zeigt eine Frau auf.
„Ja?“
„Aber Herr M! Für die Art Mathematik ist unser Gehirn nicht gemacht, damit müssen Sie doch rechnen.“
Rechnen? Ich mache den ganzen Tag nichts anderes. Nun hat sie mich doch so weit. Ich spüre wie mir das Blut in den Kopf und der Geifer aus dem Mund schießt.
„Sie wollen doch Lehrerin werden“, zische ich, „Mathematiklehrerin! Was würden Sie denn sagen, wenn Ihr Fahrlehrer mitten im Stadtverkehr sagte: Für diese Art von Verkehr ist mein Gehirn nicht gemacht. Und wenn dieser Fahrlehrer zudem Schwierigkeiten hätte, ein Auto von einem Schiff zu unterscheiden?“
Als ich den Hörsaal verlasse rast mein Puls immer noch – ich brauche eine Pause. Fünf Minuten, dann sitze ich in meinem Lieblingscafe. Vor mir einen Block, einen Milchkaffee und zwei Brötchen. Während ich Rechnungen auf mein Papier kritzele, erwecke ich das Interesse einer dunkelhaarigen Schönheit am Nebentisch. Immer wieder gleitet ihr Blick zu mir herüber. „Was machst Du da?“ fragt sie schließlich. „Schreibst Du einen Brief? Ist das Griechisch? Bist Du Grieche?“ – Ach, könnte ich „ja“ sagen, der Tag wäre gelaufen. So aber nuschele ich, es sei Mathematik und sie wendet sich mit einem angewiderten Gesichtsausdruck von mir ab, als hätte ich gesagt, ich habe Lepra.
Wenig später zahle ich. „8 Euro vierzig“ schmettert mir Renate, die Bedienung, den Preis so schnell entgegen, dass ich ahne, dass sie vorbereitet ist. Als ich einen Fünfzig-Euro-Schein zücke, legt sich ihre Stirn in tiefe Falten. Fieberhaft beginnt sie zu rechnen. Nach gut drei Minuten strahlt sie mich an und zählt mir mit Siegerlächeln 63 Euro 40 auf den Tisch. Als ich ihr zu erklären versuche, dass sie mir – egal was der richtige Betrag ist – keinesfalls mehr als 50 Euro zurückgeben sollte, kommt er endlich, mein Lieblingssatz, der absolute Höhepunkt eines jeden Tages: „In Mathe war ich immer schlecht!“
Reflexartig bildet sich in mir die Antwort: „Was ist so toll daran, schlecht in Mathematik zu sein? Wieso kann man damit angeben? Wieso sagt niemand erhobenen Hauptes: Ich kann weder schreiben noch lesen? oder: Sprechen liegt mir nicht so? Wieso würde sich jeder schämen zu sagen: Ich bin leider völlig humorlos und wieso ist es gleichzeitig völlig akzeptabel, wenn man sagt, dass man Mathematik nicht kann?“
Schon will ich diese Sätze herausschleudern, da denke ich an heute Morgen und mich überkommt eine tiefe Milde:
„Von wem hätte sie Mathematik denn lernen sollen?“ denke ich und verlasse friedlich den Raum.