Brief an Dora Diamant
Verfasst: 05.06.2007, 02:59
Brief an Dora Diamant
Liebe Frau Dora Diamant,
ich muss Ihnen etwas erzählen. Wir sind ja Freunde geworden, und ich darf mich auf Ihre Verschwiegenheit verlassen.
Ich habe jemanden kennen gelernt, und da ich sonst niemanden fragen kann und doch einen Rat brauche und Sie sich in Liebesdingen gut auskennen, möchte ich mich an Sie wenden und würde mich auch an Sie wenden, wenn ich jemand anderen um Rat fragen könnte.
Ich bin aufgeregt. Dabei geht es nicht um mich. Stellen Sie sich vor, ich bin aufgeregt, aber es geht nicht um mich. Das gehört auch zu den Problemen. Ich habe jemanden kennen gelernt und der hat jemanden kennen gelernt und hat mir gestern Nacht in großer Ausführlichkeit von diesem Kennenlernen erzählt.
Es war eine Geschichte, die mich sehr verwirrt hat. Es geht um ein Mädchen oder vielmehr um eine Frau. Diese Frau müssen Sie sich sehr besonders vorstellen, sie muss ein sehr reines Wesen haben, und auch der Freund, ich nenne ihn mal so, obwohl wir uns nicht lange kennen, hat im Grunde ein reines Wesen, er ist auch ein besonderer Mensch. Er lebte lange allein, genauso wie ich, aber das Alleinsein hat ihm nicht geschadet, wie es mir geschadet hat, nein, ihm scheint es geholfen zu haben, was man z.B. an seiner Sprache erkennt, da bei ihm jedes Wort einen inneren Bezug aufweist, ich habe selten einen Menschen gesehen, der einen so direkten Bezug besaß.
Aber auch das gehört zum Problem. Also gut, ich erzähle.
Er erzählte mir, dass er sich manchmal mit einer Frau treffe, sie hätten einen bestimmten Ort, den er zwar nicht näher beschrieb, aber ich stellte ihn mir dunkel vor. Ich musste immer an einen Baum denken. Es ging viel um Blätter. Sie müssen ja verstehen, dass eben ein solch reiner Mensch oft in Bildern redet, eigentlich redet ein solcher Mensch immer in Bildern, was zwar wunderbar anmutet, aber ein Verstehen oft erschwert.
Er sprach hauptsächlich in Bildern. Das macht das ganze schwer. Ich wusste nicht, spricht er jetzt von Blumen oder von der Frau. Einmal sprach er von Wolken, wie sich aber herausstellte, hatte er von einem Brief gesprochen. Er schien überhaupt nur von Briefen zu sprechen und die Frau noch nie gesehen zu haben, obwohl er sie sehr genau beschreiben konnte und sie doch wieder nicht „genau“ beschrieb, da er immer abschweifte in Horizonte, in Bilder.
Er liebte sie sehr. Es schien mir so. Aber er hatte Angst vor ihr. Er fürchtete (soweit ich verstand), dass sie ihn nicht erkennen würde. Er hätte so viele Masken auf. Er hatte tatsächlich Masken auf. Bei aller Metaphorik war dies doch wahr.
Es erschreckte mich. Ich muss das näher erzählen. Wir trafen uns nämlich in einem dunkeln Raum, sagen wir, es war eine Kneipe. Überall waren raunende Stimmen. Ich setzte mich an einen Tisch. Ich dachte ich säße allein, da kam sein Gesicht hervor. Es war aber kein Gesicht, es war eine Maske. Es war ein übergroßes Lachen. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Sein ganzes „Gesicht“ bestand aus Bögen, Augenbögen, Mundbögen, Wangenbögen. Aber es bestand nur für den Moment so. Gleich darauf hatte es sich nämlich umgedreht, plötzlich war das Bogengesicht ungeheuer traurig. Es sagte nichts. Aber ich hatte trotzdem das Gefühl, nicht den Menschen aber dieses Gesicht sofort zu verstehen – nicht weil es traurig war, nicht weil es lachend war, es war irgendetwas anderes.
Ich glaube, er wusste, dass ich ihn verstand. Also fingen wir an zu sprechen. Er kommt anscheinend aus derselben Gegend wie ich. Wir unterhielten uns über einen See, und vieles andere, bis er plötzlich verstummte, und da kamen wir langsam auf die Frau zu sprechen. Dora, es muss eine herrliche Frau sein, ich sage das nochmal. Was ich gehört oder vielmehr geahnt oder vielmehr, ich weiß nicht, erspürt habe, war so wunderbar, ganz unbeschreiblich, eine Frau, Dora, es war eine Frau!
Er hatte ganz Recht, wenn er von der Sonne sprach. Oder er sprach vom Schnee. Oder er sprach vom Wind. Er sprach vom Regen. Aber alles zitterte. Eigentlich sprach er von der Angst. Er sprach von einer Hand. Seltsamerweise sprach er auch von einem Begräbnis. Das hatte mit der Hand zu tun. Er sprach so vieles. Ich bin mir sicher, dass keine Musik in der Kneipe war, aber wenn ich jetzt zurückdenke, war dort Musik. Und die Musik. Und die Instrumente. Und die Klänge. Und die Töne auch. Er sprach von Saiten. Er sprach von vielem. Aber ich hätte immer weiter zuhören können. Denn eigentlich war alles ganz einfach, was er sprach. Man musste sich nicht anstrengen. Die Einfachheit, das war es überhaupt, um was es ging.
Beide suchten die Einfachheit – wenn ich sonst nichts begriffen habe, das habe ich doch verstanden. Sie suchten die Einfachheit. Es klingt paradox, aber eben das war das Schwierigste. Die Einfachheit war das Schwierigste. Und plötzlich taten mir beide so leid. Ich glaubte an ihre Liebe, vielleicht mehr als der andere. Er sprach immer nur von einer Vorbereitung, was übrigens ein rätselhaftes Wort war. Man müsse alles „vorbereiten“ – ich interpretiere. Denn er sprach von einem Gießen, von einem Regen, das klingt falsch, wenn ich es sage – gestern war alles viel schöner.
Für diesen Menschen waren die Worte Wesen. Einmal sprach er sogar von einem Fleisch, das er sich herausschneide – auch Wesen. Er sprach von seinem Augenlicht (aber er hatte gar keine Augen), das er hergebe – auch Wesen? Und dass er sich auflöse. Oder dass sie sich auflöse, die Frau. – Das kann man alles nicht erzählen! – Ich glaubte an ihre Liebe. Und ich glaube, eben das hat mich so verwirrt. Weil ich doch einsehen musste, dass sie nicht möglich war. Oder war sie doch möglich?
Was mich am Ende gruselte: Diesen Menschen gab es gar nicht. Es gab ihn nicht. Wer kann das verstehen. Nicht, dass er sich auflöste. Er war nur einfach nicht zu fassen. Es waren die Bilder da. Es war auch die Musik da. Aber er - und doch ging eine Kraft von ihm aus. Er sagte aber, als er meinen Gedanken merkte, dass die Kraft von der Frau käme. Und also habe ich bestimmt Recht, zu sagen, dass sie schön sei. Denn ich spürte sie! Ich spürte sie. Ich spürte sie sehr. Das hat mich verwirrt. Ich habe jemanden kennen gelernt, der jemanden kennen gelernt hat, soll ich das vergessen?
Rate mir, Dora.
Ihr K.
Liebe Frau Dora Diamant,
ich muss Ihnen etwas erzählen. Wir sind ja Freunde geworden, und ich darf mich auf Ihre Verschwiegenheit verlassen.
Ich habe jemanden kennen gelernt, und da ich sonst niemanden fragen kann und doch einen Rat brauche und Sie sich in Liebesdingen gut auskennen, möchte ich mich an Sie wenden und würde mich auch an Sie wenden, wenn ich jemand anderen um Rat fragen könnte.
Ich bin aufgeregt. Dabei geht es nicht um mich. Stellen Sie sich vor, ich bin aufgeregt, aber es geht nicht um mich. Das gehört auch zu den Problemen. Ich habe jemanden kennen gelernt und der hat jemanden kennen gelernt und hat mir gestern Nacht in großer Ausführlichkeit von diesem Kennenlernen erzählt.
Es war eine Geschichte, die mich sehr verwirrt hat. Es geht um ein Mädchen oder vielmehr um eine Frau. Diese Frau müssen Sie sich sehr besonders vorstellen, sie muss ein sehr reines Wesen haben, und auch der Freund, ich nenne ihn mal so, obwohl wir uns nicht lange kennen, hat im Grunde ein reines Wesen, er ist auch ein besonderer Mensch. Er lebte lange allein, genauso wie ich, aber das Alleinsein hat ihm nicht geschadet, wie es mir geschadet hat, nein, ihm scheint es geholfen zu haben, was man z.B. an seiner Sprache erkennt, da bei ihm jedes Wort einen inneren Bezug aufweist, ich habe selten einen Menschen gesehen, der einen so direkten Bezug besaß.
Aber auch das gehört zum Problem. Also gut, ich erzähle.
Er erzählte mir, dass er sich manchmal mit einer Frau treffe, sie hätten einen bestimmten Ort, den er zwar nicht näher beschrieb, aber ich stellte ihn mir dunkel vor. Ich musste immer an einen Baum denken. Es ging viel um Blätter. Sie müssen ja verstehen, dass eben ein solch reiner Mensch oft in Bildern redet, eigentlich redet ein solcher Mensch immer in Bildern, was zwar wunderbar anmutet, aber ein Verstehen oft erschwert.
Er sprach hauptsächlich in Bildern. Das macht das ganze schwer. Ich wusste nicht, spricht er jetzt von Blumen oder von der Frau. Einmal sprach er von Wolken, wie sich aber herausstellte, hatte er von einem Brief gesprochen. Er schien überhaupt nur von Briefen zu sprechen und die Frau noch nie gesehen zu haben, obwohl er sie sehr genau beschreiben konnte und sie doch wieder nicht „genau“ beschrieb, da er immer abschweifte in Horizonte, in Bilder.
Er liebte sie sehr. Es schien mir so. Aber er hatte Angst vor ihr. Er fürchtete (soweit ich verstand), dass sie ihn nicht erkennen würde. Er hätte so viele Masken auf. Er hatte tatsächlich Masken auf. Bei aller Metaphorik war dies doch wahr.
Es erschreckte mich. Ich muss das näher erzählen. Wir trafen uns nämlich in einem dunkeln Raum, sagen wir, es war eine Kneipe. Überall waren raunende Stimmen. Ich setzte mich an einen Tisch. Ich dachte ich säße allein, da kam sein Gesicht hervor. Es war aber kein Gesicht, es war eine Maske. Es war ein übergroßes Lachen. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Sein ganzes „Gesicht“ bestand aus Bögen, Augenbögen, Mundbögen, Wangenbögen. Aber es bestand nur für den Moment so. Gleich darauf hatte es sich nämlich umgedreht, plötzlich war das Bogengesicht ungeheuer traurig. Es sagte nichts. Aber ich hatte trotzdem das Gefühl, nicht den Menschen aber dieses Gesicht sofort zu verstehen – nicht weil es traurig war, nicht weil es lachend war, es war irgendetwas anderes.
Ich glaube, er wusste, dass ich ihn verstand. Also fingen wir an zu sprechen. Er kommt anscheinend aus derselben Gegend wie ich. Wir unterhielten uns über einen See, und vieles andere, bis er plötzlich verstummte, und da kamen wir langsam auf die Frau zu sprechen. Dora, es muss eine herrliche Frau sein, ich sage das nochmal. Was ich gehört oder vielmehr geahnt oder vielmehr, ich weiß nicht, erspürt habe, war so wunderbar, ganz unbeschreiblich, eine Frau, Dora, es war eine Frau!
Er hatte ganz Recht, wenn er von der Sonne sprach. Oder er sprach vom Schnee. Oder er sprach vom Wind. Er sprach vom Regen. Aber alles zitterte. Eigentlich sprach er von der Angst. Er sprach von einer Hand. Seltsamerweise sprach er auch von einem Begräbnis. Das hatte mit der Hand zu tun. Er sprach so vieles. Ich bin mir sicher, dass keine Musik in der Kneipe war, aber wenn ich jetzt zurückdenke, war dort Musik. Und die Musik. Und die Instrumente. Und die Klänge. Und die Töne auch. Er sprach von Saiten. Er sprach von vielem. Aber ich hätte immer weiter zuhören können. Denn eigentlich war alles ganz einfach, was er sprach. Man musste sich nicht anstrengen. Die Einfachheit, das war es überhaupt, um was es ging.
Beide suchten die Einfachheit – wenn ich sonst nichts begriffen habe, das habe ich doch verstanden. Sie suchten die Einfachheit. Es klingt paradox, aber eben das war das Schwierigste. Die Einfachheit war das Schwierigste. Und plötzlich taten mir beide so leid. Ich glaubte an ihre Liebe, vielleicht mehr als der andere. Er sprach immer nur von einer Vorbereitung, was übrigens ein rätselhaftes Wort war. Man müsse alles „vorbereiten“ – ich interpretiere. Denn er sprach von einem Gießen, von einem Regen, das klingt falsch, wenn ich es sage – gestern war alles viel schöner.
Für diesen Menschen waren die Worte Wesen. Einmal sprach er sogar von einem Fleisch, das er sich herausschneide – auch Wesen. Er sprach von seinem Augenlicht (aber er hatte gar keine Augen), das er hergebe – auch Wesen? Und dass er sich auflöse. Oder dass sie sich auflöse, die Frau. – Das kann man alles nicht erzählen! – Ich glaubte an ihre Liebe. Und ich glaube, eben das hat mich so verwirrt. Weil ich doch einsehen musste, dass sie nicht möglich war. Oder war sie doch möglich?
Was mich am Ende gruselte: Diesen Menschen gab es gar nicht. Es gab ihn nicht. Wer kann das verstehen. Nicht, dass er sich auflöste. Er war nur einfach nicht zu fassen. Es waren die Bilder da. Es war auch die Musik da. Aber er - und doch ging eine Kraft von ihm aus. Er sagte aber, als er meinen Gedanken merkte, dass die Kraft von der Frau käme. Und also habe ich bestimmt Recht, zu sagen, dass sie schön sei. Denn ich spürte sie! Ich spürte sie. Ich spürte sie sehr. Das hat mich verwirrt. Ich habe jemanden kennen gelernt, der jemanden kennen gelernt hat, soll ich das vergessen?
Rate mir, Dora.
Ihr K.