Flugstunden Teil 1
Verfasst: 03.06.2007, 13:25
3. Fassung (Vielen Dank an leonie für die technischen Fluginfos!)
Flugstunden
Nach einer Sturzgeburt im Supermarkt war Pit fürs Leben geprägt. Hätte nicht die Angestellte der Gemüseabteilung flugs eine Steige zwischen die Beine seiner Mutter geschoben, wäre er auf den Steinfliesen aufgeschlagen. So landete er in einem Bett aus Salat.
Sobald Pit laufen konnte, kletterte er auf alles hinauf und verschaffte sich einen Überblick. Zuerst vom Gitterbett, später von Stühlen, danach kamen die Tische dran. Mit ausgestreckten Armen segelte er hinab. Mit vier eroberte er den Schrank im Kinderzimmer.
„Mami“, rief er.
Sie schlug die Hand vor den Mund. Zitternd sagte sie: „Bleib oben, ich hole dich.“
„Nein!“ Er flog aus der Höhe von einem Meter achtzig in ihre Arme.
Der Vater schraubte Stuhl und Tisch am Boden des Kinderzimmers fest.
Im Alter von zehn zwängte er sich durch die Dachluke und balancierte auf dem First zum Giebel. Seine Mutter jätete Unkraut, stolperte bei „juhu, Mama!“ durch die Salatsetzlinge. Sie verharrte mit bleichem Gesicht und starrte ihren Jungen an, der sich am Wetterhahn festhielt.
„Pass auf, ich fliege jetzt!“
„Bitte nicht, Pit, ich flehe dich an!“
Doch er streckte wie gewohnt die Arme aus und stieß sich ab. Die Mutter fing ihn auf und brach sich drei Rippen.
„Er ist verrückt. Stell dir vor, wir hätten mehr als ein Stockwerk“, schluchzte sie leise, als Pit abends im Bett lag; jeder Atemzug verursachte ihr Schmerzen.
Der Vater kratzte sich im Nacken. „Ein schweres Los. Was können wir tun?“
Pit überlebte seine Kindheit. Die Pubertät schien ihn von weiteren Flugversuchen abzulenken; er benahm sich wie alle seiner Altersgruppe, fuhr Skateboard, wenn auch auf den höchsten Rampen, und machte seine ersten sexuellen Erfahrungen.
„Er hat es überwunden!“ Die Eltern schöpften Mut.
Doch bei all dem vermisste Pit das besondere Gefühl, das ihm das Fliegen verschafft hatte. Er hatte nur den Eltern zuliebe damit aufgehört.
„Ich möchte Physik studieren mit Schwerpunkt Aerodynamik“, eröffnete er ihnen nach dem Abitur, verschwieg allerdings, dass er sich selbst als Forschungsobjekt einplante. Er bewarb sich um einen Studienplatz an der Universität Innsbruck. Am Zug klopfte ihm der Vater auf den Rücken, „mach’s gut, Pit“, und die Mutter weinte.
Sofort der Immatrikulation schrieb er sich in einen Kurs für Paragliding ein.
Danach schaffte er sich von seinem Ersparten einen Gleitschirm an. An den Wochenenden kletterte Pit auf die Berge. Bald hatte er eine Steilwand gefunden, die eintausend Meter hochragte. Er biwakierte am Felsabsturz und wartete auf den morgendlichen Aufwind, der sich um sieben Uhr einstellte. Dann zog er den Schirm auf und rannte los. Mit einem Schrei warf er sich über die Wand, gewann an Höhe und sein Jubel schallte übers Tal.
„Ich fliege“, schrie er ein ums andere Mal. Nach zwei Stunden landete er in einem Kornfeld.
Am nächsten Wochenende kletterte er auf einen Zweitausender. Sein Herz klopfte wild, als er ganz weit unten das winzige Dorf ausnahm. Ein Steinadler segelte auf Augenhöhe vorbei.
„Du wirst gleich den Himmel mit mir teilen“, sagte Pit, der beginnende Morgenwind raubte ihm den Atem.
Er rannte los, die Luftkammern des Schirms füllten sich und seine Sprünge berührten kaum mehr den Boden. Kurz vor der Kante hob er ab, rauschte darüber, schwebte höher und höher.
„Frei“, flüsterte er und fühlte, wie sehr ihn die rätselhafte Sorge seiner Eltern bedrückt hatte. Er sah auf die Almen hinunter und rief: „Frei!“
Pit legte sich in die Kurve, immer steiler und wirbelte in einer Spirale hinab, tiefer und tiefer. Als er auf der Höhe von dreihundert Metern den Schirm stabilisieren wollte, schoss ein Schatten auf ihn zu und im nächsten Moment blickten ihn Raubvogelaugen an. So nah, dass er die gesprenkelte Iris sah. Erschrocken riss Pit an den Steuerleinen, verlor die Strömung und der Schirm klappte zusammen. Über ihm stieß der Adler einen Pfiff aus. Triumphierend.
Pit raste abwärts. Und auf einmal blitzen innere Bilder auf, die er nicht einordnen konnte. Grelles elektrisches Licht, Blut, das von seinem Kopf tropfte – er war ein Baby! – und hing bis zum Hals senkrecht aus einer Öffnung, die seinen Körper saugend festhielt. Rundherum standen Menschen, seine Mutter schrie und es roch nach Salat. Er stürzte auf einen Nadelwald zu.
Als er zu sich kam, spürte Pit das getrocknete Blut an seiner Schläfe. Sein rechtes Bein schien gebrochen. Auf ihm und um ihn herum lagen die Äste des Baumes, der ihm das Leben gerettet hatte. Er griff nach dem Handy in der Brusttasche und rief den Notdienst an. Viele Stunden vergingen, reichlich Zeit für ihn nachzudenken, bis er geborgen wurde.
Die Genesungszeit verbrachte Pit im Elternhaus. Er fragte die Mutter über die Umstände seiner Geburt aus.
Sie wand sich. „Wenn der Salat nicht gewesen wäre ...“
Pit lachte. „Ich bin als Flieger geboren!“
Er kratzte ein Stück Schorf von der Stirn. „Vielleicht sollte ich zur Raumfahrt gehen?“
Er zuckte zusammen, weil die Mutter einen spitzen Schrei ausstieß.
„Du willst zum Mond fliegen, oh nein!“
„Höher, Mama, viel höher.“
1. Fassung
Nach einer Sturzgeburt war Pit fürs Leben geprägt. Hätte nicht die Angestellte der Gemüseabteilung flugs eine Steige unter die Gebärende geschoben, wäre der Säugling auf den Steinfliesen aufgeschlagen. So landete er in einem Salatbett.
Sobald Pit laufen konnte, kletterte er auf alles hinauf und sah hinunter. Zuerst vom Gitterbett, später von Stühlen, danach kamen die Tische dran. Er streckte die Arme aus und segelte herab. Mit vier eroberte er den Schrank im Kinderzimmer.
„Mami“, rief er.
Sie schlug die Hand vor den Mund. Dann sagte sie: „Bleib oben, ich hole dich.“
„Nein!“ Er flog aus der Höhe von einem Meter achtzig in ihre Arme.
Der Vater schraubte Stuhl und Tisch am Boden des Kinderzimmers fest.
Im Alter von zehn zwängte er sich durch die Dachluke und balancierte auf dem First. Seine Mutter jätete Unkraut, stolperte bei seinem „juhu, Mama!“, durch die jungen Salatpflänzchen. Verharrte mit bleichem Gesicht und starrte ihren Jungen an, der sich am Wetterhahn festhielt.
„Pass auf, ich fliege jetzt!“
„Bitte nicht, Pit, ich flehe dich an!“
Doch er streckte wie gewohnt die Arme zur Seite und stieß sich vom einstöckigen Haus ab. Die Mutter fing ihn auf und brach sich drei Rippen.
„Er ist verrückt“, schluchzte sie leise, als Pit abends im Bett war; jeder Atemzug verursachte ihr Schmerzen, obwohl der Arzt sie in ein Korsett aus Bandagen geschnürt hatte.
Der Vater kratzte sich im Nacken. „Ein schweres Los. Was können wir tun?“
Pit überlebte seine Kindheit. Die Pubertät schien ihn von weiteren Flugversuchen abzulenken; er benahm sich wie alle seiner Altersgruppe, fuhr Skateboard, wenn auch auf den höchsten Rampen und machte seine ersten sexuellen Erfahrungen.
„Er hat es überwunden!“ Die Eltern schöpften Mut.
Doch bei all dem vermisste Pit das besondere Gefühl, das ihm das Fliegen verschafft hatte. Er hatte nur den Eltern zuliebe damit aufgehört.
„Ich möchte Physik studieren mit Schwerpunkt Aerodynamik“, eröffnete er ihnen nach dem Abitur, verschwieg allerdings, dass er sich selbst als Forschungsobjekt einplante. Er bewarb sich um einen Studienplatz an der Universität Innsbruck. Am Zug klopfte ihm der Vater auf den Rücken, „mach’s gut, Pit“, und die Mutter weinte.
Nach der Immatrikulation schrieb er sich in einen Kurs für Fallschirmspringen ein.
Aufgeregt schnallte er im Sportflugzeug das Päckchen um; der Lehrer kontrollierte die Gurten und dann wurde die Tür geöffnet. Pit sprang als letzter der fünf Teilnehmer hinaus. Wie ein Sack raste er erdwärts, ihm hob sich der Magen bis zur Brust. Erst als sich der Fallschirm öffnete, Pit hochriss und dann hinunter trug, stellte sich ein Glücksgefühl ein. Das Aufkommen war hart und unangenehm. Nachdem er die Einheit von zehn Stunden absolviert hatte, in denen das Sackplumpsen jedes Mal Übelkeit hervorrief, ließ er den Fortgeschrittenenkurs bleiben.
Von seinem letzten Ersparten schaffte er einen Gleitschirm an.
An den Wochenenden kletterte Pit auf die Berge. Bald hatte er seine Rampe gefunden; eine Steilwand, die zweitausend Meter hochragte. Er biwakierte am Felsabsturz und wartete auf den morgendlichen Aufwind, der sich um sieben Uhr einstellte. Mit einem Schrei warf er sich über die Wand, gewann an Höhe und sein Jubel schallte übers Tal.
„Ich fliege“, schrie er ein ums andere Mal. Das war doch ganz was anderes. Ein Fallwind brachte ihn nach zwei Stunden zur weichen Landung in einem Kornfeld.
Am nächsten Wochenende kletterte er auf den einzigen Dreieinhalbtausender in der Umgebung. Sein Herz klopfte wild, als er ganz weit unten das winzige Dorf ausnahm. Ein Steinadler segelte auf Augenhöhe vorbei.
„Du wirst gleich den Himmel mit mir teilen“, der Morgenwind raubte Pit den Atem.
Pit rannte los, die Haut des Schirms über ihm füllte sich mit Luft und seine Sprünge zum Abgrund hin berührten kaum mehr den Boden. Er rauschte über die Kante, flog höher und höher ins Blau.
„Frei“, flüsterte er ergriffen und fühlte, wie sehr ihn die rätselhafte Sorge seiner Eltern bedrückt hatte. Er sah auf die Almen hinunter und sagte lauter: „Frei!“
Pit legte sich in die Kurve, um in den Fallwind zu gelangen und wirbelte tiefer mit der Strömung. Auf der Höhe von eintausend Meter schrie er: „Freier Fall!“
Im Augenwinkel machte er einen Schatten aus, dann knatterte es links von ihm und Pit sackte ein paar Hundert Meter tiefer. Über ihm stieß der Adler einen Pfiff aus. Triumphierend.
Schnell vergrößerte sich der Riss, Pit trudelte mit wahnsinnigem Tempo hinab. Und auf einmal blitzen innere Bilder auf, die er nicht einordnen konnte. Grelles elektrisches Licht, Blut, das von seinem Kopf tropfte – er war ein Baby! – und hing bis zum Hals senkrecht aus einer Öffnung, die seinen Körper saugend festhielt. Rundherum standen Menschen, seine Mutter schrie und alles roch intensiv nach Gemüse.
Kopfüber raste er auf einen Nadelwald zu, ließ im Sturz den Schirm los und wurde von den Ästen aufgefangen.
Als er zu sich kam, spürte Pit das getrocknete Blut an seiner Schläfe. Sein rechtes Bein schien irgendwo gebrochen. Als er nach dem Handy in der Brusttasche fischte, merkte er, dass der Daumen ebenfalls gebrochen war. Pit suchte die Nummer eines Kommilitonen heraus.
Viele Stunden vergingen, reichlich Zeit für ihn nachzudenken, bis er geborgen wurde.
Die Genesungszeit verbrachte Pit im Elternhaus. Er fragte die Mutter über die Umstände seiner Geburt aus. Sie wand sich vor Peinlichkeit. Stockend berichtete sie.
„Wenn der Salat nicht gewesen wäre ...“
Pit lachte. „Ich bin als Flieger geboren!“
Er kratzte ein Stück Schorf von der Stirn. „Vielleicht sollte ich zur Raumfahrt gehen?“
Er zuckte zusammen, weil die Mutter einen spitzen Schrei ausstieß.
„Du willst zum Mond fliegen, oh nein!“
„Höher, Mama, viel höher.“
(c) Elsa Rieger
Flugstunden
Nach einer Sturzgeburt im Supermarkt war Pit fürs Leben geprägt. Hätte nicht die Angestellte der Gemüseabteilung flugs eine Steige zwischen die Beine seiner Mutter geschoben, wäre er auf den Steinfliesen aufgeschlagen. So landete er in einem Bett aus Salat.
Sobald Pit laufen konnte, kletterte er auf alles hinauf und verschaffte sich einen Überblick. Zuerst vom Gitterbett, später von Stühlen, danach kamen die Tische dran. Mit ausgestreckten Armen segelte er hinab. Mit vier eroberte er den Schrank im Kinderzimmer.
„Mami“, rief er.
Sie schlug die Hand vor den Mund. Zitternd sagte sie: „Bleib oben, ich hole dich.“
„Nein!“ Er flog aus der Höhe von einem Meter achtzig in ihre Arme.
Der Vater schraubte Stuhl und Tisch am Boden des Kinderzimmers fest.
Im Alter von zehn zwängte er sich durch die Dachluke und balancierte auf dem First zum Giebel. Seine Mutter jätete Unkraut, stolperte bei „juhu, Mama!“ durch die Salatsetzlinge. Sie verharrte mit bleichem Gesicht und starrte ihren Jungen an, der sich am Wetterhahn festhielt.
„Pass auf, ich fliege jetzt!“
„Bitte nicht, Pit, ich flehe dich an!“
Doch er streckte wie gewohnt die Arme aus und stieß sich ab. Die Mutter fing ihn auf und brach sich drei Rippen.
„Er ist verrückt. Stell dir vor, wir hätten mehr als ein Stockwerk“, schluchzte sie leise, als Pit abends im Bett lag; jeder Atemzug verursachte ihr Schmerzen.
Der Vater kratzte sich im Nacken. „Ein schweres Los. Was können wir tun?“
Pit überlebte seine Kindheit. Die Pubertät schien ihn von weiteren Flugversuchen abzulenken; er benahm sich wie alle seiner Altersgruppe, fuhr Skateboard, wenn auch auf den höchsten Rampen, und machte seine ersten sexuellen Erfahrungen.
„Er hat es überwunden!“ Die Eltern schöpften Mut.
Doch bei all dem vermisste Pit das besondere Gefühl, das ihm das Fliegen verschafft hatte. Er hatte nur den Eltern zuliebe damit aufgehört.
„Ich möchte Physik studieren mit Schwerpunkt Aerodynamik“, eröffnete er ihnen nach dem Abitur, verschwieg allerdings, dass er sich selbst als Forschungsobjekt einplante. Er bewarb sich um einen Studienplatz an der Universität Innsbruck. Am Zug klopfte ihm der Vater auf den Rücken, „mach’s gut, Pit“, und die Mutter weinte.
Sofort der Immatrikulation schrieb er sich in einen Kurs für Paragliding ein.
Danach schaffte er sich von seinem Ersparten einen Gleitschirm an. An den Wochenenden kletterte Pit auf die Berge. Bald hatte er eine Steilwand gefunden, die eintausend Meter hochragte. Er biwakierte am Felsabsturz und wartete auf den morgendlichen Aufwind, der sich um sieben Uhr einstellte. Dann zog er den Schirm auf und rannte los. Mit einem Schrei warf er sich über die Wand, gewann an Höhe und sein Jubel schallte übers Tal.
„Ich fliege“, schrie er ein ums andere Mal. Nach zwei Stunden landete er in einem Kornfeld.
Am nächsten Wochenende kletterte er auf einen Zweitausender. Sein Herz klopfte wild, als er ganz weit unten das winzige Dorf ausnahm. Ein Steinadler segelte auf Augenhöhe vorbei.
„Du wirst gleich den Himmel mit mir teilen“, sagte Pit, der beginnende Morgenwind raubte ihm den Atem.
Er rannte los, die Luftkammern des Schirms füllten sich und seine Sprünge berührten kaum mehr den Boden. Kurz vor der Kante hob er ab, rauschte darüber, schwebte höher und höher.
„Frei“, flüsterte er und fühlte, wie sehr ihn die rätselhafte Sorge seiner Eltern bedrückt hatte. Er sah auf die Almen hinunter und rief: „Frei!“
Pit legte sich in die Kurve, immer steiler und wirbelte in einer Spirale hinab, tiefer und tiefer. Als er auf der Höhe von dreihundert Metern den Schirm stabilisieren wollte, schoss ein Schatten auf ihn zu und im nächsten Moment blickten ihn Raubvogelaugen an. So nah, dass er die gesprenkelte Iris sah. Erschrocken riss Pit an den Steuerleinen, verlor die Strömung und der Schirm klappte zusammen. Über ihm stieß der Adler einen Pfiff aus. Triumphierend.
Pit raste abwärts. Und auf einmal blitzen innere Bilder auf, die er nicht einordnen konnte. Grelles elektrisches Licht, Blut, das von seinem Kopf tropfte – er war ein Baby! – und hing bis zum Hals senkrecht aus einer Öffnung, die seinen Körper saugend festhielt. Rundherum standen Menschen, seine Mutter schrie und es roch nach Salat. Er stürzte auf einen Nadelwald zu.
Als er zu sich kam, spürte Pit das getrocknete Blut an seiner Schläfe. Sein rechtes Bein schien gebrochen. Auf ihm und um ihn herum lagen die Äste des Baumes, der ihm das Leben gerettet hatte. Er griff nach dem Handy in der Brusttasche und rief den Notdienst an. Viele Stunden vergingen, reichlich Zeit für ihn nachzudenken, bis er geborgen wurde.
Die Genesungszeit verbrachte Pit im Elternhaus. Er fragte die Mutter über die Umstände seiner Geburt aus.
Sie wand sich. „Wenn der Salat nicht gewesen wäre ...“
Pit lachte. „Ich bin als Flieger geboren!“
Er kratzte ein Stück Schorf von der Stirn. „Vielleicht sollte ich zur Raumfahrt gehen?“
Er zuckte zusammen, weil die Mutter einen spitzen Schrei ausstieß.
„Du willst zum Mond fliegen, oh nein!“
„Höher, Mama, viel höher.“
1. Fassung
Nach einer Sturzgeburt war Pit fürs Leben geprägt. Hätte nicht die Angestellte der Gemüseabteilung flugs eine Steige unter die Gebärende geschoben, wäre der Säugling auf den Steinfliesen aufgeschlagen. So landete er in einem Salatbett.
Sobald Pit laufen konnte, kletterte er auf alles hinauf und sah hinunter. Zuerst vom Gitterbett, später von Stühlen, danach kamen die Tische dran. Er streckte die Arme aus und segelte herab. Mit vier eroberte er den Schrank im Kinderzimmer.
„Mami“, rief er.
Sie schlug die Hand vor den Mund. Dann sagte sie: „Bleib oben, ich hole dich.“
„Nein!“ Er flog aus der Höhe von einem Meter achtzig in ihre Arme.
Der Vater schraubte Stuhl und Tisch am Boden des Kinderzimmers fest.
Im Alter von zehn zwängte er sich durch die Dachluke und balancierte auf dem First. Seine Mutter jätete Unkraut, stolperte bei seinem „juhu, Mama!“, durch die jungen Salatpflänzchen. Verharrte mit bleichem Gesicht und starrte ihren Jungen an, der sich am Wetterhahn festhielt.
„Pass auf, ich fliege jetzt!“
„Bitte nicht, Pit, ich flehe dich an!“
Doch er streckte wie gewohnt die Arme zur Seite und stieß sich vom einstöckigen Haus ab. Die Mutter fing ihn auf und brach sich drei Rippen.
„Er ist verrückt“, schluchzte sie leise, als Pit abends im Bett war; jeder Atemzug verursachte ihr Schmerzen, obwohl der Arzt sie in ein Korsett aus Bandagen geschnürt hatte.
Der Vater kratzte sich im Nacken. „Ein schweres Los. Was können wir tun?“
Pit überlebte seine Kindheit. Die Pubertät schien ihn von weiteren Flugversuchen abzulenken; er benahm sich wie alle seiner Altersgruppe, fuhr Skateboard, wenn auch auf den höchsten Rampen und machte seine ersten sexuellen Erfahrungen.
„Er hat es überwunden!“ Die Eltern schöpften Mut.
Doch bei all dem vermisste Pit das besondere Gefühl, das ihm das Fliegen verschafft hatte. Er hatte nur den Eltern zuliebe damit aufgehört.
„Ich möchte Physik studieren mit Schwerpunkt Aerodynamik“, eröffnete er ihnen nach dem Abitur, verschwieg allerdings, dass er sich selbst als Forschungsobjekt einplante. Er bewarb sich um einen Studienplatz an der Universität Innsbruck. Am Zug klopfte ihm der Vater auf den Rücken, „mach’s gut, Pit“, und die Mutter weinte.
Nach der Immatrikulation schrieb er sich in einen Kurs für Fallschirmspringen ein.
Aufgeregt schnallte er im Sportflugzeug das Päckchen um; der Lehrer kontrollierte die Gurten und dann wurde die Tür geöffnet. Pit sprang als letzter der fünf Teilnehmer hinaus. Wie ein Sack raste er erdwärts, ihm hob sich der Magen bis zur Brust. Erst als sich der Fallschirm öffnete, Pit hochriss und dann hinunter trug, stellte sich ein Glücksgefühl ein. Das Aufkommen war hart und unangenehm. Nachdem er die Einheit von zehn Stunden absolviert hatte, in denen das Sackplumpsen jedes Mal Übelkeit hervorrief, ließ er den Fortgeschrittenenkurs bleiben.
Von seinem letzten Ersparten schaffte er einen Gleitschirm an.
An den Wochenenden kletterte Pit auf die Berge. Bald hatte er seine Rampe gefunden; eine Steilwand, die zweitausend Meter hochragte. Er biwakierte am Felsabsturz und wartete auf den morgendlichen Aufwind, der sich um sieben Uhr einstellte. Mit einem Schrei warf er sich über die Wand, gewann an Höhe und sein Jubel schallte übers Tal.
„Ich fliege“, schrie er ein ums andere Mal. Das war doch ganz was anderes. Ein Fallwind brachte ihn nach zwei Stunden zur weichen Landung in einem Kornfeld.
Am nächsten Wochenende kletterte er auf den einzigen Dreieinhalbtausender in der Umgebung. Sein Herz klopfte wild, als er ganz weit unten das winzige Dorf ausnahm. Ein Steinadler segelte auf Augenhöhe vorbei.
„Du wirst gleich den Himmel mit mir teilen“, der Morgenwind raubte Pit den Atem.
Pit rannte los, die Haut des Schirms über ihm füllte sich mit Luft und seine Sprünge zum Abgrund hin berührten kaum mehr den Boden. Er rauschte über die Kante, flog höher und höher ins Blau.
„Frei“, flüsterte er ergriffen und fühlte, wie sehr ihn die rätselhafte Sorge seiner Eltern bedrückt hatte. Er sah auf die Almen hinunter und sagte lauter: „Frei!“
Pit legte sich in die Kurve, um in den Fallwind zu gelangen und wirbelte tiefer mit der Strömung. Auf der Höhe von eintausend Meter schrie er: „Freier Fall!“
Im Augenwinkel machte er einen Schatten aus, dann knatterte es links von ihm und Pit sackte ein paar Hundert Meter tiefer. Über ihm stieß der Adler einen Pfiff aus. Triumphierend.
Schnell vergrößerte sich der Riss, Pit trudelte mit wahnsinnigem Tempo hinab. Und auf einmal blitzen innere Bilder auf, die er nicht einordnen konnte. Grelles elektrisches Licht, Blut, das von seinem Kopf tropfte – er war ein Baby! – und hing bis zum Hals senkrecht aus einer Öffnung, die seinen Körper saugend festhielt. Rundherum standen Menschen, seine Mutter schrie und alles roch intensiv nach Gemüse.
Kopfüber raste er auf einen Nadelwald zu, ließ im Sturz den Schirm los und wurde von den Ästen aufgefangen.
Als er zu sich kam, spürte Pit das getrocknete Blut an seiner Schläfe. Sein rechtes Bein schien irgendwo gebrochen. Als er nach dem Handy in der Brusttasche fischte, merkte er, dass der Daumen ebenfalls gebrochen war. Pit suchte die Nummer eines Kommilitonen heraus.
Viele Stunden vergingen, reichlich Zeit für ihn nachzudenken, bis er geborgen wurde.
Die Genesungszeit verbrachte Pit im Elternhaus. Er fragte die Mutter über die Umstände seiner Geburt aus. Sie wand sich vor Peinlichkeit. Stockend berichtete sie.
„Wenn der Salat nicht gewesen wäre ...“
Pit lachte. „Ich bin als Flieger geboren!“
Er kratzte ein Stück Schorf von der Stirn. „Vielleicht sollte ich zur Raumfahrt gehen?“
Er zuckte zusammen, weil die Mutter einen spitzen Schrei ausstieß.
„Du willst zum Mond fliegen, oh nein!“
„Höher, Mama, viel höher.“
(c) Elsa Rieger