Knut, die wahre Geschichte
Verfasst: 15.04.2007, 19:21
Knut, die wahre Geschichte
Tag 1. Tosca hat Junge. Genauer gesagt: ein Junges, es scheint das einzig Überlebende. Der Kleine räkelt sich in der Sonne, er scheint wohlauf.
Tosca ist meine Stubenfliege. Ich habe sie so getauft, weil sie am liebsten auf meinen Puccini-CDs hockt. Ihr Nachwuchs ist ein kräftiges Bürschchen, ich schätze ihn auf 0,45mg. Er soll Knut heißen.
Tag 3, vormittags. Ein grausamer Verdacht beschleicht mich. Wann immer Knut an Tosca vorbeifliegt, scheint sie ihn zu ignorieren. Der Kleine kann sie noch so liebreizend umschmeicheln: Tosca zuckt nicht einmal mit dem Flügel. Ich vermute, sie hat ihn verstoßen.
Tag 3, mittags. Bei einem Abstecher im Zoo habe ich mich in puncto artgerechter Tierhaltung weitergebildet. Vor dem Eisbärengehege war ein Anschlag: Auch dort wurde ein Jungtier von seiner Mutter verstoßen. Unglaublich, aber wahr: Es heißt auch Knut!
Tag 3, nachmittags. Es stimmt: Tosca nimmt ihr Junges nicht an. Ich habe Knut ganz vorsichtig ins Gästebad bugsiert, um ihn von der Mutter fernzuhalten. Hier scheint es ihm zu gefallen. Dieser Schritt war unumgänglich: Viel zu oft werden ja abgelehnte Jungtiere von ihren Eltern getötet.
Tag 4. Ich habe mich geirrt. Tosca hat Knut gar nicht verstoßen. Tosca ist tot. Nachdem sie mehr als 24 Stunden auf dem Rücken lag, überkam mich doch ein ungutes Gefühl und ich untersuchte das Muttertier. Selbst eine sofort eingeleitet Herzmassage konnte es nicht wiederbeleben. Ich habe Tosca im Blumentopf beerdigt. Nun ist Knut Halbwaise.
Tag 5. Die wichtigsten Maßnahmen, um Knuts Überleben zu sichern, sind getroffen. Täglich setze ich mich mit einem Marmeladenbrot und einem Glas Milch ein paar Stunden ins Gästebad und warte, bis sich der Knirps satt gefressen hat. Fast ist er wie ein eigenes Kind. Beim Gedanken an ihn wird mir warm ums Herz.
Tag 7. Ich werde morgen die Presse informieren: Knut ist nun eine Woche alt und niemand soll von dem Ereignis, der Geburt einer jungen Stubenfliege in meinen vier Wänden, ausgeschlossen sein. Er ist aber auch zu niedlich, der kleine Racker.
Tag 8. Die Presse ist informiert. Sie haben einen Photographen vorbeigeschickt, aber Knut blieb unauffindbar. Also habe ich statt seiner dem Photographen posiert: mit dem Marmeladenbrot in der Hand lächelte ich auf der Klobrille hockend in die Kamera. Erst später habe ich Knut wiedergefunden, er war dem Presserummel wohl nicht gewachsen und hatte sich in die Küche geflüchtet, dort saß er im Biomüll.
Tag 9, 10 Uhr. Der Bericht über Knut ist erschienen. Ich habe gleich drei Exemplare der Zeitung erstanden. Eines habe ich gerahmt und in Knuts Zimmer aufgehängt. Ob er ähnlich stolz ist wie ich?
Tag 9, 16 Uhr. Die Nachbarin hat angerufen. Sie möchte den Fliegennachwuchs sehen. Ich denke, dass es damit noch ein bisschen früh ist – Knut ist schließlich noch ein Säugling!
Tag 10. Die Anrufe mit Besichtigungswünschen häufen sich. Ich werde mir etwas einfallen lassen müssen.
Tag 11. Ich habe einen Brief von einem Tierschützer bekommen. Er fordert, ich solle Knut wegen nicht-artgerechter Haltung erschlagen. Stubenfliegen, die von Menschenhand aufgezogen seien, würden im späteren Leben häufig depressiv. Aber Knut hat doch ein ganzes Zimmer für sich und er ist schließlich eine Stubenfliege. Ich habe den Brief samt einer Gegendarstellung an die Presse weitergeleitet.
Tag 12. Der Brief wurde veröffentlicht. Seitdem bekomme ich stündlich E-Mails mit Hinweisen auf Internetportale, auf denen Knuts Weiterleben gefordert wird. Ich bin so erleichtert.
Tag 13. Obwohl ich weiß, dass eine ganze Menge von Leuten hinter mir stehen, gibt mir der Vorwurf der nicht-artgerechten Haltung immer noch zu denken. Klar, vieles kann er ja auch selbst. Fressen, zum Beispiel oder fliegen. Und doch, Knut soll keine Nachteile von seiner Kindheit davontragen. Deshalb bin ich eben auf die Kloschüssel geklettert und habe meine Arme auf und ab bewegt, um mit ihm weiter an seiner Flugtechnik zu feilen. Bei dem Versuch mithilfe eines Satzes Saugglocken aus dem Baumarkt vorbildlich die Wände hoch zu laufen, bin ich allerdings kläglich gescheitert. Derweil saß Knut auf meinem Käsebrot. Ich scheine keinen rechten Eindruck zu machen.
Tag 14. Knut wiegt nun schätzungsweise 1,2 Milligramm, ein richtiger Wonneproppen. Auch die Berichte über Knut reißen nicht ab. Inzwischen hat er es sogar in die überregionale Presse geschafft. Immer mehr Leute wollen ihn sehen. Ich muss etwas tun. Eben habe ich bei verschiedenen Zeitungen angerufen: Übermorgen soll er zum ersten Mal Besuch empfangen.
Tag 16, vormittags. Knuts großer Tag. Schon eine Stunde vor dem geplanten Termin stehen Dutzende Menschen vor meiner Haustür. Ich habe mein Gästebad mit Fliegengitter abgedeckt, Knut soll ja nicht vor Schreck entfleuchen. Ich nehme fünf Euro Eintritt, das scheint mir ein fairer Preis, ich habe schließlich auch Kosten.
Tag 16, nachmittags. Ich habe 400€ eingenommen. Ein unerwarteter Verdienst. Für Morgen habe ich schon Voranmeldungen angenommen.
Tag 17, vormittags. Hektik. Ich wollte mir den Namen Knut schützen lassen. Doch das geht nicht mehr. Der Eisbär war schneller.
Eine Druckerei hat angerufen, möchte Knut-Aufkleber anbieten und eine Fluggesellschaft plant eine Werbekampagne mit ihm.
Tag 17, nachmittags. Mehr als hundert Besucher heute. Alle wollen Knut sehen.
Tag 18, 10 Uhr. Eben hat Steiff angerufen: Sie gehen mit Knutfliegen in Produktion. Knut könnte für die letzten Tage des Ostergeschäfts noch der Renner werden. Ich bin zu 3% beteiligt. Knut ist einfach goldig.
Tag 18, 11 Uhr. Der Bürgermeister hat angerufen. Knut soll unser Stadtwappen zieren. Ich kann unser Glück kaum fassen.
Tag 18, 11.30 Uhr. Das Fernsehen hat sich auch für heute Nachmittag angekündigt. Nun werden wir berühmt.
Tag 18, 14 Uhr. Knut ist tot. Mit einem Mal lag er reglos im Waschbecken. Ich musste sofort an plötzlichen Kindstod denken, wie er so dalag. Ein Blick ins Tierlexikon sagte mir dann: Stubenfliegen werden nur 16 bis 24 Tage alt. Ich habe ihn neben seiner Mutter begraben. Er hat wohl nicht gelitten.
Draußen stand die Besucherschlange, der Übertragungswagen vom Fernsehen war auch schon vorgefahren. Die ganze Welt wollte Knut, doch der war verstorben. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Aufgeregt lief ich durchs Haus. Im Wohnzimmer dann die Erlösung: Auf der Fensterbank saß ein Fliegenjunges, zweifellos ein Verwandter von Knut. Unbemerkt schleuste ich ihn ins Gästebad. Ich habe ihn „Knut“ getauft. „II“ habe ich in Gedanken hinzugefügt. Muss ja niemand wissen. Er gleicht seinem Namensvetter aufs Haar. Dann habe ich die Menge hereingelassen.
Tag 38. Knut II fehlt wohl das Charisma von Knut I. Nach ein paar Tagen ebbte das Interesse deutlich ab und die Werbeverträge kamen doch nicht zustande. Die Presse hat schon einen neuen Star: das verstoßene Eisbärenjunge aus dem Berliner Zoo – noch ein Knut. Hätte mein Knut nicht so früh das Zeitliche gesegnet, dieser dahergelaufene Eisbär hätte nie eine Chance gehabt!