Vergessen

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leonie
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Beitragvon leonie » 20.02.2007, 21:45

Vergessen


Der Himmel wirft mit roten Wolken um sich und sie liegt da, als habe Gott sie vergessen, seit Jahren schon. Eine atmende Mumie, die scheibchenweise stirbt. Gestern noch weinte ich, als sie meinen Namen nicht wusste. Die Erinnerung, von der man mir sagte, sie sei das einzig Bleibende, ist davon geeilt. Hat nur dieses Atmen zurückgelassen.
Heute habe ich mich gewöhnt wie an alles. An das Suchen nach Namen, den Schmerz in ihren Augen, die Beine, die immer kürzer wurden. Dämmerung, die alles verwandelt in Schatten.
Vielleicht werde ich morgen lachen und den Worten hinterherlaufen. So wie Kinder dem Schnee, den sie in ihren Mündern fangen.
Ich werde laufen und mich befreien, bis ich nichts mehr weiß. Nicht, dass es sie gab. Nicht, dass es mich gibt. Werde lachen im Schnee, der keinen Namen hat.
Er deckt alle Geschichten zu. Es bleibt nur das Lachen. Auf einem weißen Blatt.


Erstfassung:

Vergessen

Der Himmel wirft mit roten Wolken um sich und sie liegt da, als habe Gott sie vergessen, seit Jahren schon. Eine atmende Mumie, die scheibchenweise stirbt. Gestern noch weinte ich, als sie meinen Namen nicht wusste. Die Erinnerung, von der man mir sagte, sie sei das einzig Bleibende, ist davon geeilt. Hat nur dieses Atmen zurückgelassen.
Heute habe ich mich gewöhnt wie an alles zuvor. Das Suchen nach Namen, den Schmerz in ihren Augen, die Beine, die immer kürzer wurden. Dämmerung, die alles verwandelt in graue Schatten.
Vielleicht werde ich morgen lachen und den Worten hinterherlaufen wie Kinder dem Schnee, um ihn in ihren Mündern zu fangen. Ich werde mich befreien, bis ich nichts mehr weiß. Nicht, dass es sie gab. Nicht, dass es mich gibt. Werde lachend den Schnee fangen, ohne zu wissen, dass er es ist. Denn er hat keinen Namen; er deckt die Geschichten zu. Es bleibt nur das Lachen. Auf einem weißen Blatt.
Zuletzt geändert von leonie am 21.02.2007, 16:59, insgesamt 1-mal geändert.

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Lisa
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Beitragvon Lisa » 21.02.2007, 14:03

Liebe leonie,

der Text hat eine starke Innenschau, das gefällt mir daran, er ist getränkt von diesem momentanen Fühlen in einem Augenblick, was jafast das einzige ist, an dem man sich selbst erkennt. Den Schnee finde ich dabei schön sinnlich und passend als "Niederschlagsort" dieser Empfindungen. An manchen Stellen bricht er manchmal noch seinen Zauber, aber insgesamt habe ich das sehr gern gelesen.


Ideen:

(fett sind Änderungsideen, blau Markiertes gefällt mir besonders gut)

Vergessen

Der Himmel wirft mit roten Wolken um sich und sie liegt da, als habe Gott sie vergessen, seit Jahren schon. Eine atmende Mumie, die scheibchenweise stirbt. Gestern noch weinte ich, als sie meinen Namen nicht wusste. Die Erinnerung, von der man mir sagte, sie sei das einzig Bleibende, ist davon geeilt. Hat nur dieses Atmen zurückgelassen.
Heute habe ich mich gewöhnt wie ich mich auch an alles vorherige gewöhnt habe. Das Suchen nach Namen, den Schmerz in ihren Augen, die Beine, die immer kürzer wurden (das verstehe ich zwar nicht ganz (medizinisch gemeint oder als Bild?) aber es gefällt mir ins einer Wirkung). Dämmerung, die alles verwandelt in graue Schatten. (graue schatten sind sehr viel standardgebrauch)
Vielleicht werde ich morgen lachen und den Worten hinterherlaufen wie Kinder dem Schnee, um ihn in ihren Mündern zu fangen. (der satz ist wunderschön als bild, aber durch die um ihn-Konstruktion für einen so kurzen Text etwas zu umständlich, weil man intuitiv denkt, er müsste sich auch das ich im Vorsatz beziehen, leicht umstellen vielleicht?) Ich werde mich befreien, bis ich nichts mehr weiß. Nicht, dass es sie gab. Nicht, dass es mich gibt. Werde lachend den Schnee fangen, ohne zu wissen, dass er es ist. (Dieser Satz wirkt auf mich zu gewollt, entweder streichen oder neu fassen?) Denn er hat keinen Namen; er deckt die Geschichten zu. Es bleibt nur das Lachen. Auf einem weißen Blatt.


Liebe Grüße,
Lisa
Vermag man eine Geschichte zu erzählen, die noch nicht geschehen ist?
Es verhält sich damit wohl wie mit unserer Angst. Fürchten wir uns doch gerade vor dem mit aller Macht, was gar nicht mehr geschehen kann, eben weil es schon längst geschehen ist.

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leonie
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Beitragvon leonie » 21.02.2007, 17:02

Liebe Lisa,

danke für Deine Rückmeldung. Es war mal wieder ein kleiner Prosaversuch nach langer "Abstinenz". So richtig glücklich bin ich damit nicht...
Ich habe trotzdem mal versucht, einige Deiner Anregungen umzusetzen.

Danke und liebe Grüße

leonie

Klara
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Beitragvon Klara » 21.02.2007, 22:32

Hallo Leonie,

ich versuch mich mal dran - ist aber reine Geschmackssache, okay? Es ist sozusagen mein MITlesen deines Textes:

Der Himmel wirft mit roten Wolken und sie liegt da, als habe Gott sie vergessen. Eine atmende Mumie, die jeden Tag ein bisschen stirbt. Jahrelang. Gestern wusste sie meinen Namen nicht mehr, und ich weinte. Sie hat keine Erinnerung, nichts. Sie hat nichts. Nur das Atmen. Was ist das. Ein Mensch?
War ein Leben.
Heute bin ich schon daran gewöhnt.
Wie sie nach den Namen sucht, vertrockneten Schmerz in den Augen. Wie die Beine immer kürzer wurden, und dünner. Wie die Dämmerung alles in Schatten verwandelt. Alles!
Und morgen lach ich wieder, vielleicht, fang mir Worte ein, so wie Kinder den Schnee. Mit dem Mund.
Ja, dann lauf ich! Und werd mich befreien, im Vergessen. Auch, dass es sie gab. Und dass es mich - gibt. Lachen werd ich im Schnee, namenlos, weil er alle Geschichten zudeckt, weil nur Lachen bleibt. Auf einem weißen Blatt. Papier.

vielleicht kannst du was davon gebrauchen.

lg
klara

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leonie
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Beitragvon leonie » 22.02.2007, 12:18

Liebe Klara,

danke für Deine Rückmeldung. Den Text in Deinen Worten zu lesen, finde ich spannend, aber ich empfinde ihn so auch als völlig anders. Was ich aber auch wieder spannend finde. Für mich ist vor allem die Grundstimmung verändert. Mir ist nochmal aufgegangen, wie unterschiedlich verschiedene menschen von etwas erzählen, das man (vielleicht) als ein-und denselben Sachverhalt auffassen könnte.

Vielen Dank für die Mühe, die Du Dir gemacht hast! :-)

Liebe Grüße

leonie

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noel
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Beitragvon noel » 24.02.2007, 14:23

ich mag besonders das ausgesprochen unausgesprochene
was noch zwischen den zeilen steht

die zweite version ist ein mitfühler
klaras version ist mir zu auf_
an
_weisend


noel
NOEL = Eine Dosis knapp unterhalb der Toxizität, ohne erkennbare Nebenwirkung (NOEL - no observable effect level).

Wir sind alle Meister/innen der Selektion und der konstruktiven Hoffnung, die man allgemein die WAHRHEIT nennt ©noel

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leonie
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Beitragvon leonie » 24.02.2007, 15:48

Liebe noel,

danke, dass Du es gelesen hast, auch zwischen den Zeilen!

Liebe Grüße

leonie


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