Unter dem Schnee
Verfasst: 12.02.2007, 16:40
Unter dem Schnee (zweite Fassung)
Die Stille kriecht weiter den Boden entlang und über die Wände, bis zur Zimmerdecke hinauf. Sie deckt alles im Raum ab wie eine dicke Lackschicht, füllt jeden Winkel, jede Unebenheit. Sie ist von draußen gekommen, unbemerkt zunächst, und nimmt das ganze Haus ein. Sie ist so mächtig, dass man den eigenen Atem nicht mehr hört.
Sanja fährt mit dem Finger über die Wand neben ihrem Bett, die sich glatter anfühlt als sonst. Überzeugt sich mithilfe ihrer linken Handfläche davon, dass sie tatsächlich noch atmet. Doch auch das kann eine Täuschung sein. Die plötzliche Abwesenheit von jeglichem Geräusch außerhalb ihres Schädels, das endlose Weiß, das über Nacht alles unter sich begraben hat – sie könnte tot sein. Niemand ist bei ihr, der sie vom Gegenteil überzeugen könnte. Wenn du stirbst, stirbt deine ganze Welt mit dir, schiebt sich eine Stimme aus der Geräuschkulisse in ihrem Kopf in den Vordergrund, und liegt jetzt reglos unter einem Leichentuch, fügt sie selbst hinzu. Hör auf mit dem Blödsinn!, schreit sie, es kostet sie einige Überwindung, als sei es verboten, doch der Widerhall, mit dem sie ihr inneres Chaos zu übertönen gehofft hatte, bleibt aus. Sie steht vom Bett auf, allein, wie immer, und zieht die Jalousien hoch. Der Morgen ist viel zu hell, er war zuvor schon zwischen den Alulamellen hindurch in den Raum gequollen, als sei draußen für so viel Hell kein Platz mehr. Die Schneedecke ebnet alles ein. Es gibt keine Kanaldeckel mehr, kein Laub und keinen Dreck auf den Straßen, nicht die geringste Unebenheit in der Fahrbahndecke. Als habe es auch die letzte Nacht nicht gegeben, all den Lärm, die vielen Leute, die Aufregung.
Es war warm gewesen, nach ihrem Auftritt sogar heiß, sie hatte gespürt, wie sich jede einzelne ihrer Adern, Stunden zuvor noch so eng zusammengezogen, dass sie in der überheizten Garderobe gefröstelt hatte, auf einmal weit öffnete und Unmengen von Blut pumpte, das zuvor nicht dagewesen schien. Von ihrem Auftritt selbst hatte sie wenig mitbekommen, einzig das Würgen an ihrer Unfähigkeit, das Gefühl, durch ihre Anwesenheit die Harmonie des Raumes zu zerstören, als ihre Anspannung mit der entspannten Erwartung des Publikums kollidierte. Übelkeit und der Wunsch, an jedem anderen Ort der Welt zu sein, nur nicht auf dieser Bühne. Die Glückwünsche hinterher, das Lob der anderen, die Umarmungen, sie nahm alles nur wie hinter einer Eisschicht wahr. Erst als sie mit ihnen am Tisch saß, als sie auf einmal den Schweiß an sich herunterlaufen fühlte und seine Hand auf ihrem Arm, als er sie küsste und ihr sagte, sie sei fantastisch gewesen, taute die Schicht langsam weg. Das dichte Geräuschtextil in dem Lokal, mit Rauch durchtränkt, wärmte sie, alle waren übertrieben gut gelaunt, wichtige, beinahe berühmte Männergesichter neben ihren solariumsbraunen pelzbesetzten Zierpüppchen lächelten sie an, drückten höfliche Anerkennung aus. Zuvor noch hätte sie sich gewehrt, hätte gedacht, ich bin klein, dumm und hässlich, und was ich vorgetragen habe, war eine Lüge, nichts als Fassade, ich sollte gar nicht hier sein, merkt das denn keiner oder wollen sie nur höflich sein? Aber jetzt war ihr das egal, sollten sie doch reden und wenn alles gelogen war, sie wollte sich einmal so fühlen, als könnte sie tatsächlich mehr sein, als sie wirklich war, Lachen perlte in ihrem Sektglas nach oben und er saß neben ihr, ganz dicht, sie konnte seine Wärme spüren, unterhielt sich lebhaft mit den anderen, die alle möglichen Zukünfte für sie ausmalten. Sie beobachtete die Bewegungen seiner Lippen und dachte den Kuss von vorhin weiter. Er würde sie bestimmt heimbringen.
Die Nacht war erschreckend kalt, als er sie schließlich vor die Tür des Lokals begleitete. Auf dem Bürgersteig ein bunter Brei aus nassen Laubresten und bunten Papierfetzen von achtlos weggeworfenen Programmzetteln. Die Vorstellung war vorbei. Sie fühlte sich unendlich müde. Ich habe dir ein Taxi gerufen, sagte er. Es muss gleich da sein. Ich dachte, du bringst mich heim, wollte sie sagen, aber ihre Stimme streikte. Was hätte es auch genützt, es auszusprechen. Die wichtigen Leute saßen immer noch da drin und er würde sich weiter mit ihnen unterhalten. Natürlich. War doch auch für sie von Vorteil. Das Taxi rollte heran. Also, dann, sagte er. Schlaf gut. Wir sehen uns. Ein flüchtiger Kuss auf die Wange, nicht einmal eine Umarmung konnte sie ihm noch stehlen, er öffnete schon die Tür des Wagens. Drinnen kalter Rauch und abgenutzte Schlager. Die Übelkeit kehrte zurück. Da saß sie in ihrer festlichen Kleidung, die jetzt lächerlich wirkte, in der Handtasche Visitenkarten, die üblichen Versprechungen, wir melden uns bei Ihnen, was sie im Grunde nicht interessierte, sie wollte es eigntlich gar nicht mehr. Ein unüberschaubares Chaos in sich und trotz allem wieder das sichere Gefühl, ein Nichts zu sein. Für ihn nicht mehr als eine Erfolgsoption, eine Zukunftsinvestition. Später ließen sie der Lärm, die Lichter und die Hitze im Kopf nicht schlafen. Ihr Versuch, alles hinauszuweinen, misslang.
Der Schnee und die Stille haben sich über alles gelegt, nur das Durcheinander in ihrem Kopf liegt noch offen wie eine unbehandelte Wunde. Ihr Schädel ist überfüllt, aber irgendwo tiefer sitzt ein Gefühl der Leere. Irgendetwas ist ihr verlorengegangen letzte Nacht und sie kann es nicht mehr finden, sie versucht zu schreien, doch ihr Schrei wird sofort geschluckt und bleibt wirkungslos. Sie will das Chaos loswerden, den Schmerz, den Verlust, alles. Sofort. Wenn ihre Welt tot ist, dann soll alles tot sein, auch ihre wirren Gedanken und ihre Gefühle. Am besten auch sie selbst. Sie muss raus. Wahllos wirft sie sich ein paar Kleider über, schlüpft in die nächstbesten Schuhe, läuft aus der Wohnung. Rennt, ohne zu wissen, wo sie hin soll. Kommt in den Park und fällt am Fuß eines Hügels erschöpft in den Schnee, atemlos. Hinterlässt die erste Spur in der noch unberührten weißen Fläche. Vielleicht hier. Es ist im Grunde egal wo, wichtig ist nur, dass überhaupt, also kniet sie sich hin und beginnt zu graben. Gräbt lange, immer tiefer, wird nicht aufhören, bis sie sich ganz eingegraben hat in den Schnee und vielleicht auch in die nasse kalte Erde, bis sie endlich Ruhe hat in ihrem Innern, bis sie auch die Reste der letzten Nacht dorthin gebracht hat, wo alles andere schon liegt, unter dem Schnee.
Unter dem Schnee
Die Stille kriecht weiter den Boden entlang, über die Wände, bis zur Zimmerdecke hinauf. Sie deckt alles im Raum ab wie eine dicke Lackschicht, füllt jeden Winkel, jede Unebenheit. Sie ist von draußen gekommen, unbemerkt zunächst, und nimmt das ganze Haus ein. Sie ist so mächtig, dass man den eigenen Atem nicht mehr hört.
Sanja fährt mit dem Finger über die Wand neben ihrem Bett, die sich glatter anfühlt als sonst. Überzeugt sich mithilfe ihrer linken Handfläche davon, dass sie tatsächlich noch atmet. Doch auch das kann eine Täuschung sein. Die plötzliche Abwesenheit jeglichen Geräusches außerhalb ihres Schädels, das endlose Weiß, das über Nacht alles unter sich begraben hat – sie könnte tot sein. Wenn du stirbst, stirbt deine ganze Welt mit dir, schiebt sich eine Stimme aus der Geräuschkulisse in ihrem Kopf in den Vordergrund, und liegt jetzt reglos unter einem Leichentuch, fügt sie selbst hinzu. Hör auf mit dem Blödsinn!, schreit sie. Es kostet sie einige Überwindung, als sei es verboten, doch der Widerhall, mit dem sie ihr inneres Chaos zu übertönen gehofft hatte, bleibt aus. Sie steht vom Bett auf und zieht die Jalousien hoch. Der Morgen ist viel zu hell, er war zuvor schon zwischen den Alulamellen hindurch in den Raum gequollen, als sei draußen für so viel Hell nicht genug Platz. Die Schneedecke ebnet alles ein. Es gibt keine Kanaldeckel mehr, kein Laub und keinen Dreck auf den Straßen, nicht die geringste Unebenheit in der Fahrbahndecke. Als habe es auch die letzte Nacht nicht gegeben, all den Lärm, die vielen Leute, die Aufregung.
Es war warm gewesen, nach ihrem Auftritt sogar heiß, sie hatte gespürt, wie sich jede einzelne ihrer Adern, Stunden zuvor noch so eng zusammengezogen, dass sie in der überheizten Garderobe gefröstelt hatte, auf einmal weit öffnete und Unmengen von Blut pumpte, das zuvor nicht dagewesen schien. Von ihrem Auftritt selbst hatte sie wenig mitbekommen, einzig das Würgen an ihrer Unfähigkeit, das Gefühl, durch ihre Anwesenheit die Harmonie des Raumes zu zerstören, als ihre Anspannung mit der entspannten Erwartung des Publikums kollidierte. Übelkeit und der Wunsch, an jedem anderen Ort der Welt zu sein, nur nicht auf dieser Bühne. Die Glückwünsche hinterher, das Lob der anderen, die Umarmungen, sie nahm alles nur wie durch eine Eisschicht hindurch wahr. Erst als sie mit ihnen am Tisch saß, als sie auf einmal den Schweiß an sich herunterlaufen fühlte und seine Hand auf ihrem Arm, als er sie küsste und ihr sagte, sie sei fantastisch gewesen, taute die Schicht langsam weg. Das dichte Geräuschtextil in dem Lokal, mit Rauch durchtränkt, wärmte sie, alle waren übertrieben gut gelaunt, wichtige, beinahe berühmte Männergesichter neben ihren solariumsbraunen pelzbesetzten Zierpüppchen lächelten sie an, drückten höfliche Anerkennung aus. Zuvor noch hätte sie sich gewehrt, hätte gedacht, ich bin klein, dumm und hässlich, und was ich vorgetragen habe, war eine Lüge, nichts als Fassade, ich sollte gar nicht hier sein, merkt das denn keiner oder wollen sie nur höflich sein? Aber jetzt war ihr das egal, sollten sie doch reden und wenn alles gelogen war, sie wollte sich einmal so fühlen, als könnte sie tatsächlich mehr sein, als sie wirklich war, Lachen perlte in ihrem Sektglas nach oben und er saß neben ihr, ganz dicht, sie konnte seine Wärme spüren, unterhielt sich lebhaft mit den anderen, die alle möglichen Zukünfte für sie ausmalten. Er würde sie bestimmt heimbringen.
Die Nacht war erschreckend kalt, als er sie schließlich vor die Tür des Lokals begleitete. Auf dem Bürgersteig ein bunter Brei aus nassen Laubresten und bunten Papierfetzen von achtlos weggeworfenen Programmzetteln. Die Vorstellung war vorbei. Sie fühlte sich unendlich müde. Ich habe dir ein Taxi gerufen, sagte er. Es muss gleich da sein. Ich dachte, du bringst mich heim, wollte sie sagen, aber ihre Stimme streikte. Was hätte es auch genützt, es auszusprechen. Die wichtigen Leute saßen immer noch da drin und er musste sich weiter mit ihnen unterhalten. Natürlich. War doch auch für sie von Vorteil. Das Taxi rollte heran. Also, dann, sagte er. Schlaf gut. Wir sehen uns. Ein flüchtiger Kuss auf die Wange, dann öffnete er schon die Tür des Wagens. Drinnen kalter Rauch und abgenutzte Schlager. Die Übelkeit kehrte zurück. Da saß sie in ihrer festlichen Kleidung, die jetzt lächerlich wirkte, in der Handtasche Visitenkarten, die üblichen Versprechungen, wir melden uns bei Ihnen, ein unüberschaubares Chaos in sich und trotz allem wieder das sichere Gefühl, ein Nichts zu sein. Später ließen sie der Lärm, die Lichter und die Hitze im Kopf nicht schlafen. Ihr Versuch, alles hinauszuweinen, misslang.
Der Schnee und die Stille haben sich über alles gelegt, nur das Durcheinander in ihrem Kopf liegt noch offen wie eine unbehandelte Wunde. Ihr Schädel ist überfüllt, aber irgendwo tiefer sitzt ein Gefühl der Leere. Irgendetwas ist ihr verlorengegangen letzte Nacht und sie kann es nicht mehr finden, sie versucht zu schreien, doch ihr Schrei wird sofort geschluckt und bleibt wirkungslos. Sie will das Chaos loswerden, alles, sofort. Wenn ihre Welt tot ist, dann soll alles tot sein, auch ihre wirren Gedanken und ihre Gefühle. Am besten auch sie selbst. Sie muss raus. Wahllos wirft sie sich ein paar Kleider über, schlüpft in die nächstbesten Schuhe, läuft aus der Wohnung. Rennt, ohne zu wissen, wo sie hin soll. Kommt in den Park und fällt am Fuß eines Hügels erschöpft in den Schnee, atemlos. Hinterlässt die erste Spur in der noch unberührten weißen Fläche. Vielleicht hier. Es ist im Grunde egal wo, wichtig ist nur, dass überhaupt, also kniet sie sich hin und beginnt zu graben. Gräbt lange, immer tiefer, wird nicht aufhören, bis sie sich ganz eingegraben hat in den Schnee und vielleicht auch in die nasse kalte Erde, bis sie endlich Ruhe hat in sich, bis sie auch die Reste der letzten Nacht dorthin gebracht hat, wo alles andere schon liegt, unter dem Schnee.
Die Stille kriecht weiter den Boden entlang und über die Wände, bis zur Zimmerdecke hinauf. Sie deckt alles im Raum ab wie eine dicke Lackschicht, füllt jeden Winkel, jede Unebenheit. Sie ist von draußen gekommen, unbemerkt zunächst, und nimmt das ganze Haus ein. Sie ist so mächtig, dass man den eigenen Atem nicht mehr hört.
Sanja fährt mit dem Finger über die Wand neben ihrem Bett, die sich glatter anfühlt als sonst. Überzeugt sich mithilfe ihrer linken Handfläche davon, dass sie tatsächlich noch atmet. Doch auch das kann eine Täuschung sein. Die plötzliche Abwesenheit von jeglichem Geräusch außerhalb ihres Schädels, das endlose Weiß, das über Nacht alles unter sich begraben hat – sie könnte tot sein. Niemand ist bei ihr, der sie vom Gegenteil überzeugen könnte. Wenn du stirbst, stirbt deine ganze Welt mit dir, schiebt sich eine Stimme aus der Geräuschkulisse in ihrem Kopf in den Vordergrund, und liegt jetzt reglos unter einem Leichentuch, fügt sie selbst hinzu. Hör auf mit dem Blödsinn!, schreit sie, es kostet sie einige Überwindung, als sei es verboten, doch der Widerhall, mit dem sie ihr inneres Chaos zu übertönen gehofft hatte, bleibt aus. Sie steht vom Bett auf, allein, wie immer, und zieht die Jalousien hoch. Der Morgen ist viel zu hell, er war zuvor schon zwischen den Alulamellen hindurch in den Raum gequollen, als sei draußen für so viel Hell kein Platz mehr. Die Schneedecke ebnet alles ein. Es gibt keine Kanaldeckel mehr, kein Laub und keinen Dreck auf den Straßen, nicht die geringste Unebenheit in der Fahrbahndecke. Als habe es auch die letzte Nacht nicht gegeben, all den Lärm, die vielen Leute, die Aufregung.
Es war warm gewesen, nach ihrem Auftritt sogar heiß, sie hatte gespürt, wie sich jede einzelne ihrer Adern, Stunden zuvor noch so eng zusammengezogen, dass sie in der überheizten Garderobe gefröstelt hatte, auf einmal weit öffnete und Unmengen von Blut pumpte, das zuvor nicht dagewesen schien. Von ihrem Auftritt selbst hatte sie wenig mitbekommen, einzig das Würgen an ihrer Unfähigkeit, das Gefühl, durch ihre Anwesenheit die Harmonie des Raumes zu zerstören, als ihre Anspannung mit der entspannten Erwartung des Publikums kollidierte. Übelkeit und der Wunsch, an jedem anderen Ort der Welt zu sein, nur nicht auf dieser Bühne. Die Glückwünsche hinterher, das Lob der anderen, die Umarmungen, sie nahm alles nur wie hinter einer Eisschicht wahr. Erst als sie mit ihnen am Tisch saß, als sie auf einmal den Schweiß an sich herunterlaufen fühlte und seine Hand auf ihrem Arm, als er sie küsste und ihr sagte, sie sei fantastisch gewesen, taute die Schicht langsam weg. Das dichte Geräuschtextil in dem Lokal, mit Rauch durchtränkt, wärmte sie, alle waren übertrieben gut gelaunt, wichtige, beinahe berühmte Männergesichter neben ihren solariumsbraunen pelzbesetzten Zierpüppchen lächelten sie an, drückten höfliche Anerkennung aus. Zuvor noch hätte sie sich gewehrt, hätte gedacht, ich bin klein, dumm und hässlich, und was ich vorgetragen habe, war eine Lüge, nichts als Fassade, ich sollte gar nicht hier sein, merkt das denn keiner oder wollen sie nur höflich sein? Aber jetzt war ihr das egal, sollten sie doch reden und wenn alles gelogen war, sie wollte sich einmal so fühlen, als könnte sie tatsächlich mehr sein, als sie wirklich war, Lachen perlte in ihrem Sektglas nach oben und er saß neben ihr, ganz dicht, sie konnte seine Wärme spüren, unterhielt sich lebhaft mit den anderen, die alle möglichen Zukünfte für sie ausmalten. Sie beobachtete die Bewegungen seiner Lippen und dachte den Kuss von vorhin weiter. Er würde sie bestimmt heimbringen.
Die Nacht war erschreckend kalt, als er sie schließlich vor die Tür des Lokals begleitete. Auf dem Bürgersteig ein bunter Brei aus nassen Laubresten und bunten Papierfetzen von achtlos weggeworfenen Programmzetteln. Die Vorstellung war vorbei. Sie fühlte sich unendlich müde. Ich habe dir ein Taxi gerufen, sagte er. Es muss gleich da sein. Ich dachte, du bringst mich heim, wollte sie sagen, aber ihre Stimme streikte. Was hätte es auch genützt, es auszusprechen. Die wichtigen Leute saßen immer noch da drin und er würde sich weiter mit ihnen unterhalten. Natürlich. War doch auch für sie von Vorteil. Das Taxi rollte heran. Also, dann, sagte er. Schlaf gut. Wir sehen uns. Ein flüchtiger Kuss auf die Wange, nicht einmal eine Umarmung konnte sie ihm noch stehlen, er öffnete schon die Tür des Wagens. Drinnen kalter Rauch und abgenutzte Schlager. Die Übelkeit kehrte zurück. Da saß sie in ihrer festlichen Kleidung, die jetzt lächerlich wirkte, in der Handtasche Visitenkarten, die üblichen Versprechungen, wir melden uns bei Ihnen, was sie im Grunde nicht interessierte, sie wollte es eigntlich gar nicht mehr. Ein unüberschaubares Chaos in sich und trotz allem wieder das sichere Gefühl, ein Nichts zu sein. Für ihn nicht mehr als eine Erfolgsoption, eine Zukunftsinvestition. Später ließen sie der Lärm, die Lichter und die Hitze im Kopf nicht schlafen. Ihr Versuch, alles hinauszuweinen, misslang.
Der Schnee und die Stille haben sich über alles gelegt, nur das Durcheinander in ihrem Kopf liegt noch offen wie eine unbehandelte Wunde. Ihr Schädel ist überfüllt, aber irgendwo tiefer sitzt ein Gefühl der Leere. Irgendetwas ist ihr verlorengegangen letzte Nacht und sie kann es nicht mehr finden, sie versucht zu schreien, doch ihr Schrei wird sofort geschluckt und bleibt wirkungslos. Sie will das Chaos loswerden, den Schmerz, den Verlust, alles. Sofort. Wenn ihre Welt tot ist, dann soll alles tot sein, auch ihre wirren Gedanken und ihre Gefühle. Am besten auch sie selbst. Sie muss raus. Wahllos wirft sie sich ein paar Kleider über, schlüpft in die nächstbesten Schuhe, läuft aus der Wohnung. Rennt, ohne zu wissen, wo sie hin soll. Kommt in den Park und fällt am Fuß eines Hügels erschöpft in den Schnee, atemlos. Hinterlässt die erste Spur in der noch unberührten weißen Fläche. Vielleicht hier. Es ist im Grunde egal wo, wichtig ist nur, dass überhaupt, also kniet sie sich hin und beginnt zu graben. Gräbt lange, immer tiefer, wird nicht aufhören, bis sie sich ganz eingegraben hat in den Schnee und vielleicht auch in die nasse kalte Erde, bis sie endlich Ruhe hat in ihrem Innern, bis sie auch die Reste der letzten Nacht dorthin gebracht hat, wo alles andere schon liegt, unter dem Schnee.
Unter dem Schnee
Die Stille kriecht weiter den Boden entlang, über die Wände, bis zur Zimmerdecke hinauf. Sie deckt alles im Raum ab wie eine dicke Lackschicht, füllt jeden Winkel, jede Unebenheit. Sie ist von draußen gekommen, unbemerkt zunächst, und nimmt das ganze Haus ein. Sie ist so mächtig, dass man den eigenen Atem nicht mehr hört.
Sanja fährt mit dem Finger über die Wand neben ihrem Bett, die sich glatter anfühlt als sonst. Überzeugt sich mithilfe ihrer linken Handfläche davon, dass sie tatsächlich noch atmet. Doch auch das kann eine Täuschung sein. Die plötzliche Abwesenheit jeglichen Geräusches außerhalb ihres Schädels, das endlose Weiß, das über Nacht alles unter sich begraben hat – sie könnte tot sein. Wenn du stirbst, stirbt deine ganze Welt mit dir, schiebt sich eine Stimme aus der Geräuschkulisse in ihrem Kopf in den Vordergrund, und liegt jetzt reglos unter einem Leichentuch, fügt sie selbst hinzu. Hör auf mit dem Blödsinn!, schreit sie. Es kostet sie einige Überwindung, als sei es verboten, doch der Widerhall, mit dem sie ihr inneres Chaos zu übertönen gehofft hatte, bleibt aus. Sie steht vom Bett auf und zieht die Jalousien hoch. Der Morgen ist viel zu hell, er war zuvor schon zwischen den Alulamellen hindurch in den Raum gequollen, als sei draußen für so viel Hell nicht genug Platz. Die Schneedecke ebnet alles ein. Es gibt keine Kanaldeckel mehr, kein Laub und keinen Dreck auf den Straßen, nicht die geringste Unebenheit in der Fahrbahndecke. Als habe es auch die letzte Nacht nicht gegeben, all den Lärm, die vielen Leute, die Aufregung.
Es war warm gewesen, nach ihrem Auftritt sogar heiß, sie hatte gespürt, wie sich jede einzelne ihrer Adern, Stunden zuvor noch so eng zusammengezogen, dass sie in der überheizten Garderobe gefröstelt hatte, auf einmal weit öffnete und Unmengen von Blut pumpte, das zuvor nicht dagewesen schien. Von ihrem Auftritt selbst hatte sie wenig mitbekommen, einzig das Würgen an ihrer Unfähigkeit, das Gefühl, durch ihre Anwesenheit die Harmonie des Raumes zu zerstören, als ihre Anspannung mit der entspannten Erwartung des Publikums kollidierte. Übelkeit und der Wunsch, an jedem anderen Ort der Welt zu sein, nur nicht auf dieser Bühne. Die Glückwünsche hinterher, das Lob der anderen, die Umarmungen, sie nahm alles nur wie durch eine Eisschicht hindurch wahr. Erst als sie mit ihnen am Tisch saß, als sie auf einmal den Schweiß an sich herunterlaufen fühlte und seine Hand auf ihrem Arm, als er sie küsste und ihr sagte, sie sei fantastisch gewesen, taute die Schicht langsam weg. Das dichte Geräuschtextil in dem Lokal, mit Rauch durchtränkt, wärmte sie, alle waren übertrieben gut gelaunt, wichtige, beinahe berühmte Männergesichter neben ihren solariumsbraunen pelzbesetzten Zierpüppchen lächelten sie an, drückten höfliche Anerkennung aus. Zuvor noch hätte sie sich gewehrt, hätte gedacht, ich bin klein, dumm und hässlich, und was ich vorgetragen habe, war eine Lüge, nichts als Fassade, ich sollte gar nicht hier sein, merkt das denn keiner oder wollen sie nur höflich sein? Aber jetzt war ihr das egal, sollten sie doch reden und wenn alles gelogen war, sie wollte sich einmal so fühlen, als könnte sie tatsächlich mehr sein, als sie wirklich war, Lachen perlte in ihrem Sektglas nach oben und er saß neben ihr, ganz dicht, sie konnte seine Wärme spüren, unterhielt sich lebhaft mit den anderen, die alle möglichen Zukünfte für sie ausmalten. Er würde sie bestimmt heimbringen.
Die Nacht war erschreckend kalt, als er sie schließlich vor die Tür des Lokals begleitete. Auf dem Bürgersteig ein bunter Brei aus nassen Laubresten und bunten Papierfetzen von achtlos weggeworfenen Programmzetteln. Die Vorstellung war vorbei. Sie fühlte sich unendlich müde. Ich habe dir ein Taxi gerufen, sagte er. Es muss gleich da sein. Ich dachte, du bringst mich heim, wollte sie sagen, aber ihre Stimme streikte. Was hätte es auch genützt, es auszusprechen. Die wichtigen Leute saßen immer noch da drin und er musste sich weiter mit ihnen unterhalten. Natürlich. War doch auch für sie von Vorteil. Das Taxi rollte heran. Also, dann, sagte er. Schlaf gut. Wir sehen uns. Ein flüchtiger Kuss auf die Wange, dann öffnete er schon die Tür des Wagens. Drinnen kalter Rauch und abgenutzte Schlager. Die Übelkeit kehrte zurück. Da saß sie in ihrer festlichen Kleidung, die jetzt lächerlich wirkte, in der Handtasche Visitenkarten, die üblichen Versprechungen, wir melden uns bei Ihnen, ein unüberschaubares Chaos in sich und trotz allem wieder das sichere Gefühl, ein Nichts zu sein. Später ließen sie der Lärm, die Lichter und die Hitze im Kopf nicht schlafen. Ihr Versuch, alles hinauszuweinen, misslang.
Der Schnee und die Stille haben sich über alles gelegt, nur das Durcheinander in ihrem Kopf liegt noch offen wie eine unbehandelte Wunde. Ihr Schädel ist überfüllt, aber irgendwo tiefer sitzt ein Gefühl der Leere. Irgendetwas ist ihr verlorengegangen letzte Nacht und sie kann es nicht mehr finden, sie versucht zu schreien, doch ihr Schrei wird sofort geschluckt und bleibt wirkungslos. Sie will das Chaos loswerden, alles, sofort. Wenn ihre Welt tot ist, dann soll alles tot sein, auch ihre wirren Gedanken und ihre Gefühle. Am besten auch sie selbst. Sie muss raus. Wahllos wirft sie sich ein paar Kleider über, schlüpft in die nächstbesten Schuhe, läuft aus der Wohnung. Rennt, ohne zu wissen, wo sie hin soll. Kommt in den Park und fällt am Fuß eines Hügels erschöpft in den Schnee, atemlos. Hinterlässt die erste Spur in der noch unberührten weißen Fläche. Vielleicht hier. Es ist im Grunde egal wo, wichtig ist nur, dass überhaupt, also kniet sie sich hin und beginnt zu graben. Gräbt lange, immer tiefer, wird nicht aufhören, bis sie sich ganz eingegraben hat in den Schnee und vielleicht auch in die nasse kalte Erde, bis sie endlich Ruhe hat in sich, bis sie auch die Reste der letzten Nacht dorthin gebracht hat, wo alles andere schon liegt, unter dem Schnee.