The first cut is not the deepest
Verfasst: 01.02.2007, 21:23
Derzeitige Endfassung
The first cut is not the deepest
Durch die an den Rändern vereiste Frontscheibe sehe ich einen weißen Pudel in den Schnee pissen. Rechts neben uns wartet LKW Walter mit uns vor der roten Ampel, international logistics steht unter dem Namenszug. Walter international, zum Brüllen. Als hätte der Trucker mein Interesse für sein Gefährt mitgekriegt, grinst er aus seiner Kabine auf eine so anzüglich beschränkte Art zu mir herunter, dass ich nicht sicher bin, ob er es überhaupt mitbekommt. Hey, die gute Leo kriegt auch mal einen ab. Aber anstatt diese Chance zu nutzen, lehne ich den Kopf gegen die Nackenstütze und schließe die Augen. Njüüt-njüt machen die Wischer auf dem Scheibeneis. Njüüt-njüt.
Rod, was singst du dir für ein Scheiß zusammen.
The first cut is not the deepest. Es gibt immer noch einen, der tiefer schneidet, die Wunde weitet, das Messer ganz langsam tiefer treibt, Schnitt für Schnitt für Schnitt für Schnitt für – jaja schon gut, baby, I know.
Ich weiß, wenn ich die Augen wieder öffne, wird auf dem Armaturenbrett immer noch diese Fliege sitzen. Sie hockt da schon die ganze Fahrt über. Gleich sind wir schon da, bei Jenny. Jennyyy, schon dieser Name, wie eine Gutmensch-Forrest-Gump-Figur. Die Fliege ist schon ganz träge, man kann sogar ihre Flügel mit der Fingerspitze streifen und sie fliegt nicht fort, krabbelt nur ein paar Zentimeter weiter. So gut wie tot. Ein, zwei Tage hat sie noch, auch die Letzten werden die Toten sein. Goodbye, good fly.
Jenny ist Sebastians Ex. Heute will er sie zurück und ich soll ihm dabei helfen, darum sitz ich hier mit ihm im Auto, bin wie immer das letzte Ass in seinem Hosenschlitz. „Bitte, Leo, du musst mitkommen und mit ihr reden, keiner außer dir biegt das wieder gerade, nur noch dieses eine Mal. Mit Jenny(yy), das ist echt was Ernstes, das will ich hinkriegen“, hatte Sebastian mich belabert und wie zum Beweis eines dieser samtenen, blauen Ring-Etuis aus seiner Jackentasche gezogen.
Dass er sich nie fragt, warum ich so gut darin bin, ihm all seine Ex-Weiber zurückzuholen. Dass er sich das nie fragt.
Die Ampel springt auf Grün, njüüt-njüt, njüüt-njüt. Ich sehe Sebastians Hände am Lenkrad, die feinen schwarzen Härchen auf seinen Fäusten. Nach ein paar Metern haben wir Pudel Pinkel eingeholt, hinter ihm an der Leine humpelt sein Frauchen auf blauen Pumps durch den Schnee. Bestimmt darf er seinem Dämchen abends auf dem Sofa die Salamischeiben aus dem Mündchen schlecken.
Natürlich bin ich nur so gut darin, weil ich Sebastian liebe. Ich weiß noch, wie er nebenan einzog. Wir waren beide noch klein. Nur einmal durch unseren Garten, über den Zaun und schon stand ich vor seiner Haustür. Es war nicht vom ersten Tag an alles entschieden, aber jeder einzelne Tag, den er mit mir war, jede Schramme am Knie, die er belachte, jeden Kaugummi, den wir tauschten, entschied ein wenig mehr, dass ich Sebastian lieben müsse.
Die Flügel der wahrscheinlich letzten Fliege dieses Winters sind von winzigem Aderwerk durchzogen. Mit den Vorderbeinen reibt sie sich um den schillernden Kopf, als ziehe sie sich einen Pullover über. Der nützte dir auch nichts. Nicht alles ist Kälte.
Niemand außer Sebastian wird je verstehen, wer ich bin, was mich ausmacht, wie es zum Beispiel war, wenn mein Vater mich schlug, ins Gesicht oder mit der Faust auf den Rücken, denn nur Sebastian ist dabei gewesen. Vor jedem anderen würde sich mein Vater schämen oder lügen, wäre ganz klein, wäre ein ganz anderer und alle meine Erzählungen würden nichts bedeuten. Aber mit Sebastian ist das was anderes. Ich meine, es war nicht so, dass er zu einem von uns wurde, wie ein Bruder oder so, mein Vater weiß genau, welche der Löwenbabys seine eigenen sind. Aber Sebastian war einfach so oft da, dass er gar nicht weiter auffiel, als verschmelze er mit den Möbeln in unserem Haus. Und so war es, wenn mein Vater mich schlug und Sebastian dabei zusah, genau so gut, als ob man davon spräche, dass die Vitrine Mitleid klirre oder dem Kühlschrank sich der Magen zusammenziehe. Für mich aber war es nicht das gleiche.
Sebastian hat den Motor abgestellt, wir sind da. „Leo, das hier ist wichtig für mich“, sagt er ganz ernst und fasst mit seiner Hand mein Gesicht, dreht es so, dass ich ihn anblicken muss.
Ich ziehe die Brauen hoch, weiß nichts zu sagen, nicht mal was Sarkastisches oder Albernes fällt mir noch ein. „Danke, dass du mitgekommen bist“, hängt er noch hinten dran. Dann springt er aus dem Wagen, ist schon ganz woanders, mitten im Spiel, klingelt an Jennyyys Wohnungstür.
Sie macht nicht gleich auf, ist aber zuhause, ich sehe wie sie am Fenster links über der Tür hinter der Gardine steht. Sebastian kann das natürlich nicht sehen, natürlich steht er zu nah an der Hauswand dafür. Jennyyy wird ihre Sache gut machen, das weiß ich. Ich hab sie in den acht Monaten, die das mit Sebastian jetzt läuft, nur wenige Male gesehen, aber dass sie eine von denen ist, die wissen, wie es läuft, wusste ich sofort. Evolutionsbräute nenne ich Sebastians Zielgruppe: breiter Arsch, schmale Taille, immer um ein schönblondes Haar ungebildeter als Sebastian und entweder zickig oder bräsig nah am Wasser gebaut. Jennyyy toppt natürlich alle bisherigen Exemplare, auch was den Arsch angeht, ich setze alle Hoffnungen in sie.
Natürlich verachte ich sie, aber das nützt mir nichts, weil Verachten immer aus einem Schmerz heraus geschieht, etwas zwar immer und immer wieder zu verneinen, aber doch nichts anderes als genau dieses wünschen zu können. Nicht loszukommen von etwas, was man hasst. Wie kriegen die es bloß mit einer solchen Leichtigkeit hin, zu bekommen, was sie wollen, ja, mehr noch, glücklich zu sein?
Sebastians Hand eben in meinem Gesicht hätte mich schon wieder sterben lassen können, in Gesten ist er wirklich unschlagbar, die hauen rein. Und das, obwohl sie absolutes Klischee sind. Ich meine, so was tun Männer nur in amerikanischen Filmen. In amerikanischen Filmen, die so schlecht sind, dass nur noch ein makellos markantes Gesicht des Schauspielers Abhilfe schaffen kann, das die binär strukturierte Matrix der Geschlechtsidentität so perfekt bestätigt, dass den Evolutionsbräuten endgültig ihre Sicherungen durchbrennen und es Stau im Eileiter gibt. Sonst würden nämlich selbst sie abschalten.
Und trotzdem, diese Gesten und die gemeinsame Zeit, das sind eigentlich die einzigen Gründe, warum ich Sebastian lieben muss. Alles andere an ihm ist im Grunde fad, manchmal fast schnöselig, geradezu amerikanisch potent. Viel zu ungebrochen. Das einzig Gebrochene an ihm bin ich.
Als ich größer wurde, provozierte ich manchmal, dass mein Vater mich schlug, wenn Sebastian bei uns war. Es war in dieser Zeit schon schwieriger für mich, von Sebastian beachtet zu werden, den Schmerz nahm ich gerne dafür hin. Sebastian war dann nicht so hart gegen mich, wie es sich zwischen uns durch die lange Zeit ansonsten eingespielt hatte, als sei ich nur sein bester Kumpel und darüber hinaus gäbe es nichts. Für einen kurzen Moment war es dann anders, Sebastian streichelte mir das Gesicht oder schimpfte meinen Vater ein Schwein. Am liebsten aber sah ich, was sein Mitleid mit seinem Gesicht machte, wie es mich anblickte. Ich wusste, so schaute er sonst nur, wenn er jemanden begehrte und begehren, das ist seine Art zu lieben.
Jennyyy steht noch immer hinter der Gardine und macht nicht auf, Sebastian klingelt schon zum dritten Mal, good girl, you’ll make it. Klar, sie muss sich jetzt erst einmal richtig reinsteigern, anfangen zu heulen, natürlich kriegt sie dabei keine Kaninchenaugen, weint einfach nur große Kullertränen, höchstens die Nase wird etwas rot, aber ganz ohne Rotz, alles von der Evolution vorgeplant, Jennyyy wird nicht selektiert, nein, Jennyyy doch nicht. Im Gegenteil, das ist ihre Stunde, schon fast so gut wie ihre Hochzeit und wenn nicht das, doch alle mal ein Schritt in die richtige Richtung!
Aber ich weiß es ja doch längst. Das ganze Geheimnis dieser Menschen ist, dass sie nicht wissen, wie ferngesteuert sie sind, dass sie nicht checken, was alles abläuft in ihnen und sie dazu bringt, das zu tun, was sie tun: heulen, schreien, lästern, behaupten und allem voran, natürlich – ficken. Wie die Karnickel. Und trotzdem, das ist das Spiel und das Spiel ist der Weg zum Glück.
Einen Moment hab ich noch, dann muss ich raus. Ich mache das Handschuhfach auf, zünde mir eine von Sebastians stinkenden Zigaretten an, heute will ich keine von denen sein, die duften.
Sebastian wird noch kurz das Haus belagern, dann wird er zum Auto schleichen und mich bitten, dass ich mit Jennyyy rede. Ich werde aussteigen und Sebastian mit den Händen in den Hosentaschen stehen lassen. Keiner von beiden wird merken, wie augenscheinlich der ganze Betrug ist, den sie hier veranstalten. Dass mit wenigen Handgriffen dieses Schauspiel hier nicht nötig wäre, und das, obwohl ich es ihnen zeige. Ich werde kurz zum Fenster hochblicken, so lange, dass Jennyyy weiß, dass ich sie gesehen habe. Dann werde ich auf eine der anderen Wohnungsklingeln drücken, um ins Haus zu gelangen, die Stufen hoch in den ersten Stock gehen. Ich brauch nicht mal an ihre Tür klopfen, weil Jennyyy Sebastian ja noch unten stehen sehen kann. So wird sie die Tür gleich aufmachen und ich werde anfangen zu lügen, wie nur ich lügen kann, weil jede verdammte Bratze im Kaff hier weiß, dass ich Sebastian liebe. Dafür braucht es nur einen Blick, in so was sind sie gut, die Evolutionsbräute. Und weil sie wissen, dass ich Sebastian liebe, glauben sie mir alles, denn es gibt keinen Sinn für sie, dass eine, die den gleichen Typ will wie sie, lügt, damit sie zu dem Typ zurückkehren. Nein, das raffen ihre Östrogene nicht mehr, dass für solche wie mich lieben bedeutet, immer und immer wieder zu versuchen; dass es etwas zählt, was man ist, dass man kein anderes Mittel hat als eben genau dieses.
Was ich Jennyyy genau sagen werde, weiß ich noch nicht, mir wird schon das Richtige einfallen, hohl werde ich mich anhören, wie ein Apparat werde ich alibisieren und doch an das genaue Gegenteil denken. Dass ich lüge, wenn ich sage, dass Sebastian sie nicht betrogen hat, was ich in diesem Fall nicht weiß, weil er auch sonst immer alle betrogen hat, denen ich das Gegenteil erzählt habe, sondern weil ich diesmal diejenige war, mit der er sie betrogen hat.
„Leo, ich weiß wirklich nicht mal mehr, mit welcher der vielen Schlampen auf der Party ich es neulich getrieben habe, ich war so breit, bestimmt hab ich nicht mal mehr richtig einen hoch bekommen“, hatte Sebastian zu mir gesagt, als ich vorhin nicht einsteigen und mit hierhin kommen wollte, und mein Körper war ganz weich geworden, er war gar nicht mehr richtig vorhanden gewesen, und Sebastian schob mich ins Auto. Und ob du einen hochgekriegt hast.
Mir war schon vorher klar gewesen, dass es so kommen würde. Wäre er nicht bis zum Anschlag abgefüllt gewesen, Sebastian hätte mich niemals angerührt, Sebastian treibts doch nicht mit seiner „Schwester“, da ist er wie mein Vater.
Sebastian hatte sich die Kante gegeben, weil Jennyyy ihn versetzt hatte, wie sie es ab und an tat, weil das ja auch zum Spiel gehört. Ich hatte es nicht ausgehalten, wie er sich darüber bei mir ausheulte; hatte gesagt, ich müsse aufs Klo und war mit einer Flasche Wodka-Cola in eines der oberen Zimmer gegangen. Es war genug, ich wollte das nicht mehr, die gute Leo würde sich das Phantomias-Kostüm der 2,5 Promille überziehen und sich dann gleich wieder ausziehen lassen, damit irgendein langweiliger Typ sie flachlegte. Dann war der Anfang gemacht, dann ginge es bergauf, dann würde es bald schon weniger wehtun. Schluss mit diesem albernen Aufgespare, für diese Vielleicht-doch-eines-Tages-Quarkscheiße, die es nur schmerzhafter machte, als es sein musste.
Sebastian hatte wohl gesehen, dass ich nicht ins Bad gegangen war, oder es hatte ihm zu lange gedauert. Jedenfalls stand er mit einem Mal in der Tür. „Hey, Leo, was ist, was machst du hier?“
„Lass mich in Ruhe, Jahn“, gab ich zurück und nahm einen Schluck aus der Flasche.
Sebastian sah sich um. „Oh man, das ist ja hier das Schlafzimmer der Eltern. Das wird dem Typen, der hier die Party schmeißt, aber gar nicht gefallen, Leo. Oder meinst du, der ist pervers? Wahrscheinlich stehen wir überall Kameras. Warte das könnte sein, ich kenn den, wie heißt der der noch...“
„Ach, hör doch auf, du kennst den nicht, keiner kennt den, das ist sicher wieder so eine arme Sau, die von irgendeinem, der ihn sonst immer niedermacht, dazu überredet wurde, die Party hier steigen zu lassen, weil seine Eltern verreist sind. Und morgen, wenn er die Kotze im Kunstperser sieht, fängt er an zu flennen und sein Kontostand in Sachen Freunde ist immer noch 0,0.“
„Leo und ihre Sozialstudien, jaja, du wirst sicher mal eine dieser verkorksten Professorinnen an der Uni, die in ihrem vermufften Büro hocken und Kuchendiagramme erstellen. Weißt du eigentlich, Leo, wie prüde du bist? Ich würde sagen...ziiiemlich prüde...ahwäh, ich muss gleich kotzen...“.
„Tortendiagramme, Jahn. Und klar weiß ich das. Leg dich lieber nicht hin, sonst musst du gleich wirklich kotzen und versaust dir dein Hemd, dann wird’s nichts mehr mit Abschleppen von irgend so einer breitarschigen Kuh.“
Sebastian hatte sich vor mich gestellt, sein Gesicht war ganz nah an meinem. „Ich könnte es ja auch dir besorgen, Leo, du würdest mich doch sogar mit vollgekotztem Hemd nehmen.“
„Jedes andere Mal gerne, aber heute hab ich schon dreimal.“
Sebastian hatte mir die Flasche aus der Hand genommen und mich angegrinst, so dass ich seinen linken Eckzahn sehen konnte, der einzige Zahn, der etwas schief geraten war und einem Vampirzahn glich. Dann hatte er weiter von Jennyyy gesprochen und sich weiter betrunken, bis er wirklich nichts mehr mitbekam. Irgendwann versuchte er, mich zu küssen, einprogrammiertes Vorgehen, ich wusste das, aber in dem Augenblick entschied ich mich, dass das hier meins sein sollte. Dass mir reichte, was ich für die Wunde bekam.
Ich schloss die Tür ab und ließ mich von ihm ausziehen, ließ mich auf das Bett werfen, in dem sonst irgendwelche Eltern von irgendeinem armseligen Typen grunzten. Selbst als er mit mir schlief, wusste ich, wie es kommen würde, und doch, so wollte ich es.
Kurz nachdem er fertig war, schlief er ein und lag auf meiner Brust, ich kippte ihn zur Seite, seine Hose hing ihm noch an den Füßen. Für einen kurzen Moment grub ich meinen Kopf in seine Arme und weinte, lieber jetzt als später, dann hast du das auch schon hinter dir, sagte ich mir. Dann schlich ich aus dem Zimmer und machte mich auf den Heimweg. Keiner hatte mich gesehen, irgendwelche Leute hatten ihn später in dem Zimmer gefunden, sich totgelacht, weil er keine Hose anhatte und natürlich (natürlich) war das bis zu Jennyyy vorgedrungen.
Sebastian kommt zum Auto zurück, öffnet die Beifahrertür. „Leo, kannst du....bitte...“
Ich straffe die Schultern, schmeiße die Zigarette nach draußen. „Ja, gut, eine Sekunde noch.“
„Ja klar“, sagt er kleinlaut und geht ein paar Meter vom Wagen weg.
Natürlich kann man sagen, die erste Wunde ist die, die alle andern Schnitte erst ins Fleisch dringen lässt, die alle anderen vorbereitet, die einen müde macht. Und insofern die tiefste. Gäbe es sie nicht, hätten die anderen nicht so leichtes Spiel, würde man sich nicht lächerlich machen, nicht auf alle erdenklichen Arten darum ringen, dass der Schmerz, wenn er denn schon das ist, was alles andere bestimmt, zumindest passgenau immer wieder und wieder diese eine Wunde schürt. Die Natur hat ja Recht: Jemand wie ich, jemand, der seinen Schmerz kultiviert, um ihn in einigen spärlichen Momenten als Glück zu empfinden, der gehört selektiert.
Dann hatte der gute Rod ja von Anfang an Recht. So was gibt es ja, das einer was Dummes meint, aber was Kluges bei rauskommt. Warum nicht auch für Geld. Rod, verzeih mir, ich habs nicht gleich gepeilt.
Ich stülpe meine Hand über die Fliege, steige aus und schüttle sie in die Kälte, schau mich noch einmal zu Sebastian um.
„Hm?“, fragt er.
„Ach nichts“, sage ich und schaue hoch zum Fenster, wo Jennyyy steht und sieht, dass ich gesehen habe, dass sie mich sieht.
Überarbeitete Fassung
The first cut is not the deepest
Durch die an den Rändern noch zugefrorene Frontscheibe sehe ich einen weißen Pudel in den Schnee pissen. Rechts neben uns wartet LKW Walter ebenso wie wir vor der roten Ampel, international logistic steht unter dem Namenszug. Walter international, zum Brüllen. Als hätte der Trucker mein Interesse für sein Gefährt mitgekriegt, grinst er aus seiner Kabine auf eine so anzüglich beschränkte Art zu mir herunter, dass ich nicht sicher bin, ob er es überhaupt mitbekommt. Ich drücke meine Knie aneinander, auch wenn mein Rock selbst im Sitzen bis über die Fußknöchel reicht und lehne den Kopf gegen die Nackenstütze, schließe die Augen. Njüüt-njüt machen die Wischer auf dem Scheibeneis. Njüüt-njüt.
Rod, was singst du dir für einen Scheiß zusammen.
The first cut is not the deepest. Es gibt immer noch einen, der tiefer schneidet, die Wunde weitet, das Messer ganz langsam tiefer treibt, Schnitt für Schnitt für Schnitt für Schnitt für – jaja schon gut, baby, I know.
Ich weiß, wenn ich die Augen wieder öffne, sitzt auf dem Armaturenbrett immer noch diese Fliege. Sie hockt da schon die ganze Fahrt über.
Gleich sind wir da, bei Jenny. Jennyyy, schon dieser Name, wie eine Gutmensch-Forrest-Gump-Figur. Die Fliege ist schon ganz träge, man kann sogar ihre Flügel mit der Fingerspitze streifen und sie fliegt nicht fort, krabbelt nur ein paar Zentimeter weiter. So gut wie tot. Ein, zwei Tage hat sie noch, auch die Letzten werden die Toten sein. Goodbye, good fly.
Jenny ist Sebastians Ex. Er will sie heute zurück und ich soll ihm dabei helfen, darum sitz ich hier mit ihm im Auto, bin wie immer das Anstandswauwauchen, das letzte Ass in seinem Hosenschlitz. „Bitte, Leo, du musst mitkommen und mit ihr reden, keiner außer dir biegt das wieder gerade, nur noch dieses eine Mal. Mit Jenny(yy), das ist echt was Ernstes, das will ich hinkriegen“, hatte Sebastian mich belabert und wie zum Beweis eines dieser samtenen, blauen Verlobungsringkästchen aus seiner Jackentasche gezogen.
Dass er sich nie fragt, warum ich so gut darin bin, ihm all seine Ex-Weiber zurückzuholen. Dass er sich das nie fragt.
Die Ampel springt auf Grün, njüüt-njüt, njüüt-njüt. Ich sehe Sebastians Arme am Lenkrad, die feinen schwarzen Härchen auf seinen Fäusten. Nach ein paar Metern haben wir Pudel Pinkel eingeholt, hinter ihm an der Leine humpelt sein Frauchen auf blauen Pumps durch den Schnee. Bestimmt darf er seinem Dämchen abends auf dem Sofa die Salamischeiben aus dem Mündchen schlecken.
Natürlich bin ich nur so gut darin, weil ich Sebastian liebe. Ich weiß noch, wie er nebenan einzog, wir waren beide noch ziemlich klein. Nur einmal durch unseren Garten, über den Zaun und schon stand ich vor seiner Haustür.
Es war nicht vom ersten Tag an alles entschieden, aber jeder einzelne Tag, den er mit mir war, jede Schramme am Knie, die er belachte, jeden Kaugummi, den wir tauschten, entschied ein wenig mehr, dass ich Sebastian lieben müsste.
Die Flügel meiner wahrscheinlich letzten Fliege für diesen Winter sind von winzigem Aderwerk durchzogen, mit den Vorderbeinen reibt sie sich um den schillernden Kopf, als ziehe sie sich einen Pullover über. Der nützt dir auch nichts. Nicht alles ist Kälte.
Niemand außer Sebastian wird je verstehen, wer ich bin, was mich ausmacht, wie es zum Beispiel war, wenn mein Vater mich schlug, ins Gesicht oder mit der Faust auf den Rücken, denn nur Sebastian ist dabei gewesen. Vor jedem anderen würde sich mein Vater schämen oder lügen, wäre ganz klein, wäre ein ganz anderer und alle meine Erzählungen würden nichts bedeuten. Aber mit Sebastian ist das was anderes. Ich meine, es war nicht so, dass er zu einem von uns wurde, wie ein Bruder oder so, dafür ist mein Vater zu triebhaft, er weiß, welche der Löwenbabys seine eigenen sind. Aber Sebastian war einfach so oft da, dass er gar nicht weiter auffiel, als verschmelze er mit den Möbeln in unserem Hauses.
Und so war es, wenn mein Vater mich schlug und Sebastian dabei zusah, genau so gut, als ob man davon spräche, die Vitrine klirrte Mitleid oder dem Kühlschrank ziehe sich der Magen zusammen. Für mich aber war es nicht das gleiche.
Sebastian hat den Motor abgestellt, wir sind da. „Leo, das hier ist wichtig für mich“, sagt er ganz ernst und fasst mit seiner Hand mein Gesicht, dreht es so, dass ich ihn anblicken muss.
Ich verziehe die Augenbrauen, weiß nichts zu sagen, nicht mal was Sarkastisches oder Albernes fällt mir noch ein. „Danke, dass du mitgekommen bist“, hängt er noch hinten dran. Dann springt er aus dem Wagen, ist schon ganz woanders, mitten im Spiel, klingelt an Jennys Wohnungstür.
Sie macht nicht gleich auf, ist aber zuhause, ich sehe wie sie am Fenster links über der Tür hinter der Gardine steht. Sebastian kann das natürlich nicht sehen, natürlich steht er zu nah an der Hauswand dafür. Jennyyy wird ihre Sache gut machen, das weiß ich. Ich hab sie in den acht Monaten, die das mit Sebastian jetzt läuft, nur wenige Male gesehen, aber dass sie eine von denen ist, die wissen, wie es läuft, wusste ich sofort. Evolutionsbräute nenne ich Sebastians Zielgruppe: breiter Arsch, schmale Taille, immer um ein schönblondes Haar ungebildeter als Sebastian selbst und entweder zickig oder bräsig nah am Wasser gebaut; die debile gute Fee oder der pubertäre Vamp. Jennyyy toppt natürlich alle bisherigen Exemplare, auch was den Arsch angeht, ich setze alle Hoffnungen in sie.
Natürlich verachte ich sie, aber das nützt mir nichts, weil Verachten immer aus einem Schmerz heraus geschieht, etwas zwar immer und immer wieder zu verneinen, aber doch nichts anderes als genau dieses wünschen zu können. Nicht loszukommen von etwas, was man hasst. Wie kriegen diese Tanten es bloß mit einer solchen Leichtigkeit hin zu bekommen, was sie wollen, ja, mehr noch, glücklich zu sein?
Sebastians Hand eben in meinem Gesicht hätte mich schon wieder sterben lassen können, in Gesten ist er wirklich unschlagbar, die hauen rein. Und das, obwohl sie absolutes Klischee sind. Ich meine, so was tun Männer nur in amerikanischen Filmen, wenn der Regisseur einen Schauspieler, dessen Gesicht in Punkto Symmetrie einem gleichseitigem Dreieck ins nichts nachsteht, versucht, die schlechten Dialoge des Drehbuchs durch die Bestätigung der binär strukturierten Matrix der Geschlechtsidentität zu retten. Und trotzdem, diese Gesten und die gemeinsame Zeit, das sind eigentlich die einzigen Gründe, warum ich Sebastian lieben muss. Alles andere an ihm ist im Grunde fad, manchmal fast schnöselig, geradezu amerikanisch potent. Viel zu ungebrochen. Das einzig Gebrochene an ihm bin ich.
Als ich größer wurde, provozierte ich manchmal, dass mein Vater mich schlug, wenn Sebastian bei uns war. Es war in dieser Zeit schon schwieriger für mich, von Sebastian beachtet zu werden, den Schmerz nahm ich gerne dafür hin. Sebastian war dann nicht so hart gegen mich, wie es sich zwischen uns ansonsten eingespielt hatte durch die lange Zeit, als sei ich nur sein bester Kumpel und darüber hinaus gäbe es nichts.
Für einen kurzen Moment war es dann anders, Sebastian streichelte mir das Gesicht oder schimpfte meinen Vater ein Schwein. Am liebsten aber sah ich, was sein Mitleid mit seinem Gesicht machte, wie es mich anblickte. Ich wusste, so schaute er sonst nur, wenn er jemanden begehrte und begehren, das ist seine Art zu lieben.
Jennyyy steht noch immer hinter der Gardine und macht nicht auf, Sebastian klingelt schon zum dritten Mal, good girl, you’ll make it. Klar, sie muss sich jetzt erst einmal richtig reinsteigern, anfangen zu heulen, natürlich kriegt sie keine Kaninchenaugen, weint einfach nur große Kullertränen, höchstens die Nase wird etwas rot, aber ganz ohne Rotz, alles von der Evolution vorgeplant, Jennyyy wird nicht selektiert, nein, Jennyyy doch nicht. Im Gegenteil, das ist ihre Stunde, schon fast so gut wie ihre Hochzeit und wenn nicht das, doch alle mal ein Schritt in die richtige Richtung!
Aber ich weiß es ja doch längst. Das ganze Geheimnis dieser Menschen ist, dass sie nicht wissen, wie ferngesteuert sie sind, dass sie nicht checken, was alles abläuft in ihnen und sie dazu bringt, das zu tun, was sie tun: heulen, schreien, lästern, behaupten und allem voran, natürlich – ficken. Wie die Karnickel. Und trotzdem, das ist das Spiel und das Spiel ist der Weg zum Glück.
Einen Moment hab ich noch, dann muss ich raus. Ich mache das Handschuhfach auf, zünde mir eine von Sebastians stinkenden Zigaretten an, heute will ich keine von denen sein, die duften.
Sebastian wird noch kurz das Haus belagern, dann wird er zum Auto schleichen, geduckt und schüchtern an die Scheibe klopfen und bitten, dass ich mit Jenny rede. Ich werde aussteigen und Sebastian mit den Händen in den Hosentaschen stehen lassen. Sie werden nicht merken, wie augenscheinlich der ganzer Betrug ist, den sie hier veranstalten, werden nicht bemerken, dass mit wenigen Handgriffen dieses Schauspiel hier nicht nötig wäre, und das, obwohl ich es ihnen zeige. Ich werde kurz zum Fenster hochblicken, so lange, dass Jennyyy weiß, dass ich sie gesehen habe. Dann werde ich auf eine der anderen Wohnungsklingeln drücken, um ins Haus zu gelangen, die Stufen hoch in den ersten Stock gehen. Ich brauch nicht mal an ihre Tür klopfen, weil Jennyyy Sebastian ja noch unten stehen sehen kann. So wird sie die Tür gleich aufmachen und ich werde anfangen zu lügen, wie nur ich lügen kann, weil jede verdammte Bratze im Kaff hier weiß, dass ich Sebastian liebe, dafür braucht es nur einen Blick, in so was sind sie gut, die Evolutionsbräute. Und weil sie wissen, dass ich Sebastian liebe, glauben sie mir alles, denn es gibt keinen Sinn für sie, dass eine, die den gleichen Typ will wie sie, lügt, damit sie zu dem Typ zurückkehren. Nein, das raffen ihre Östrogene nicht mehr, dass für solche wie mich lieben bedeutet, immer und immer wieder zu versuchen, dass es etwas zählt, was man ist, dass man kein anderes Mittel hat als eben genau dieses.
Was ich Jennyyy genau sagen werde, weiß ich noch nicht, mir wird schon das richtige einfallen, hohl werde ich mich anhören, wie ein Apparat werde ich alibisieren und doch an das genaue Gegenteil denken. Dass ich lüge, wenn ich sage, dass Sebastian sie nicht betrogen hat, was ich nicht weiß, weil er auch sonst immer alle betrogen hat, denen ich das Gegenteil erzählt habe, sondern weil ich die war, mit der er sie betrogen hat. Dass einzige, was an meinen Beteuerungen Wahres dran sein wird, ist, dass das alles keine Rolle spielt, dass es nicht die geringste Bedeutung hat, nicht die mindeste.
„Leo, ich weiß wirklich nicht mal mehr, mit welcher der vielen Schlampen ich es auf der Party neulich getrieben haben soll, ich war so breit, bestimmt hab ich nicht mal mehr richtig einen hoch bekommen“, hatte Sebastian zu mir gesagt, als ich vorhin nicht einsteigen und mit hierhin kommen wollte und mein Körper war ganz weich geworden, er war gar nicht mehr richtig vorhanden gewesen, und Sebastian schob mich ins Auto. Und ob du einen hochgekriegt hast.
Mir war schon vorher klar gewesen, dass es so kommen würde. Wäre er nicht bis zum Anschlag abgefüllt gewesen, Sebastian hätte mich niemals angerührt, Sebastian treibts doch nicht mit seiner „Schwester“, da gleicht er meinem Vater.
Sebastian hatte sich die Kante gegeben, weil Jennyyy ihn versetzt hatte, wie sie es ab und an manchmal tat, weil das ja auch zum Spiel gehört. Ich hatte es nicht ausgehalten, wie er sich darüber bei mir ausheulte, hatte gesagt, ich müsse kurz aufs Klo und war mit einer Flasche Wodkacola in eines der oberen Zimmer gegangen. Es war genug, ich wollte das nicht mehr, die gute Leo würde sich das Phantomias-Kostüm der 2,5 Promille überziehen und es sich dann gleich wieder ausziehen lassen, damit irgendein langweiliger Typ sie flachlegte. Dann war der Anfang gemacht, dann ginge es bergauf, dann würde es bald schon weniger wehtun. Schluss mit diesem albernen Aufgespare, für diese vielleicht-doch-eines-Tages-Quarkscheiße, das es nur schmerzhafter machte, als es sein musste.
Sebastian hatte wohl gesehen, dass ich nicht ins Bad gegangen war, oder es hatte ihm zu lange gedauert und er war mich suchen gegangen. Jedenfalls stand er auf jeden Fall mit einem Mal in der Tür. „Hey, Leo, was ist, was machst du hier?“
„Lass mich in Ruhe, Jahn“, gab ich zurück und nahm einen Schluck aus der Flascke.
Sebastian sah sich um. „Ey, sind wir hier nicht in dem Schlafzimmer der Eltern des Typen, wie heißt der noch gleich...ich,...kenn den, ...na jedenfalls, von dem, der da hier die Party schm...macht?“
„Ach, hör doch auf, du kennst den nicht, keiner kennt den, das ist sicher wieder so eine arme Sau, die von irgendeinem, der ihn sonst immer niedermacht, dazu überredet wurde, die Party hier steigen zu lassen, weil seine Eltern verreist sind. Und morgen, wenn er die Kotze im Kunstperser sieht, fängt er an zu flennen und sein Kontostand in Sachen Freunde ist immer noch 0,0.“
„Leo und ihre Sozialstudien, jaja, du wirst sicher mal eine dieser verkorksten Professorinnen an der Uni, die in ihrem vermufften Büro hocken und Kuchendiagramme machen. Weißt du eigentlich, Leo, wie prüde du bist? Ich würde sagen...ziiiemlich prüde...ahwäh, ich muss gleich kotzen...glaub ich“.
„Tortendiagramme, Jahn. Tortendiagramme. Und klar weiß ich das.“
„Leg dich lieber nicht hin, sonst musst du gleich wirklich kotzen und versaust dir dein Hemd, dann wird’s nichts mehr mit Abschleppen von irgend so einer breitarschigen Kuh.“
Sebastian hatte sich vor mich gestellt, sein Gesicht war ganz nah an meinem. „Ich könnte es ja auch dir besorgen, Leo, du würdest mich doch auch mit vollgekotztem Hemd nehmen.“
„Jedes andere Mal gerne, aber heute hab ich schon dreimal.“
Sebastian hatte mir die Flasche aus der Hand genommen und mich angegrinst, so dass ich seinen linken Eckzahn sehen konnte, der einzige Zahn, der etwas schief geraten war bei ihm und von der Form her einem Vampirzahn glich. Dann hatte er weiter von Jennyyy gesprochen und sich weiter betrunken, bis er wirklich nichts mehr wusste. Irgendwann versuchte er, mich zu küssen, einprogrammiertes Vorgehen, ich wusste das, aber in dem Augenblick entschied ich mich, dass das hier meins sein sollte, dass ich es hinnehmen wollte, dass mir reichte, was ich für die Wunde bekam.
Ich schloss die Tür ab und ließ mich von ihm ausziehen, ließ mich auf das Bett werfen, in dem sonst irgendwelche Eltern von irgendeinem armseligen Typen grunzten. Selbst als er mit mir schlief, wusste ich, wie es kommen würde, und doch, so wollte ich es.
Kurz nachdem er fertig war, schlief er ein und lag auf meiner Brust, ich kippte ihn zur Seite, seine Hose hing ihm noch an den Füßen. Für einen kurzen Moment grub ich meinen Kopf in seine Arme und weinte, lieber jetzt als später, dann hast du das auch schon hinter dir, sagte ich mir. Dann schlich ich aus dem Zimmer und machte mich auf den Heimweg. Keiner hatte mich gesehen, irgendwelche Leute hatten ihn später in dem Zimmer gefunden, sich totgelacht, weil er keine Hose anhatte und natürlich (natürlich) war das bis zu Jennyyy vorgedrungen. Sebastian konnte sich zwar daran erinnern, dass ich auch erst in diesem Zimmer gewesen war, aber ich sagte ihm, dass ich irgendwann genug von seinem Jennyyy-Gejaule gehabt hätte und gegangen sei, und er brachte es nicht mehr zusammen. Erst war ich noch ängstlich, aber inzwischen bin ich mir sicher, selbst wenn ich alles genau so behauptet hätte, wie es abgelaufen war, hätte er mir nicht geglaubt.
Sebastian klopft ans Seitenfenster, ich kurble die Scheibe runter. „Leo, kannst du....bitte...“
Ich straffe die Schultern, schmeiße die Zigarette nach draußen. „Ja, gut, eine Sekunde noch.“
„Ja klar“, sagt er kleinlaut und geht ein paar Meter vom Wagen weg.
Natürlich kann man sagen, die erste Wunde ist die, die alle andern Schnitte erst ins Fleisch dringen lässt und insofern die tiefste. Aber gut ist es damit ja nicht, es geht ja immer weiter.
Ich stülpe meine Hand über die alte Fliege, steige aus und werfe sie in die Kälte, schau mich noch einmal zu Sebastian um.
„Hm?“, fragt er.
„Ach nichts“, sage ich und schaue hoch zum Fenster, wo Jennyyy steht und sieht, dass ich gesehen habe, dass sie mich sieht.
Erstfassung
The first cut is not the deepest
Durch die halb zugefrorene Frontscheibe sehe ich einen weißen Pudel in den Schnee pissen. Rechts neben uns wartet LKW Walter mit uns vor der roten Ampel, international logistic steht unter dem Namenszug. Walter international, zum Brüllen. Als hätte der Trucker mein Interesse für sein Gefährt mitgekriegt, grinst er aus seiner Kabine auf eine so anzüglich beschränkte Art zu mir herunter, dass ich nicht sicher bin, ob er es überhaupt mitbekommt. Ich lehne den Kopf gegen die Nackenstütze und schließe die Augen. Njüüt-njüt machen die Wischer auf dem Scheibeneis. Njüüt-njüt.
Rod, was singst du dir für ein Scheiß zusammen.
The first cut is not the deepest. Es gibt immer noch einen, der tiefer sticht, die Wunde weitet, ganz langsam treibt das Messer tiefer, Schnitt für Schnitt für Schnitt für Schnitt für – jaja schon gut, baby, I know.
Ich weiß, wenn ich die Augen wieder öffne, sitzt auf dem Armaturenbrett immer noch diese Fliege. Sie hockt da schon den ganzen Weg zu Jenny, regt sich nicht. Jennyyy, schon dieser Name, wie eine Gutmensch-Forrest-Gump-Figur. Die Fliege ist schon ganz träge, man kann sogar ihre Flügel mit der Fingerspitze streifen und sie fliegt nicht fort, krabbelt nur ein paar Zentimeter weiter. So gut wie tot. Ein, zwei Tage hat sie noch, auch die Letzten werden die Toten sein. Goodbye, good fly.
Jenny ist Sebastians Ex. Er will sie heute zurück und ich soll ihm dabei helfen, darum sitz ich hier mit ihm im Auto, bin wie immer das Anstandswauwauchen, das letzte Ass in seinem Hosenschlitz. „Bitte, Leo, du musst mitkommen und mit ihr reden, keiner außer dir biegt das wieder gerade, nur noch dieses eine Mal. Mit Jenny(yy), das ist echt was Ernstes, das will ich hinkriegen“, hatte Sebastian mich belabert und wie zum Beweis eines dieser samtenen, blauen Verlobungsringkästchen aus seiner Jackentasche gezogen.
Dass er sich nie fragt, warum ich so gut darin bin, ihm all seine Ex-Weiber zurückzuholen. Dass er sich das nie fragt.
Die Ampel springt auf Grün, njüüt-njüt, njüüt-njüt. Ich sehe Sebastians Arme am Lenkrad, die feinen schwarzen Härchen auf seinen Fäusten. Nach ein paar Metern haben wir Pudel Pinkel eingeholt, hinter ihm an der Leine humpelt sein Frauchen auf blauen Pumps durch den Schnee. Bestimmt darf er seinem Dämchen abends auf dem Sofa die Salamischeiben aus dem Mündchen schlecken.
Natürlich bin ich nur so gut darin, weil ich Sebastian liebe.
Ich weiß noch, wie Sebastian nebenan einzog, wir waren beide noch sehr klein. Nur einmal durch unseren Garten, über den Zaun und schon stand ich vor seiner Haustür.
Es war nicht vom ersten Tag an alles entschieden, aber jeder einzelne Tag, den er mit mir war, jede Schramme am Knie, die er belachte, jeden Kaugummi, den wir tauschten, entschied ein wenig mehr, dass ich Sebastian lieben müsste.
Die Flügel meiner wahrscheinlich letzten Fliege für diesen Winter sind von winzigem Aderwerk durchzogen, mit den Vorderbeinen reibt sie sich um den schillernden Kopf, als ziehe sie sich einen Pullover über. Der nützt dir auch nichts. Nicht alles ist Kälte.
Niemand außer Sebastian wird je verstehen, wer ich bin, was mich ausmacht, wie es zum Beispiel war, wenn mein Vater mich schlug, ins Gesicht oder mit der Faust auf den Rücken, denn nur Sebastian ist dabei gewesen. Vor jedem anderen würde sich mein Vater schämen oder lügen, wäre ganz klein, wäre ein ganz anderer und alles wäre nur Erzählung und somit nutzlos für mich. Aber mit Sebastian ist das was anderes. Ich meine, es war nicht so, dass er zu einem von uns wurde, wie ein Bruder oder so, dafür ist mein Vater zu triebhaft, er weiß, welche der Löwenbabys seine eigenen sind. Aber Sebastian war einfach so oft da, dass er gar nicht weiter auffiel, als verschmelze er mit den Einrichtungsgegenständen unseres Hauses.
Und so war es, wenn mein Vater mich schlug und Sebastian dabei zusah, genau so gut, als ob man davon spräche, die Vitrine klirrte Mitleid oder dem Kühlschrank ziehe sich der Magen zusammen. Für mich aber war es nicht das gleiche.
Sebastian hat den Motor abgestellt, wir sind da. „Leo, das hier ist wichtig für mich“, sagt er ganz ernst und fasst mit seiner Hand mein Gesicht, dreht es so, dass ich ihn anblicken muss.
Ich verziehe die Augenbrauen, weiß nichts zu sagen, nicht mal was Sarkastisches oder Albernes fällt mir noch ein. „Danke, dass du mitgekommen bist“, hängt er noch hinten dran. Dann springt er aus dem Wagen, ist schon ganz woanders, mitten im Spiel, klingelt an Jennys Wohnungstür.
Sie macht nicht gleich auf, ist aber zuhause, ich sehe wie sie am Fenster links über der Tür hinter der Gardine steht. Sebastian kann das natürlich nicht sehen, natürlich steht er zu nah an der Hauswand dafür. Jennyyy wird ihre Sache gut machen, das weiß ich. Ich hab sie in den acht Monaten, die das mit Sebastian jetzt läuft, nur wenige Male gesehen, aber dass sie eine von denen ist, die es verstehen zu leben, wusste ich sofort. Evolutionsbräute nenne ich Sebastians Zielgruppe: breiter Arsch, aber um so schmalere Taille, immer um ein schönblondes Haar ungebildeter als Sebastian selbst und entweder zickig oder bräsig nah am Wasser gebaut; die debile gute Fee oder der pubertäre Vamp. Jennyyy toppt natürlich alle bisherigen Exemplare, auch was den Arsch angeht, ich setze alle Hoffnungen in sie.
Natürlich verachte ich sie, aber das nützt mir nichts, dadurch weiß ich es auch nicht besser zu machen. Mir ist es schlicht unbegreiflich, mit welcher Leichtigkeit sie es verstehen zu bekommen, was sie wollen, ja, mehr noch, glücklich zu sein.
Seine Hand eben in meinem Gesicht hätte mich schon wieder sterben lassen können, in Gesten ist er wirklich unschlagbar, die hauen rein, ja, diese Gesten und die gemeinsame Zeit, das sind eigentlich die einzigen Gründe, warum ich Sebastian lieben muss. Alles andere an ihm ist im Grunde fad, manchmal fast schnöselig, geradezu amerikanisch potent. Viel zu ungebrochen. Das einzig Gebrochene, was er hat, bin ich.
Als ich größer wurde, provozierte ich manchmal, dass mein Vater mich schlug, wenn Sebastian bei uns war. Es war in dieser Zeit schon schwieriger für mich, von Sebastian beachtet zu werden, den Schmerz nahm ich gerne dafür hin. Sebastian streichelte mir dann hinterher das Gesicht oder schimpfte meinen Vater ein Schwein. Am liebsten aber sah ich, was sein Mitleid mit seinem Gesicht machte, wie es mich anblickte. Ich wusste, so schaute er sonst nur, wenn er jemanden begehrte und begehren, das ist seine Art zu lieben.
Jennyyy steht noch immer hinter der Gardine und macht nicht auf, Sebastian klingelt schon zum dritten Mal, good girl, you’ll make it. Klar, sie muss sich jetzt erst einmal richtig reinsteigern, anfangen zu heulen, natürlich kriegt sie keine Kaninchenaugen, weint einfach nur große Kullertränen, höchstens die Nase wird etwas rot, aber ganz ohne Rotz, alles von der Evolution vorgeplant, Jennyyy wird nicht selektiert, nein, Jennyyy doch nicht. Im Gegenteil, das ist ihre Stunde, schon fast so gut wie ihre Hochzeit und wenn nicht das, doch alle mal ein Schritt in die richtige Richtung!
Das ist ja das ganze Geheimnis dieser Menschen, dass sie nicht wissen, wie ferngesteuert sie sind, dass sie nicht checken, was alles abläuft in ihnen und sie dazu bringt, das zu tun, was sie tun: heulen, schreien, lästern, behaupten und allen voran, natürlich – ficken. Wie der Hamster im Laufrad. Und trotzdem, das ist das Spiel und das Spiel ist der Weg zum Glück.
Einen Moment hab ich noch, dann muss ich raus. Ich mache das Handschuhfach auf, zünde mir eine von Sebastians stinkenden Zigaretten an, heute will ich keine von denen sein, die gut duften.
Sebastian wird noch kurz das Haus belagern, sich einige Minuten auf die Steinstufen setzen, dann wird er zum Auto schleichen, geduckt und schüchtern an die Scheibe klopfen und bitten, dass ich mit Jenny rede. Ich werde aussteigen und Sebastian mit den Händen in den Hosentaschen stehen lassen. Sie werden nicht merken, wie augenscheinlich ihr ganzer Betrug ist, den sie hier veranstalten, werden nicht bemerken, dass mit wenigen Handgriffen dieses ganze Schauspiel hier nicht nötig wäre, und das, obwohl ich es ihnen zeige. Ich werde kurz zum Fenster hochblicken, so lange, dass Jennyyy weiß, dass ich sie gesehen habe. Dann werde ich auf eine der anderen Wohnungsklingeln drücken, um ins Haus zu gelangen, die Stufen hoch in den ersten Stock gehen. Ich brauch nicht mal an ihre Tür klopfen, weil Jennyyy Sebastian ja noch unten stehen sehen kann. So wird sie die Tür gleich aufmachen und ich werde anfangen zu lügen, wie nur ich lügen kann, weil jede verdammte Bratze im Kaff hier weiß, dass ich Sebastian liebe, dafür braucht es nur einen Blick, in so was sind sie gut, die Evolutionsbräute. Und weil sie wissen, dass ich Sebastian liebe, glauben sie mir alles, denn es gibt keinen Sinn für sie, dass eine, die den gleichen Typ will wie sie, lügt, damit sie zu dem Typ zurückkehren. Nein, das raffen ihre Östrogene nicht mehr, dass für solche wie mich lieben bedeutet, immer und immer wieder zu versuchen, dass es etwas zählt, was man ist, dass man kein anderes Mittel hat als eben genau dieses.
Was ich Jennyyy genau sagen werde, weiß ich noch nicht, mir wird schon das richtige einfallen, hohl werde ich mich anhören, wie ein Apparat werde ich alibisieren und doch an das genaue Gegenteil denken. Dass ich lüge, wenn ich sage, dass Sebastian sie nicht betrogen hat, was ich nicht weiß, weil er auch sonst immer alle betrogen hat, denen ich das Gegenteil erzählt habe, sondern weil ich die war, mit der er sie betrogen hat. Dass einzige, was an meinen Beteuerungen Wahres dran sein wird, ist, dass das alles keine Rolle spielt, dass es nicht die geringste Bedeutung hat, nicht die mindeste.
„Leo, ich weiß wirklich nicht mal mehr, mit welcher der vielen Schlampen ich es auf der Party neulich getrieben haben soll, ich war so breit, bestimmt hab ich nicht mal mehr richtig einen hoch bekommen“, hatte Sebastian zu mir gesagt, als ich vorhin nicht einsteigen und mit hierhin kommen wollte und mein Körper war ganz weich geworden, er war gar nicht mehr richtig vorhanden gewesen, und Sebastian schob mich ins Auto. Und ob du einen hochgekriegt hast.
Mir war schon vorher klar gewesen, dass es so kommen würde. Wäre er nicht bis zum Anschlag abgefüllt gewesen, Sebastian hätte mich niemals angerührt, Sebastian treibts doch nicht mit seiner „Schwester“, da gleicht er meinem Vater.
Sebastian hatte sich die Kante gegeben, weil Jennyyy ihn versetzt hatte, wie sie es ab und an manchmal tat, weil das ja auch zum Spiel gehört. Ich hatte es nicht ausgehalten, wie er sich darüber bei mir ausheulte, hatte gesagt, ich müsse kurz aufs Klo und war mit einer Flasche Wodkacola in eines der oberen Zimmer gegangen. Es war genug, ich wollte das nicht mehr, die gute Leo würde sich das Phantomias-Kostüm der 2,5 Promille überziehen und es sich dann gleich wieder ausziehen lassen, damit irgendein langweiliger Typ sie flachlegte. Dann war der Anfang gemacht, dann ginge es bergauf, dann würde es bald schon weniger weh tun. Schluss mit diesem albernen Aufgespare, für diese vielleicht-doch-eines-Tages-Quarkscheiße, das es nur schmerzhafter machte, als es sein musste.
Sebastian hatte wohl gesehen, dass ich nicht ins Bad gegangen war, oder es hatte ihm zu lange gedauert und er war mich suchen gegangen. Wie auch immer stand er auf jeden Fall mit einem Mal in der Tür. „Hey, Leo, was ist, was machst du hier?“
„Lass mich in Ruhe, Jahn“, gab ich zurück und trank aus der Flasche, die ich mit hochgenommen hatte.
Sebastian sah sich um. „Ey, sind wir hier nicht in dem Schlafzimmer der Eltern des Typen, wie heißt der noch gleich...ich,...kenn den, ...na jedenfalls, von dem, der da hier die Party schm...macht?“
„Ach, hör doch auf, du kennst den nicht, keiner kennt den, das ist sicher wieder so eine arme Sau, die von irgendeinem, der ihn sonst immer niedermacht, dazu überredet wurde, die Party hier steigen zu lassen, weil seine Eltern verreist sind. Und morgen, wenn er die Kotze im Kunstperser sieht, fängt er an zu flennen und sein Kontostand in Sachen Freunde ist immer noch 0,0.“
„Leo und ihre Sozialstudien, jaja, du wirst sicher mal eine dieser verkorksten Professorinnen an der Uni, die in ihrem vermufften Büro hocken und Kuchendiagramme machen. Weißt du eigentlich, Leo, wie prüde du bist? Ich würde sagen...ziiiemlich prüde...ahwäh, ich muss gleich kotzen...glaub ich“.
„Tortendiagramme, Jahn. Tortendiagramme. Und klar weiß ich das.
Leg dich lieber nicht hin, sonst musst du gleich wirklich kotzen und versaust dir dein Hemd, dann wird’s nichts mehr mit Abschleppen von irgend so einer breitarschigen Kuh.“
Sebastian hatte sich vor mich gestellt, sein Gesicht war ganz nah an meinem. „Ich könnte es ja auch dir besorgen, Leo, du würdest mich doch auch mit vollgekotztem Hemd nehmen.“
„Jedes andere Mal gerne, aber heute hab ich schon dreimal.“
Sebastian hatte mir die Flasche aus der Hand genommen und mich angegrinst, so dass ich seinen linken Eckzahn sehen konnte, der einzige Zahn, der etwas schief geraten war bei ihm und von der Form her einem Vampirzahn glich. Dann hatte er weiter von Jennyyy gesprochen und sich weiter betrunken, bis er wirklich nichts mehr wusste. Irgendwann versuchte er, mich zu küssen, einprogrammiertes Vorgehen, ich wusste das, aber in dem Augenblick entschied ich mich, dass das hier meins sein sollte, dass ich es hinnehmen wollte, dass mir reichte, was ich für die Wunde bekam.
Ich schloss die Tür ab und ließ mich von ihm ausziehen, ließ mich auf das Bett werfen, in dem sonst irgendwelche Eltern von irgendeinem armseligen Typen grunzten. Selbst als er mit mir schlief, wusste ich, wie es kommen würde, und doch, so wollte ich es.
Kurz nachdem er fertig war, schlief er ein und lag auf meiner Brust, ich kippte ihn zur Seite, seine Hosen hing ihm noch an den Füßen. Für einen kurzen Moment grub ich meinen Kopf in seine Arme und weinte, lieber jetzt als später, dann hast du das auch schon hinter dir, sagte ich mir. Dann schlich ich aus dem Zimmer und fuhr nachhause. Keiner hatte mich gesehen, irgendwelche Leute hatten ihn später in dem Zimmer gefunden, sich totgelacht, weil er keine Hose anhatte und natürlich (natürlich) war das bis zu Jennyyy vorgedrungen. Sebastian selber konnte sich zwar daran erinnern, dass ich auch erst in diesem Zimmer gewesen war, aber ich sagte ihm, dass ich irgendwann genug von seinem Jennyyy-Gejaule gehabt hätte und gegangen sei, und er brachte es nicht mehr zusammen. Erst war ich noch ängstlich, aber inzwischen bin ich mir sicher, selbst wenn ich alles genau so behauptet hätte, wie es abgelaufen war, hätte er mir nicht geglaubt, es hätte nicht in seinen Schädel gepasst.
Sebastian klopft ans Seitenfenster, ich kurble die Scheibe runter. „Leo, kannst du....bitte...“
Ich straffe die Schultern, schmeiße die Zigarette nach draußen. „Ja, gut, eine Sekunde noch.“
„Ja klar“, sagt er kleinlaut und geht ein paar Meter vom Wagen weg.
The first cut is the deepest, jajaja. Ich meine, natürlich kann man sagen, die erste Wunde ist die, die alle andern Schnitte erst ins Fleisch dringen lässt und insofern, als sie alle folgenden bedingt, die tiefste. Aber gut ist es damit ja nicht, es geht ja immer weiter. Wichtiger wäre es für mich jetzt wohl, mir einen Kalender anzuschaffen, in den ich eintrage, wann ich vorhabe mit wem zu ficken bzw. mit wem nicht, um ihn später oder einen andern zu ficken.
Ich stülpe meine Hand über die alte Fliege, steige aus und werfe sie in die Kälte. „So geht’s schneller.“
„Hm?“, fragt Sebastian abwesend.
„Ach nichts“, sage ich und schaue hoch zum Fenster, wo Jennyyy steht und sieht, dass ich gesehen habe, dass sie mich sieht.
gerne wie immer alles um die Ohren hauen
The first cut is not the deepest
Durch die an den Rändern vereiste Frontscheibe sehe ich einen weißen Pudel in den Schnee pissen. Rechts neben uns wartet LKW Walter mit uns vor der roten Ampel, international logistics steht unter dem Namenszug. Walter international, zum Brüllen. Als hätte der Trucker mein Interesse für sein Gefährt mitgekriegt, grinst er aus seiner Kabine auf eine so anzüglich beschränkte Art zu mir herunter, dass ich nicht sicher bin, ob er es überhaupt mitbekommt. Hey, die gute Leo kriegt auch mal einen ab. Aber anstatt diese Chance zu nutzen, lehne ich den Kopf gegen die Nackenstütze und schließe die Augen. Njüüt-njüt machen die Wischer auf dem Scheibeneis. Njüüt-njüt.
Rod, was singst du dir für ein Scheiß zusammen.
The first cut is not the deepest. Es gibt immer noch einen, der tiefer schneidet, die Wunde weitet, das Messer ganz langsam tiefer treibt, Schnitt für Schnitt für Schnitt für Schnitt für – jaja schon gut, baby, I know.
Ich weiß, wenn ich die Augen wieder öffne, wird auf dem Armaturenbrett immer noch diese Fliege sitzen. Sie hockt da schon die ganze Fahrt über. Gleich sind wir schon da, bei Jenny. Jennyyy, schon dieser Name, wie eine Gutmensch-Forrest-Gump-Figur. Die Fliege ist schon ganz träge, man kann sogar ihre Flügel mit der Fingerspitze streifen und sie fliegt nicht fort, krabbelt nur ein paar Zentimeter weiter. So gut wie tot. Ein, zwei Tage hat sie noch, auch die Letzten werden die Toten sein. Goodbye, good fly.
Jenny ist Sebastians Ex. Heute will er sie zurück und ich soll ihm dabei helfen, darum sitz ich hier mit ihm im Auto, bin wie immer das letzte Ass in seinem Hosenschlitz. „Bitte, Leo, du musst mitkommen und mit ihr reden, keiner außer dir biegt das wieder gerade, nur noch dieses eine Mal. Mit Jenny(yy), das ist echt was Ernstes, das will ich hinkriegen“, hatte Sebastian mich belabert und wie zum Beweis eines dieser samtenen, blauen Ring-Etuis aus seiner Jackentasche gezogen.
Dass er sich nie fragt, warum ich so gut darin bin, ihm all seine Ex-Weiber zurückzuholen. Dass er sich das nie fragt.
Die Ampel springt auf Grün, njüüt-njüt, njüüt-njüt. Ich sehe Sebastians Hände am Lenkrad, die feinen schwarzen Härchen auf seinen Fäusten. Nach ein paar Metern haben wir Pudel Pinkel eingeholt, hinter ihm an der Leine humpelt sein Frauchen auf blauen Pumps durch den Schnee. Bestimmt darf er seinem Dämchen abends auf dem Sofa die Salamischeiben aus dem Mündchen schlecken.
Natürlich bin ich nur so gut darin, weil ich Sebastian liebe. Ich weiß noch, wie er nebenan einzog. Wir waren beide noch klein. Nur einmal durch unseren Garten, über den Zaun und schon stand ich vor seiner Haustür. Es war nicht vom ersten Tag an alles entschieden, aber jeder einzelne Tag, den er mit mir war, jede Schramme am Knie, die er belachte, jeden Kaugummi, den wir tauschten, entschied ein wenig mehr, dass ich Sebastian lieben müsse.
Die Flügel der wahrscheinlich letzten Fliege dieses Winters sind von winzigem Aderwerk durchzogen. Mit den Vorderbeinen reibt sie sich um den schillernden Kopf, als ziehe sie sich einen Pullover über. Der nützte dir auch nichts. Nicht alles ist Kälte.
Niemand außer Sebastian wird je verstehen, wer ich bin, was mich ausmacht, wie es zum Beispiel war, wenn mein Vater mich schlug, ins Gesicht oder mit der Faust auf den Rücken, denn nur Sebastian ist dabei gewesen. Vor jedem anderen würde sich mein Vater schämen oder lügen, wäre ganz klein, wäre ein ganz anderer und alle meine Erzählungen würden nichts bedeuten. Aber mit Sebastian ist das was anderes. Ich meine, es war nicht so, dass er zu einem von uns wurde, wie ein Bruder oder so, mein Vater weiß genau, welche der Löwenbabys seine eigenen sind. Aber Sebastian war einfach so oft da, dass er gar nicht weiter auffiel, als verschmelze er mit den Möbeln in unserem Haus. Und so war es, wenn mein Vater mich schlug und Sebastian dabei zusah, genau so gut, als ob man davon spräche, dass die Vitrine Mitleid klirre oder dem Kühlschrank sich der Magen zusammenziehe. Für mich aber war es nicht das gleiche.
Sebastian hat den Motor abgestellt, wir sind da. „Leo, das hier ist wichtig für mich“, sagt er ganz ernst und fasst mit seiner Hand mein Gesicht, dreht es so, dass ich ihn anblicken muss.
Ich ziehe die Brauen hoch, weiß nichts zu sagen, nicht mal was Sarkastisches oder Albernes fällt mir noch ein. „Danke, dass du mitgekommen bist“, hängt er noch hinten dran. Dann springt er aus dem Wagen, ist schon ganz woanders, mitten im Spiel, klingelt an Jennyyys Wohnungstür.
Sie macht nicht gleich auf, ist aber zuhause, ich sehe wie sie am Fenster links über der Tür hinter der Gardine steht. Sebastian kann das natürlich nicht sehen, natürlich steht er zu nah an der Hauswand dafür. Jennyyy wird ihre Sache gut machen, das weiß ich. Ich hab sie in den acht Monaten, die das mit Sebastian jetzt läuft, nur wenige Male gesehen, aber dass sie eine von denen ist, die wissen, wie es läuft, wusste ich sofort. Evolutionsbräute nenne ich Sebastians Zielgruppe: breiter Arsch, schmale Taille, immer um ein schönblondes Haar ungebildeter als Sebastian und entweder zickig oder bräsig nah am Wasser gebaut. Jennyyy toppt natürlich alle bisherigen Exemplare, auch was den Arsch angeht, ich setze alle Hoffnungen in sie.
Natürlich verachte ich sie, aber das nützt mir nichts, weil Verachten immer aus einem Schmerz heraus geschieht, etwas zwar immer und immer wieder zu verneinen, aber doch nichts anderes als genau dieses wünschen zu können. Nicht loszukommen von etwas, was man hasst. Wie kriegen die es bloß mit einer solchen Leichtigkeit hin, zu bekommen, was sie wollen, ja, mehr noch, glücklich zu sein?
Sebastians Hand eben in meinem Gesicht hätte mich schon wieder sterben lassen können, in Gesten ist er wirklich unschlagbar, die hauen rein. Und das, obwohl sie absolutes Klischee sind. Ich meine, so was tun Männer nur in amerikanischen Filmen. In amerikanischen Filmen, die so schlecht sind, dass nur noch ein makellos markantes Gesicht des Schauspielers Abhilfe schaffen kann, das die binär strukturierte Matrix der Geschlechtsidentität so perfekt bestätigt, dass den Evolutionsbräuten endgültig ihre Sicherungen durchbrennen und es Stau im Eileiter gibt. Sonst würden nämlich selbst sie abschalten.
Und trotzdem, diese Gesten und die gemeinsame Zeit, das sind eigentlich die einzigen Gründe, warum ich Sebastian lieben muss. Alles andere an ihm ist im Grunde fad, manchmal fast schnöselig, geradezu amerikanisch potent. Viel zu ungebrochen. Das einzig Gebrochene an ihm bin ich.
Als ich größer wurde, provozierte ich manchmal, dass mein Vater mich schlug, wenn Sebastian bei uns war. Es war in dieser Zeit schon schwieriger für mich, von Sebastian beachtet zu werden, den Schmerz nahm ich gerne dafür hin. Sebastian war dann nicht so hart gegen mich, wie es sich zwischen uns durch die lange Zeit ansonsten eingespielt hatte, als sei ich nur sein bester Kumpel und darüber hinaus gäbe es nichts. Für einen kurzen Moment war es dann anders, Sebastian streichelte mir das Gesicht oder schimpfte meinen Vater ein Schwein. Am liebsten aber sah ich, was sein Mitleid mit seinem Gesicht machte, wie es mich anblickte. Ich wusste, so schaute er sonst nur, wenn er jemanden begehrte und begehren, das ist seine Art zu lieben.
Jennyyy steht noch immer hinter der Gardine und macht nicht auf, Sebastian klingelt schon zum dritten Mal, good girl, you’ll make it. Klar, sie muss sich jetzt erst einmal richtig reinsteigern, anfangen zu heulen, natürlich kriegt sie dabei keine Kaninchenaugen, weint einfach nur große Kullertränen, höchstens die Nase wird etwas rot, aber ganz ohne Rotz, alles von der Evolution vorgeplant, Jennyyy wird nicht selektiert, nein, Jennyyy doch nicht. Im Gegenteil, das ist ihre Stunde, schon fast so gut wie ihre Hochzeit und wenn nicht das, doch alle mal ein Schritt in die richtige Richtung!
Aber ich weiß es ja doch längst. Das ganze Geheimnis dieser Menschen ist, dass sie nicht wissen, wie ferngesteuert sie sind, dass sie nicht checken, was alles abläuft in ihnen und sie dazu bringt, das zu tun, was sie tun: heulen, schreien, lästern, behaupten und allem voran, natürlich – ficken. Wie die Karnickel. Und trotzdem, das ist das Spiel und das Spiel ist der Weg zum Glück.
Einen Moment hab ich noch, dann muss ich raus. Ich mache das Handschuhfach auf, zünde mir eine von Sebastians stinkenden Zigaretten an, heute will ich keine von denen sein, die duften.
Sebastian wird noch kurz das Haus belagern, dann wird er zum Auto schleichen und mich bitten, dass ich mit Jennyyy rede. Ich werde aussteigen und Sebastian mit den Händen in den Hosentaschen stehen lassen. Keiner von beiden wird merken, wie augenscheinlich der ganze Betrug ist, den sie hier veranstalten. Dass mit wenigen Handgriffen dieses Schauspiel hier nicht nötig wäre, und das, obwohl ich es ihnen zeige. Ich werde kurz zum Fenster hochblicken, so lange, dass Jennyyy weiß, dass ich sie gesehen habe. Dann werde ich auf eine der anderen Wohnungsklingeln drücken, um ins Haus zu gelangen, die Stufen hoch in den ersten Stock gehen. Ich brauch nicht mal an ihre Tür klopfen, weil Jennyyy Sebastian ja noch unten stehen sehen kann. So wird sie die Tür gleich aufmachen und ich werde anfangen zu lügen, wie nur ich lügen kann, weil jede verdammte Bratze im Kaff hier weiß, dass ich Sebastian liebe. Dafür braucht es nur einen Blick, in so was sind sie gut, die Evolutionsbräute. Und weil sie wissen, dass ich Sebastian liebe, glauben sie mir alles, denn es gibt keinen Sinn für sie, dass eine, die den gleichen Typ will wie sie, lügt, damit sie zu dem Typ zurückkehren. Nein, das raffen ihre Östrogene nicht mehr, dass für solche wie mich lieben bedeutet, immer und immer wieder zu versuchen; dass es etwas zählt, was man ist, dass man kein anderes Mittel hat als eben genau dieses.
Was ich Jennyyy genau sagen werde, weiß ich noch nicht, mir wird schon das Richtige einfallen, hohl werde ich mich anhören, wie ein Apparat werde ich alibisieren und doch an das genaue Gegenteil denken. Dass ich lüge, wenn ich sage, dass Sebastian sie nicht betrogen hat, was ich in diesem Fall nicht weiß, weil er auch sonst immer alle betrogen hat, denen ich das Gegenteil erzählt habe, sondern weil ich diesmal diejenige war, mit der er sie betrogen hat.
„Leo, ich weiß wirklich nicht mal mehr, mit welcher der vielen Schlampen auf der Party ich es neulich getrieben habe, ich war so breit, bestimmt hab ich nicht mal mehr richtig einen hoch bekommen“, hatte Sebastian zu mir gesagt, als ich vorhin nicht einsteigen und mit hierhin kommen wollte, und mein Körper war ganz weich geworden, er war gar nicht mehr richtig vorhanden gewesen, und Sebastian schob mich ins Auto. Und ob du einen hochgekriegt hast.
Mir war schon vorher klar gewesen, dass es so kommen würde. Wäre er nicht bis zum Anschlag abgefüllt gewesen, Sebastian hätte mich niemals angerührt, Sebastian treibts doch nicht mit seiner „Schwester“, da ist er wie mein Vater.
Sebastian hatte sich die Kante gegeben, weil Jennyyy ihn versetzt hatte, wie sie es ab und an tat, weil das ja auch zum Spiel gehört. Ich hatte es nicht ausgehalten, wie er sich darüber bei mir ausheulte; hatte gesagt, ich müsse aufs Klo und war mit einer Flasche Wodka-Cola in eines der oberen Zimmer gegangen. Es war genug, ich wollte das nicht mehr, die gute Leo würde sich das Phantomias-Kostüm der 2,5 Promille überziehen und sich dann gleich wieder ausziehen lassen, damit irgendein langweiliger Typ sie flachlegte. Dann war der Anfang gemacht, dann ginge es bergauf, dann würde es bald schon weniger wehtun. Schluss mit diesem albernen Aufgespare, für diese Vielleicht-doch-eines-Tages-Quarkscheiße, die es nur schmerzhafter machte, als es sein musste.
Sebastian hatte wohl gesehen, dass ich nicht ins Bad gegangen war, oder es hatte ihm zu lange gedauert. Jedenfalls stand er mit einem Mal in der Tür. „Hey, Leo, was ist, was machst du hier?“
„Lass mich in Ruhe, Jahn“, gab ich zurück und nahm einen Schluck aus der Flasche.
Sebastian sah sich um. „Oh man, das ist ja hier das Schlafzimmer der Eltern. Das wird dem Typen, der hier die Party schmeißt, aber gar nicht gefallen, Leo. Oder meinst du, der ist pervers? Wahrscheinlich stehen wir überall Kameras. Warte das könnte sein, ich kenn den, wie heißt der der noch...“
„Ach, hör doch auf, du kennst den nicht, keiner kennt den, das ist sicher wieder so eine arme Sau, die von irgendeinem, der ihn sonst immer niedermacht, dazu überredet wurde, die Party hier steigen zu lassen, weil seine Eltern verreist sind. Und morgen, wenn er die Kotze im Kunstperser sieht, fängt er an zu flennen und sein Kontostand in Sachen Freunde ist immer noch 0,0.“
„Leo und ihre Sozialstudien, jaja, du wirst sicher mal eine dieser verkorksten Professorinnen an der Uni, die in ihrem vermufften Büro hocken und Kuchendiagramme erstellen. Weißt du eigentlich, Leo, wie prüde du bist? Ich würde sagen...ziiiemlich prüde...ahwäh, ich muss gleich kotzen...“.
„Tortendiagramme, Jahn. Und klar weiß ich das. Leg dich lieber nicht hin, sonst musst du gleich wirklich kotzen und versaust dir dein Hemd, dann wird’s nichts mehr mit Abschleppen von irgend so einer breitarschigen Kuh.“
Sebastian hatte sich vor mich gestellt, sein Gesicht war ganz nah an meinem. „Ich könnte es ja auch dir besorgen, Leo, du würdest mich doch sogar mit vollgekotztem Hemd nehmen.“
„Jedes andere Mal gerne, aber heute hab ich schon dreimal.“
Sebastian hatte mir die Flasche aus der Hand genommen und mich angegrinst, so dass ich seinen linken Eckzahn sehen konnte, der einzige Zahn, der etwas schief geraten war und einem Vampirzahn glich. Dann hatte er weiter von Jennyyy gesprochen und sich weiter betrunken, bis er wirklich nichts mehr mitbekam. Irgendwann versuchte er, mich zu küssen, einprogrammiertes Vorgehen, ich wusste das, aber in dem Augenblick entschied ich mich, dass das hier meins sein sollte. Dass mir reichte, was ich für die Wunde bekam.
Ich schloss die Tür ab und ließ mich von ihm ausziehen, ließ mich auf das Bett werfen, in dem sonst irgendwelche Eltern von irgendeinem armseligen Typen grunzten. Selbst als er mit mir schlief, wusste ich, wie es kommen würde, und doch, so wollte ich es.
Kurz nachdem er fertig war, schlief er ein und lag auf meiner Brust, ich kippte ihn zur Seite, seine Hose hing ihm noch an den Füßen. Für einen kurzen Moment grub ich meinen Kopf in seine Arme und weinte, lieber jetzt als später, dann hast du das auch schon hinter dir, sagte ich mir. Dann schlich ich aus dem Zimmer und machte mich auf den Heimweg. Keiner hatte mich gesehen, irgendwelche Leute hatten ihn später in dem Zimmer gefunden, sich totgelacht, weil er keine Hose anhatte und natürlich (natürlich) war das bis zu Jennyyy vorgedrungen.
Sebastian kommt zum Auto zurück, öffnet die Beifahrertür. „Leo, kannst du....bitte...“
Ich straffe die Schultern, schmeiße die Zigarette nach draußen. „Ja, gut, eine Sekunde noch.“
„Ja klar“, sagt er kleinlaut und geht ein paar Meter vom Wagen weg.
Natürlich kann man sagen, die erste Wunde ist die, die alle andern Schnitte erst ins Fleisch dringen lässt, die alle anderen vorbereitet, die einen müde macht. Und insofern die tiefste. Gäbe es sie nicht, hätten die anderen nicht so leichtes Spiel, würde man sich nicht lächerlich machen, nicht auf alle erdenklichen Arten darum ringen, dass der Schmerz, wenn er denn schon das ist, was alles andere bestimmt, zumindest passgenau immer wieder und wieder diese eine Wunde schürt. Die Natur hat ja Recht: Jemand wie ich, jemand, der seinen Schmerz kultiviert, um ihn in einigen spärlichen Momenten als Glück zu empfinden, der gehört selektiert.
Dann hatte der gute Rod ja von Anfang an Recht. So was gibt es ja, das einer was Dummes meint, aber was Kluges bei rauskommt. Warum nicht auch für Geld. Rod, verzeih mir, ich habs nicht gleich gepeilt.
Ich stülpe meine Hand über die Fliege, steige aus und schüttle sie in die Kälte, schau mich noch einmal zu Sebastian um.
„Hm?“, fragt er.
„Ach nichts“, sage ich und schaue hoch zum Fenster, wo Jennyyy steht und sieht, dass ich gesehen habe, dass sie mich sieht.
Überarbeitete Fassung
The first cut is not the deepest
Durch die an den Rändern noch zugefrorene Frontscheibe sehe ich einen weißen Pudel in den Schnee pissen. Rechts neben uns wartet LKW Walter ebenso wie wir vor der roten Ampel, international logistic steht unter dem Namenszug. Walter international, zum Brüllen. Als hätte der Trucker mein Interesse für sein Gefährt mitgekriegt, grinst er aus seiner Kabine auf eine so anzüglich beschränkte Art zu mir herunter, dass ich nicht sicher bin, ob er es überhaupt mitbekommt. Ich drücke meine Knie aneinander, auch wenn mein Rock selbst im Sitzen bis über die Fußknöchel reicht und lehne den Kopf gegen die Nackenstütze, schließe die Augen. Njüüt-njüt machen die Wischer auf dem Scheibeneis. Njüüt-njüt.
Rod, was singst du dir für einen Scheiß zusammen.
The first cut is not the deepest. Es gibt immer noch einen, der tiefer schneidet, die Wunde weitet, das Messer ganz langsam tiefer treibt, Schnitt für Schnitt für Schnitt für Schnitt für – jaja schon gut, baby, I know.
Ich weiß, wenn ich die Augen wieder öffne, sitzt auf dem Armaturenbrett immer noch diese Fliege. Sie hockt da schon die ganze Fahrt über.
Gleich sind wir da, bei Jenny. Jennyyy, schon dieser Name, wie eine Gutmensch-Forrest-Gump-Figur. Die Fliege ist schon ganz träge, man kann sogar ihre Flügel mit der Fingerspitze streifen und sie fliegt nicht fort, krabbelt nur ein paar Zentimeter weiter. So gut wie tot. Ein, zwei Tage hat sie noch, auch die Letzten werden die Toten sein. Goodbye, good fly.
Jenny ist Sebastians Ex. Er will sie heute zurück und ich soll ihm dabei helfen, darum sitz ich hier mit ihm im Auto, bin wie immer das Anstandswauwauchen, das letzte Ass in seinem Hosenschlitz. „Bitte, Leo, du musst mitkommen und mit ihr reden, keiner außer dir biegt das wieder gerade, nur noch dieses eine Mal. Mit Jenny(yy), das ist echt was Ernstes, das will ich hinkriegen“, hatte Sebastian mich belabert und wie zum Beweis eines dieser samtenen, blauen Verlobungsringkästchen aus seiner Jackentasche gezogen.
Dass er sich nie fragt, warum ich so gut darin bin, ihm all seine Ex-Weiber zurückzuholen. Dass er sich das nie fragt.
Die Ampel springt auf Grün, njüüt-njüt, njüüt-njüt. Ich sehe Sebastians Arme am Lenkrad, die feinen schwarzen Härchen auf seinen Fäusten. Nach ein paar Metern haben wir Pudel Pinkel eingeholt, hinter ihm an der Leine humpelt sein Frauchen auf blauen Pumps durch den Schnee. Bestimmt darf er seinem Dämchen abends auf dem Sofa die Salamischeiben aus dem Mündchen schlecken.
Natürlich bin ich nur so gut darin, weil ich Sebastian liebe. Ich weiß noch, wie er nebenan einzog, wir waren beide noch ziemlich klein. Nur einmal durch unseren Garten, über den Zaun und schon stand ich vor seiner Haustür.
Es war nicht vom ersten Tag an alles entschieden, aber jeder einzelne Tag, den er mit mir war, jede Schramme am Knie, die er belachte, jeden Kaugummi, den wir tauschten, entschied ein wenig mehr, dass ich Sebastian lieben müsste.
Die Flügel meiner wahrscheinlich letzten Fliege für diesen Winter sind von winzigem Aderwerk durchzogen, mit den Vorderbeinen reibt sie sich um den schillernden Kopf, als ziehe sie sich einen Pullover über. Der nützt dir auch nichts. Nicht alles ist Kälte.
Niemand außer Sebastian wird je verstehen, wer ich bin, was mich ausmacht, wie es zum Beispiel war, wenn mein Vater mich schlug, ins Gesicht oder mit der Faust auf den Rücken, denn nur Sebastian ist dabei gewesen. Vor jedem anderen würde sich mein Vater schämen oder lügen, wäre ganz klein, wäre ein ganz anderer und alle meine Erzählungen würden nichts bedeuten. Aber mit Sebastian ist das was anderes. Ich meine, es war nicht so, dass er zu einem von uns wurde, wie ein Bruder oder so, dafür ist mein Vater zu triebhaft, er weiß, welche der Löwenbabys seine eigenen sind. Aber Sebastian war einfach so oft da, dass er gar nicht weiter auffiel, als verschmelze er mit den Möbeln in unserem Hauses.
Und so war es, wenn mein Vater mich schlug und Sebastian dabei zusah, genau so gut, als ob man davon spräche, die Vitrine klirrte Mitleid oder dem Kühlschrank ziehe sich der Magen zusammen. Für mich aber war es nicht das gleiche.
Sebastian hat den Motor abgestellt, wir sind da. „Leo, das hier ist wichtig für mich“, sagt er ganz ernst und fasst mit seiner Hand mein Gesicht, dreht es so, dass ich ihn anblicken muss.
Ich verziehe die Augenbrauen, weiß nichts zu sagen, nicht mal was Sarkastisches oder Albernes fällt mir noch ein. „Danke, dass du mitgekommen bist“, hängt er noch hinten dran. Dann springt er aus dem Wagen, ist schon ganz woanders, mitten im Spiel, klingelt an Jennys Wohnungstür.
Sie macht nicht gleich auf, ist aber zuhause, ich sehe wie sie am Fenster links über der Tür hinter der Gardine steht. Sebastian kann das natürlich nicht sehen, natürlich steht er zu nah an der Hauswand dafür. Jennyyy wird ihre Sache gut machen, das weiß ich. Ich hab sie in den acht Monaten, die das mit Sebastian jetzt läuft, nur wenige Male gesehen, aber dass sie eine von denen ist, die wissen, wie es läuft, wusste ich sofort. Evolutionsbräute nenne ich Sebastians Zielgruppe: breiter Arsch, schmale Taille, immer um ein schönblondes Haar ungebildeter als Sebastian selbst und entweder zickig oder bräsig nah am Wasser gebaut; die debile gute Fee oder der pubertäre Vamp. Jennyyy toppt natürlich alle bisherigen Exemplare, auch was den Arsch angeht, ich setze alle Hoffnungen in sie.
Natürlich verachte ich sie, aber das nützt mir nichts, weil Verachten immer aus einem Schmerz heraus geschieht, etwas zwar immer und immer wieder zu verneinen, aber doch nichts anderes als genau dieses wünschen zu können. Nicht loszukommen von etwas, was man hasst. Wie kriegen diese Tanten es bloß mit einer solchen Leichtigkeit hin zu bekommen, was sie wollen, ja, mehr noch, glücklich zu sein?
Sebastians Hand eben in meinem Gesicht hätte mich schon wieder sterben lassen können, in Gesten ist er wirklich unschlagbar, die hauen rein. Und das, obwohl sie absolutes Klischee sind. Ich meine, so was tun Männer nur in amerikanischen Filmen, wenn der Regisseur einen Schauspieler, dessen Gesicht in Punkto Symmetrie einem gleichseitigem Dreieck ins nichts nachsteht, versucht, die schlechten Dialoge des Drehbuchs durch die Bestätigung der binär strukturierten Matrix der Geschlechtsidentität zu retten. Und trotzdem, diese Gesten und die gemeinsame Zeit, das sind eigentlich die einzigen Gründe, warum ich Sebastian lieben muss. Alles andere an ihm ist im Grunde fad, manchmal fast schnöselig, geradezu amerikanisch potent. Viel zu ungebrochen. Das einzig Gebrochene an ihm bin ich.
Als ich größer wurde, provozierte ich manchmal, dass mein Vater mich schlug, wenn Sebastian bei uns war. Es war in dieser Zeit schon schwieriger für mich, von Sebastian beachtet zu werden, den Schmerz nahm ich gerne dafür hin. Sebastian war dann nicht so hart gegen mich, wie es sich zwischen uns ansonsten eingespielt hatte durch die lange Zeit, als sei ich nur sein bester Kumpel und darüber hinaus gäbe es nichts.
Für einen kurzen Moment war es dann anders, Sebastian streichelte mir das Gesicht oder schimpfte meinen Vater ein Schwein. Am liebsten aber sah ich, was sein Mitleid mit seinem Gesicht machte, wie es mich anblickte. Ich wusste, so schaute er sonst nur, wenn er jemanden begehrte und begehren, das ist seine Art zu lieben.
Jennyyy steht noch immer hinter der Gardine und macht nicht auf, Sebastian klingelt schon zum dritten Mal, good girl, you’ll make it. Klar, sie muss sich jetzt erst einmal richtig reinsteigern, anfangen zu heulen, natürlich kriegt sie keine Kaninchenaugen, weint einfach nur große Kullertränen, höchstens die Nase wird etwas rot, aber ganz ohne Rotz, alles von der Evolution vorgeplant, Jennyyy wird nicht selektiert, nein, Jennyyy doch nicht. Im Gegenteil, das ist ihre Stunde, schon fast so gut wie ihre Hochzeit und wenn nicht das, doch alle mal ein Schritt in die richtige Richtung!
Aber ich weiß es ja doch längst. Das ganze Geheimnis dieser Menschen ist, dass sie nicht wissen, wie ferngesteuert sie sind, dass sie nicht checken, was alles abläuft in ihnen und sie dazu bringt, das zu tun, was sie tun: heulen, schreien, lästern, behaupten und allem voran, natürlich – ficken. Wie die Karnickel. Und trotzdem, das ist das Spiel und das Spiel ist der Weg zum Glück.
Einen Moment hab ich noch, dann muss ich raus. Ich mache das Handschuhfach auf, zünde mir eine von Sebastians stinkenden Zigaretten an, heute will ich keine von denen sein, die duften.
Sebastian wird noch kurz das Haus belagern, dann wird er zum Auto schleichen, geduckt und schüchtern an die Scheibe klopfen und bitten, dass ich mit Jenny rede. Ich werde aussteigen und Sebastian mit den Händen in den Hosentaschen stehen lassen. Sie werden nicht merken, wie augenscheinlich der ganzer Betrug ist, den sie hier veranstalten, werden nicht bemerken, dass mit wenigen Handgriffen dieses Schauspiel hier nicht nötig wäre, und das, obwohl ich es ihnen zeige. Ich werde kurz zum Fenster hochblicken, so lange, dass Jennyyy weiß, dass ich sie gesehen habe. Dann werde ich auf eine der anderen Wohnungsklingeln drücken, um ins Haus zu gelangen, die Stufen hoch in den ersten Stock gehen. Ich brauch nicht mal an ihre Tür klopfen, weil Jennyyy Sebastian ja noch unten stehen sehen kann. So wird sie die Tür gleich aufmachen und ich werde anfangen zu lügen, wie nur ich lügen kann, weil jede verdammte Bratze im Kaff hier weiß, dass ich Sebastian liebe, dafür braucht es nur einen Blick, in so was sind sie gut, die Evolutionsbräute. Und weil sie wissen, dass ich Sebastian liebe, glauben sie mir alles, denn es gibt keinen Sinn für sie, dass eine, die den gleichen Typ will wie sie, lügt, damit sie zu dem Typ zurückkehren. Nein, das raffen ihre Östrogene nicht mehr, dass für solche wie mich lieben bedeutet, immer und immer wieder zu versuchen, dass es etwas zählt, was man ist, dass man kein anderes Mittel hat als eben genau dieses.
Was ich Jennyyy genau sagen werde, weiß ich noch nicht, mir wird schon das richtige einfallen, hohl werde ich mich anhören, wie ein Apparat werde ich alibisieren und doch an das genaue Gegenteil denken. Dass ich lüge, wenn ich sage, dass Sebastian sie nicht betrogen hat, was ich nicht weiß, weil er auch sonst immer alle betrogen hat, denen ich das Gegenteil erzählt habe, sondern weil ich die war, mit der er sie betrogen hat. Dass einzige, was an meinen Beteuerungen Wahres dran sein wird, ist, dass das alles keine Rolle spielt, dass es nicht die geringste Bedeutung hat, nicht die mindeste.
„Leo, ich weiß wirklich nicht mal mehr, mit welcher der vielen Schlampen ich es auf der Party neulich getrieben haben soll, ich war so breit, bestimmt hab ich nicht mal mehr richtig einen hoch bekommen“, hatte Sebastian zu mir gesagt, als ich vorhin nicht einsteigen und mit hierhin kommen wollte und mein Körper war ganz weich geworden, er war gar nicht mehr richtig vorhanden gewesen, und Sebastian schob mich ins Auto. Und ob du einen hochgekriegt hast.
Mir war schon vorher klar gewesen, dass es so kommen würde. Wäre er nicht bis zum Anschlag abgefüllt gewesen, Sebastian hätte mich niemals angerührt, Sebastian treibts doch nicht mit seiner „Schwester“, da gleicht er meinem Vater.
Sebastian hatte sich die Kante gegeben, weil Jennyyy ihn versetzt hatte, wie sie es ab und an manchmal tat, weil das ja auch zum Spiel gehört. Ich hatte es nicht ausgehalten, wie er sich darüber bei mir ausheulte, hatte gesagt, ich müsse kurz aufs Klo und war mit einer Flasche Wodkacola in eines der oberen Zimmer gegangen. Es war genug, ich wollte das nicht mehr, die gute Leo würde sich das Phantomias-Kostüm der 2,5 Promille überziehen und es sich dann gleich wieder ausziehen lassen, damit irgendein langweiliger Typ sie flachlegte. Dann war der Anfang gemacht, dann ginge es bergauf, dann würde es bald schon weniger wehtun. Schluss mit diesem albernen Aufgespare, für diese vielleicht-doch-eines-Tages-Quarkscheiße, das es nur schmerzhafter machte, als es sein musste.
Sebastian hatte wohl gesehen, dass ich nicht ins Bad gegangen war, oder es hatte ihm zu lange gedauert und er war mich suchen gegangen. Jedenfalls stand er auf jeden Fall mit einem Mal in der Tür. „Hey, Leo, was ist, was machst du hier?“
„Lass mich in Ruhe, Jahn“, gab ich zurück und nahm einen Schluck aus der Flascke.
Sebastian sah sich um. „Ey, sind wir hier nicht in dem Schlafzimmer der Eltern des Typen, wie heißt der noch gleich...ich,...kenn den, ...na jedenfalls, von dem, der da hier die Party schm...macht?“
„Ach, hör doch auf, du kennst den nicht, keiner kennt den, das ist sicher wieder so eine arme Sau, die von irgendeinem, der ihn sonst immer niedermacht, dazu überredet wurde, die Party hier steigen zu lassen, weil seine Eltern verreist sind. Und morgen, wenn er die Kotze im Kunstperser sieht, fängt er an zu flennen und sein Kontostand in Sachen Freunde ist immer noch 0,0.“
„Leo und ihre Sozialstudien, jaja, du wirst sicher mal eine dieser verkorksten Professorinnen an der Uni, die in ihrem vermufften Büro hocken und Kuchendiagramme machen. Weißt du eigentlich, Leo, wie prüde du bist? Ich würde sagen...ziiiemlich prüde...ahwäh, ich muss gleich kotzen...glaub ich“.
„Tortendiagramme, Jahn. Tortendiagramme. Und klar weiß ich das.“
„Leg dich lieber nicht hin, sonst musst du gleich wirklich kotzen und versaust dir dein Hemd, dann wird’s nichts mehr mit Abschleppen von irgend so einer breitarschigen Kuh.“
Sebastian hatte sich vor mich gestellt, sein Gesicht war ganz nah an meinem. „Ich könnte es ja auch dir besorgen, Leo, du würdest mich doch auch mit vollgekotztem Hemd nehmen.“
„Jedes andere Mal gerne, aber heute hab ich schon dreimal.“
Sebastian hatte mir die Flasche aus der Hand genommen und mich angegrinst, so dass ich seinen linken Eckzahn sehen konnte, der einzige Zahn, der etwas schief geraten war bei ihm und von der Form her einem Vampirzahn glich. Dann hatte er weiter von Jennyyy gesprochen und sich weiter betrunken, bis er wirklich nichts mehr wusste. Irgendwann versuchte er, mich zu küssen, einprogrammiertes Vorgehen, ich wusste das, aber in dem Augenblick entschied ich mich, dass das hier meins sein sollte, dass ich es hinnehmen wollte, dass mir reichte, was ich für die Wunde bekam.
Ich schloss die Tür ab und ließ mich von ihm ausziehen, ließ mich auf das Bett werfen, in dem sonst irgendwelche Eltern von irgendeinem armseligen Typen grunzten. Selbst als er mit mir schlief, wusste ich, wie es kommen würde, und doch, so wollte ich es.
Kurz nachdem er fertig war, schlief er ein und lag auf meiner Brust, ich kippte ihn zur Seite, seine Hose hing ihm noch an den Füßen. Für einen kurzen Moment grub ich meinen Kopf in seine Arme und weinte, lieber jetzt als später, dann hast du das auch schon hinter dir, sagte ich mir. Dann schlich ich aus dem Zimmer und machte mich auf den Heimweg. Keiner hatte mich gesehen, irgendwelche Leute hatten ihn später in dem Zimmer gefunden, sich totgelacht, weil er keine Hose anhatte und natürlich (natürlich) war das bis zu Jennyyy vorgedrungen. Sebastian konnte sich zwar daran erinnern, dass ich auch erst in diesem Zimmer gewesen war, aber ich sagte ihm, dass ich irgendwann genug von seinem Jennyyy-Gejaule gehabt hätte und gegangen sei, und er brachte es nicht mehr zusammen. Erst war ich noch ängstlich, aber inzwischen bin ich mir sicher, selbst wenn ich alles genau so behauptet hätte, wie es abgelaufen war, hätte er mir nicht geglaubt.
Sebastian klopft ans Seitenfenster, ich kurble die Scheibe runter. „Leo, kannst du....bitte...“
Ich straffe die Schultern, schmeiße die Zigarette nach draußen. „Ja, gut, eine Sekunde noch.“
„Ja klar“, sagt er kleinlaut und geht ein paar Meter vom Wagen weg.
Natürlich kann man sagen, die erste Wunde ist die, die alle andern Schnitte erst ins Fleisch dringen lässt und insofern die tiefste. Aber gut ist es damit ja nicht, es geht ja immer weiter.
Ich stülpe meine Hand über die alte Fliege, steige aus und werfe sie in die Kälte, schau mich noch einmal zu Sebastian um.
„Hm?“, fragt er.
„Ach nichts“, sage ich und schaue hoch zum Fenster, wo Jennyyy steht und sieht, dass ich gesehen habe, dass sie mich sieht.
Erstfassung
The first cut is not the deepest
Durch die halb zugefrorene Frontscheibe sehe ich einen weißen Pudel in den Schnee pissen. Rechts neben uns wartet LKW Walter mit uns vor der roten Ampel, international logistic steht unter dem Namenszug. Walter international, zum Brüllen. Als hätte der Trucker mein Interesse für sein Gefährt mitgekriegt, grinst er aus seiner Kabine auf eine so anzüglich beschränkte Art zu mir herunter, dass ich nicht sicher bin, ob er es überhaupt mitbekommt. Ich lehne den Kopf gegen die Nackenstütze und schließe die Augen. Njüüt-njüt machen die Wischer auf dem Scheibeneis. Njüüt-njüt.
Rod, was singst du dir für ein Scheiß zusammen.
The first cut is not the deepest. Es gibt immer noch einen, der tiefer sticht, die Wunde weitet, ganz langsam treibt das Messer tiefer, Schnitt für Schnitt für Schnitt für Schnitt für – jaja schon gut, baby, I know.
Ich weiß, wenn ich die Augen wieder öffne, sitzt auf dem Armaturenbrett immer noch diese Fliege. Sie hockt da schon den ganzen Weg zu Jenny, regt sich nicht. Jennyyy, schon dieser Name, wie eine Gutmensch-Forrest-Gump-Figur. Die Fliege ist schon ganz träge, man kann sogar ihre Flügel mit der Fingerspitze streifen und sie fliegt nicht fort, krabbelt nur ein paar Zentimeter weiter. So gut wie tot. Ein, zwei Tage hat sie noch, auch die Letzten werden die Toten sein. Goodbye, good fly.
Jenny ist Sebastians Ex. Er will sie heute zurück und ich soll ihm dabei helfen, darum sitz ich hier mit ihm im Auto, bin wie immer das Anstandswauwauchen, das letzte Ass in seinem Hosenschlitz. „Bitte, Leo, du musst mitkommen und mit ihr reden, keiner außer dir biegt das wieder gerade, nur noch dieses eine Mal. Mit Jenny(yy), das ist echt was Ernstes, das will ich hinkriegen“, hatte Sebastian mich belabert und wie zum Beweis eines dieser samtenen, blauen Verlobungsringkästchen aus seiner Jackentasche gezogen.
Dass er sich nie fragt, warum ich so gut darin bin, ihm all seine Ex-Weiber zurückzuholen. Dass er sich das nie fragt.
Die Ampel springt auf Grün, njüüt-njüt, njüüt-njüt. Ich sehe Sebastians Arme am Lenkrad, die feinen schwarzen Härchen auf seinen Fäusten. Nach ein paar Metern haben wir Pudel Pinkel eingeholt, hinter ihm an der Leine humpelt sein Frauchen auf blauen Pumps durch den Schnee. Bestimmt darf er seinem Dämchen abends auf dem Sofa die Salamischeiben aus dem Mündchen schlecken.
Natürlich bin ich nur so gut darin, weil ich Sebastian liebe.
Ich weiß noch, wie Sebastian nebenan einzog, wir waren beide noch sehr klein. Nur einmal durch unseren Garten, über den Zaun und schon stand ich vor seiner Haustür.
Es war nicht vom ersten Tag an alles entschieden, aber jeder einzelne Tag, den er mit mir war, jede Schramme am Knie, die er belachte, jeden Kaugummi, den wir tauschten, entschied ein wenig mehr, dass ich Sebastian lieben müsste.
Die Flügel meiner wahrscheinlich letzten Fliege für diesen Winter sind von winzigem Aderwerk durchzogen, mit den Vorderbeinen reibt sie sich um den schillernden Kopf, als ziehe sie sich einen Pullover über. Der nützt dir auch nichts. Nicht alles ist Kälte.
Niemand außer Sebastian wird je verstehen, wer ich bin, was mich ausmacht, wie es zum Beispiel war, wenn mein Vater mich schlug, ins Gesicht oder mit der Faust auf den Rücken, denn nur Sebastian ist dabei gewesen. Vor jedem anderen würde sich mein Vater schämen oder lügen, wäre ganz klein, wäre ein ganz anderer und alles wäre nur Erzählung und somit nutzlos für mich. Aber mit Sebastian ist das was anderes. Ich meine, es war nicht so, dass er zu einem von uns wurde, wie ein Bruder oder so, dafür ist mein Vater zu triebhaft, er weiß, welche der Löwenbabys seine eigenen sind. Aber Sebastian war einfach so oft da, dass er gar nicht weiter auffiel, als verschmelze er mit den Einrichtungsgegenständen unseres Hauses.
Und so war es, wenn mein Vater mich schlug und Sebastian dabei zusah, genau so gut, als ob man davon spräche, die Vitrine klirrte Mitleid oder dem Kühlschrank ziehe sich der Magen zusammen. Für mich aber war es nicht das gleiche.
Sebastian hat den Motor abgestellt, wir sind da. „Leo, das hier ist wichtig für mich“, sagt er ganz ernst und fasst mit seiner Hand mein Gesicht, dreht es so, dass ich ihn anblicken muss.
Ich verziehe die Augenbrauen, weiß nichts zu sagen, nicht mal was Sarkastisches oder Albernes fällt mir noch ein. „Danke, dass du mitgekommen bist“, hängt er noch hinten dran. Dann springt er aus dem Wagen, ist schon ganz woanders, mitten im Spiel, klingelt an Jennys Wohnungstür.
Sie macht nicht gleich auf, ist aber zuhause, ich sehe wie sie am Fenster links über der Tür hinter der Gardine steht. Sebastian kann das natürlich nicht sehen, natürlich steht er zu nah an der Hauswand dafür. Jennyyy wird ihre Sache gut machen, das weiß ich. Ich hab sie in den acht Monaten, die das mit Sebastian jetzt läuft, nur wenige Male gesehen, aber dass sie eine von denen ist, die es verstehen zu leben, wusste ich sofort. Evolutionsbräute nenne ich Sebastians Zielgruppe: breiter Arsch, aber um so schmalere Taille, immer um ein schönblondes Haar ungebildeter als Sebastian selbst und entweder zickig oder bräsig nah am Wasser gebaut; die debile gute Fee oder der pubertäre Vamp. Jennyyy toppt natürlich alle bisherigen Exemplare, auch was den Arsch angeht, ich setze alle Hoffnungen in sie.
Natürlich verachte ich sie, aber das nützt mir nichts, dadurch weiß ich es auch nicht besser zu machen. Mir ist es schlicht unbegreiflich, mit welcher Leichtigkeit sie es verstehen zu bekommen, was sie wollen, ja, mehr noch, glücklich zu sein.
Seine Hand eben in meinem Gesicht hätte mich schon wieder sterben lassen können, in Gesten ist er wirklich unschlagbar, die hauen rein, ja, diese Gesten und die gemeinsame Zeit, das sind eigentlich die einzigen Gründe, warum ich Sebastian lieben muss. Alles andere an ihm ist im Grunde fad, manchmal fast schnöselig, geradezu amerikanisch potent. Viel zu ungebrochen. Das einzig Gebrochene, was er hat, bin ich.
Als ich größer wurde, provozierte ich manchmal, dass mein Vater mich schlug, wenn Sebastian bei uns war. Es war in dieser Zeit schon schwieriger für mich, von Sebastian beachtet zu werden, den Schmerz nahm ich gerne dafür hin. Sebastian streichelte mir dann hinterher das Gesicht oder schimpfte meinen Vater ein Schwein. Am liebsten aber sah ich, was sein Mitleid mit seinem Gesicht machte, wie es mich anblickte. Ich wusste, so schaute er sonst nur, wenn er jemanden begehrte und begehren, das ist seine Art zu lieben.
Jennyyy steht noch immer hinter der Gardine und macht nicht auf, Sebastian klingelt schon zum dritten Mal, good girl, you’ll make it. Klar, sie muss sich jetzt erst einmal richtig reinsteigern, anfangen zu heulen, natürlich kriegt sie keine Kaninchenaugen, weint einfach nur große Kullertränen, höchstens die Nase wird etwas rot, aber ganz ohne Rotz, alles von der Evolution vorgeplant, Jennyyy wird nicht selektiert, nein, Jennyyy doch nicht. Im Gegenteil, das ist ihre Stunde, schon fast so gut wie ihre Hochzeit und wenn nicht das, doch alle mal ein Schritt in die richtige Richtung!
Das ist ja das ganze Geheimnis dieser Menschen, dass sie nicht wissen, wie ferngesteuert sie sind, dass sie nicht checken, was alles abläuft in ihnen und sie dazu bringt, das zu tun, was sie tun: heulen, schreien, lästern, behaupten und allen voran, natürlich – ficken. Wie der Hamster im Laufrad. Und trotzdem, das ist das Spiel und das Spiel ist der Weg zum Glück.
Einen Moment hab ich noch, dann muss ich raus. Ich mache das Handschuhfach auf, zünde mir eine von Sebastians stinkenden Zigaretten an, heute will ich keine von denen sein, die gut duften.
Sebastian wird noch kurz das Haus belagern, sich einige Minuten auf die Steinstufen setzen, dann wird er zum Auto schleichen, geduckt und schüchtern an die Scheibe klopfen und bitten, dass ich mit Jenny rede. Ich werde aussteigen und Sebastian mit den Händen in den Hosentaschen stehen lassen. Sie werden nicht merken, wie augenscheinlich ihr ganzer Betrug ist, den sie hier veranstalten, werden nicht bemerken, dass mit wenigen Handgriffen dieses ganze Schauspiel hier nicht nötig wäre, und das, obwohl ich es ihnen zeige. Ich werde kurz zum Fenster hochblicken, so lange, dass Jennyyy weiß, dass ich sie gesehen habe. Dann werde ich auf eine der anderen Wohnungsklingeln drücken, um ins Haus zu gelangen, die Stufen hoch in den ersten Stock gehen. Ich brauch nicht mal an ihre Tür klopfen, weil Jennyyy Sebastian ja noch unten stehen sehen kann. So wird sie die Tür gleich aufmachen und ich werde anfangen zu lügen, wie nur ich lügen kann, weil jede verdammte Bratze im Kaff hier weiß, dass ich Sebastian liebe, dafür braucht es nur einen Blick, in so was sind sie gut, die Evolutionsbräute. Und weil sie wissen, dass ich Sebastian liebe, glauben sie mir alles, denn es gibt keinen Sinn für sie, dass eine, die den gleichen Typ will wie sie, lügt, damit sie zu dem Typ zurückkehren. Nein, das raffen ihre Östrogene nicht mehr, dass für solche wie mich lieben bedeutet, immer und immer wieder zu versuchen, dass es etwas zählt, was man ist, dass man kein anderes Mittel hat als eben genau dieses.
Was ich Jennyyy genau sagen werde, weiß ich noch nicht, mir wird schon das richtige einfallen, hohl werde ich mich anhören, wie ein Apparat werde ich alibisieren und doch an das genaue Gegenteil denken. Dass ich lüge, wenn ich sage, dass Sebastian sie nicht betrogen hat, was ich nicht weiß, weil er auch sonst immer alle betrogen hat, denen ich das Gegenteil erzählt habe, sondern weil ich die war, mit der er sie betrogen hat. Dass einzige, was an meinen Beteuerungen Wahres dran sein wird, ist, dass das alles keine Rolle spielt, dass es nicht die geringste Bedeutung hat, nicht die mindeste.
„Leo, ich weiß wirklich nicht mal mehr, mit welcher der vielen Schlampen ich es auf der Party neulich getrieben haben soll, ich war so breit, bestimmt hab ich nicht mal mehr richtig einen hoch bekommen“, hatte Sebastian zu mir gesagt, als ich vorhin nicht einsteigen und mit hierhin kommen wollte und mein Körper war ganz weich geworden, er war gar nicht mehr richtig vorhanden gewesen, und Sebastian schob mich ins Auto. Und ob du einen hochgekriegt hast.
Mir war schon vorher klar gewesen, dass es so kommen würde. Wäre er nicht bis zum Anschlag abgefüllt gewesen, Sebastian hätte mich niemals angerührt, Sebastian treibts doch nicht mit seiner „Schwester“, da gleicht er meinem Vater.
Sebastian hatte sich die Kante gegeben, weil Jennyyy ihn versetzt hatte, wie sie es ab und an manchmal tat, weil das ja auch zum Spiel gehört. Ich hatte es nicht ausgehalten, wie er sich darüber bei mir ausheulte, hatte gesagt, ich müsse kurz aufs Klo und war mit einer Flasche Wodkacola in eines der oberen Zimmer gegangen. Es war genug, ich wollte das nicht mehr, die gute Leo würde sich das Phantomias-Kostüm der 2,5 Promille überziehen und es sich dann gleich wieder ausziehen lassen, damit irgendein langweiliger Typ sie flachlegte. Dann war der Anfang gemacht, dann ginge es bergauf, dann würde es bald schon weniger weh tun. Schluss mit diesem albernen Aufgespare, für diese vielleicht-doch-eines-Tages-Quarkscheiße, das es nur schmerzhafter machte, als es sein musste.
Sebastian hatte wohl gesehen, dass ich nicht ins Bad gegangen war, oder es hatte ihm zu lange gedauert und er war mich suchen gegangen. Wie auch immer stand er auf jeden Fall mit einem Mal in der Tür. „Hey, Leo, was ist, was machst du hier?“
„Lass mich in Ruhe, Jahn“, gab ich zurück und trank aus der Flasche, die ich mit hochgenommen hatte.
Sebastian sah sich um. „Ey, sind wir hier nicht in dem Schlafzimmer der Eltern des Typen, wie heißt der noch gleich...ich,...kenn den, ...na jedenfalls, von dem, der da hier die Party schm...macht?“
„Ach, hör doch auf, du kennst den nicht, keiner kennt den, das ist sicher wieder so eine arme Sau, die von irgendeinem, der ihn sonst immer niedermacht, dazu überredet wurde, die Party hier steigen zu lassen, weil seine Eltern verreist sind. Und morgen, wenn er die Kotze im Kunstperser sieht, fängt er an zu flennen und sein Kontostand in Sachen Freunde ist immer noch 0,0.“
„Leo und ihre Sozialstudien, jaja, du wirst sicher mal eine dieser verkorksten Professorinnen an der Uni, die in ihrem vermufften Büro hocken und Kuchendiagramme machen. Weißt du eigentlich, Leo, wie prüde du bist? Ich würde sagen...ziiiemlich prüde...ahwäh, ich muss gleich kotzen...glaub ich“.
„Tortendiagramme, Jahn. Tortendiagramme. Und klar weiß ich das.
Leg dich lieber nicht hin, sonst musst du gleich wirklich kotzen und versaust dir dein Hemd, dann wird’s nichts mehr mit Abschleppen von irgend so einer breitarschigen Kuh.“
Sebastian hatte sich vor mich gestellt, sein Gesicht war ganz nah an meinem. „Ich könnte es ja auch dir besorgen, Leo, du würdest mich doch auch mit vollgekotztem Hemd nehmen.“
„Jedes andere Mal gerne, aber heute hab ich schon dreimal.“
Sebastian hatte mir die Flasche aus der Hand genommen und mich angegrinst, so dass ich seinen linken Eckzahn sehen konnte, der einzige Zahn, der etwas schief geraten war bei ihm und von der Form her einem Vampirzahn glich. Dann hatte er weiter von Jennyyy gesprochen und sich weiter betrunken, bis er wirklich nichts mehr wusste. Irgendwann versuchte er, mich zu küssen, einprogrammiertes Vorgehen, ich wusste das, aber in dem Augenblick entschied ich mich, dass das hier meins sein sollte, dass ich es hinnehmen wollte, dass mir reichte, was ich für die Wunde bekam.
Ich schloss die Tür ab und ließ mich von ihm ausziehen, ließ mich auf das Bett werfen, in dem sonst irgendwelche Eltern von irgendeinem armseligen Typen grunzten. Selbst als er mit mir schlief, wusste ich, wie es kommen würde, und doch, so wollte ich es.
Kurz nachdem er fertig war, schlief er ein und lag auf meiner Brust, ich kippte ihn zur Seite, seine Hosen hing ihm noch an den Füßen. Für einen kurzen Moment grub ich meinen Kopf in seine Arme und weinte, lieber jetzt als später, dann hast du das auch schon hinter dir, sagte ich mir. Dann schlich ich aus dem Zimmer und fuhr nachhause. Keiner hatte mich gesehen, irgendwelche Leute hatten ihn später in dem Zimmer gefunden, sich totgelacht, weil er keine Hose anhatte und natürlich (natürlich) war das bis zu Jennyyy vorgedrungen. Sebastian selber konnte sich zwar daran erinnern, dass ich auch erst in diesem Zimmer gewesen war, aber ich sagte ihm, dass ich irgendwann genug von seinem Jennyyy-Gejaule gehabt hätte und gegangen sei, und er brachte es nicht mehr zusammen. Erst war ich noch ängstlich, aber inzwischen bin ich mir sicher, selbst wenn ich alles genau so behauptet hätte, wie es abgelaufen war, hätte er mir nicht geglaubt, es hätte nicht in seinen Schädel gepasst.
Sebastian klopft ans Seitenfenster, ich kurble die Scheibe runter. „Leo, kannst du....bitte...“
Ich straffe die Schultern, schmeiße die Zigarette nach draußen. „Ja, gut, eine Sekunde noch.“
„Ja klar“, sagt er kleinlaut und geht ein paar Meter vom Wagen weg.
The first cut is the deepest, jajaja. Ich meine, natürlich kann man sagen, die erste Wunde ist die, die alle andern Schnitte erst ins Fleisch dringen lässt und insofern, als sie alle folgenden bedingt, die tiefste. Aber gut ist es damit ja nicht, es geht ja immer weiter. Wichtiger wäre es für mich jetzt wohl, mir einen Kalender anzuschaffen, in den ich eintrage, wann ich vorhabe mit wem zu ficken bzw. mit wem nicht, um ihn später oder einen andern zu ficken.
Ich stülpe meine Hand über die alte Fliege, steige aus und werfe sie in die Kälte. „So geht’s schneller.“
„Hm?“, fragt Sebastian abwesend.
„Ach nichts“, sage ich und schaue hoch zum Fenster, wo Jennyyy steht und sieht, dass ich gesehen habe, dass sie mich sieht.
gerne wie immer alles um die Ohren hauen
