Friederich und der Engel
Verfasst: 29.12.2006, 16:39
So...
Wer "Warum Karl kein Buch schrieb" gemocht hat, wird das hier vermutlich auch schätzen; ansonsten habe ich versucht, einige der dortigen Kritikpunkte (die übrigens zu Überarbeitungen Anlass gegeben haben, die ich nur nicht gepostet habe, weil das wohl zu lang geworden wäre) zu berücksichtigen, die Sätze sind im Durchschnitt kürzer, der ganze Text auch. Das Ende kommt mir noch etwas überhastet vor (der Text wurde gerade rechtzeitig zur Bescherung fertig
), hier wäre ich für Ideen besonders dankbar. Ansonsten viel Spass!
Grüsse
Merlin
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Friederich und der Engel
Soweit sich Friederich erinnern konnte, war es um die Wende zu seinem achten Lebensjahr gewesen, als er den Engel erstmalig erkannt hatte; was durchaus nicht heißen soll, daß er ihn vorher nicht gesehen hätte. Unbeweglich stand er auf einer Säule am Kopf des leicht abschüssigen Markplatzes, den Kopf leicht zum Boden geneigt, die Flügel, die der Länge nach gute zwei Meter messen mochten, zu den Seiten hin gespreizt, die eine Hand nach dem Gewimmel auf dem Plan ausgestreckt, die andere, die ein Schwert umfasste, gen Himmel gerichtet. Um die Säule herum lungerte meist ein Häuflein Trunkenbolde, Gescheiterte, die von der stets aufmerksamen Ordnungsmacht geduldet wurden, solange sie sich abseits hielten und niemanden belästigten. Zu übersehen war dieses Monument auch für jemanden wie Friederich, der recht verträumt zu gehen pflegte und von vielen Strassen nicht mehr als das Pflaster kannte, so wenig wie die verwinkelte Miniaturstadt aus Marktständen zu seinen Füssen, hinter denen eifrige Krämer unablässig wogen und zählten, oder der Pranger, der, freilich nur ein Abguss des Originals, das längst im Museum verstaubte, etwas abseits der Stände die Verderbtheit seiner lang vergangenen Epoche dem Spott jener Vorbeigehenden preisgab, die es gerade nötig hatten, sich über fremde Verderbtheiten zu echauffieren. Das besondere Erkennen an jenem unverdächtig sonnig-sorgenfreien Maitag hatte vielmehr darin gelegen, daß der Engel an diesem Tag zurückgeschaut hatte.
Friederich war durch eine schmale Gasse auf den Markt gekommen und hatte von einem der Stände im Vorübergehen einen Apfel stibitzt. Dabei sah er durchaus keinen Anlass, sich nun etwa dem Händler gegenüber in der Schuld zu sehen, hatte er doch schon oft gehört, wie jener seinerseits die Waren knapp und die Preise großzügig zu bemessen pflegte, so daß Friederich gewiss nicht mehr genommen als in der Zeit zuvor zuviel bezahlt hatte. Auch drohte ihm, überlegte er, als er den Pranger passierte, keinerlei Unbill von Seiten seiner Eltern, war er sich doch sicher, unbemerkt geblieben zu sein. So ist es nur gerecht, dachte er und biss vergnügt ein großes Stück aus seiner Beute, als er den Kopf hob, um in die warme Frühlingssonne zu blinzeln und dabei dem steinernen Antlitz des Engels begegnete. Aus zehn Metern Höhe sah ihn die Steinfigur aus leeren grauen Augen an. Ein unbestimmtes Unbehagen kam in ihm auf, das er hastig zu verscheuchen versuchte.
„Es ist nur gerecht.“ dachte er trotzig „Der alte Gauner kann sich glücklich schätzen...“
Der Engel schwieg. Sein starrer Blick legte ein eisiges Schweigen in seine Gedanken.
„Überhaupt! Was ist denn schon ein Apfel! Wenn man sich über eine solche Kleinigkeit erregen wollte...“
Der Engel starrte ihn an. Hart, grau, kalt. Kein Laut. Keine Regung. Friederich stand wie versteinert. Eine unheimliche Beklemmung durchwucherte und umwolkte ihn, lähmte sein Denken, ließ seine Knie weich werden und bahnte einem Gefühl der Nacktheit und Verlorenheit den Weg, vor dem er instinktiv das Weite suchte.
„Lächerlicher Graurock, Rattenheim, Taubenhohn! Einen schönen, saftigen Apfel halte ich hier, siehst du wohl? Wohl bekomm´s!“
Damit wandte er den Kopf ab und sperrte den Mund auf, als wollte er die ganze Frucht auf einen Schlag verschlingen. Die grauen Augen ließen von ihm ab. Doch er tat keinen Bissen mehr.
Von diesem Tag an sah er den Engel mit anderen Augen; wo vormals ein in den Markt verbautes Stück Granit gestanden hatte, da warf nun eine finstere Lichtgestalt lange Schatten über die Stadt, ein Arm von Düsternis, der mit der sich senkenden Sonne noch in die letzten Winkel reichte; ein ehrfurchtgebietendes Wesen thronte dort auf seiner Säule, vor dem die Leute die Köpfe neigten und die Augen niederschlugen. Keine Untat des jungen und jugendlichen Friederich war vor der unausgesprochenen, sprachlosen, und eben darum gegen jeden Einspruch immunen Mißbilligung der grauen Augen sicher. Ob er im Begriff war, sich auf dem Schulweg eine Verspätung zuschulden kommen zu lassen, im Zorn einen Ausspruch tat, den er bei klaren Sinnen vermieden hätte, im Hause seines Onkels eine von dessen heißgeliebten Vasen ohne böse Absicht, aber aus Mangel an Umsicht zerstörte oder in vorgerückten Jugendjahren angesichts weiblicher Reize unkeusche Gedanken pflegte – bis in die letzten Winkel seines Denkens folgte ihm das Auge nach, und dem Engel war es gleichviel, ob er aus Bosheit, Eigensucht, Nachlässigkeit oder Faulheit fehlte; er kehrte sich nicht an dem Zwiespalt zwischen Verursachung und Verantwortung, keine Häufung von noch so unglücklichen Umständen machte seine Miene milder.
So sollte es von jener ersten Begegnung an viele Jahre dauern, bis die Dinge eine neue Wendung nahmen. Es hatte nämlich an jenem Abend eine Feier stattgefunden, zu der man Friederich als Gast geladen hatte, und hier hatte es dieser wider die elterliche Weisung und eigene Einsicht seinen Freunden gleichgetan und dem dort vorrätigen Wein bis zur Berauschung zugesprochen. Wie er nun zu deutlich vorgerückter Stunde über den Markplatz ging – diesem war auf dem Heimweg nicht auszuweichen – war ihm vor dem unheimlichen Flügelwesen derart bange, daß er den Blick nicht vom Boden aufzuheben wagte; da er aber nun auch nicht mehr in der Lage war, die gewählte Richtung zu halten, dauerte es nicht lange, bis er stolperte und fiel. Die Überraschung und der Schmerz liessen ihn, als er sich erhob, in der Wahl seiner Blickrichtung unvorsichtig werden: er kniete gerade, die Hände auf den Boden gestützt, als er beiläufig den Kopf hob und die Spitze der Säule einen Moment lang in seine Sicht geriet.
Augenblicklich durchzuckte ein Schreck seinen Körper und hieß seine Glieder still stehen. Denn der dort stand und grauslich grimassierte, war ohne Flügel und Schwert. Stattdessen hielt er einen Apfel in der linken Hand und mit der rechten deutete er streng auf Friederich: in der Gestalt erkannte er niemand anders als seinen eigenen Vater. „Na warte, Bursche, dir werde ich es zeigen.“ rief er donnernd und gebärdete sich, als wolle er im nächsten Augenblick von seinem Sockel springen. In dem Moment aber tat es einen gewaltigen Schlag. Von der Spitze der Säule leckte eine Flammensäule in den schwarzen Himmel, züngelte und reckte sich nach allen Richtungen, waberte und wogte, doch was sie tat, erschreckte Friederich bei weitem nicht so sehr wie das, was sie nicht tat: sie warf kein Licht. Weder war es im Umfeld der Erscheinung merklich heller, noch zeichnete sich auf den umstehenden Häusern oder den dichten Wolken die kleinste Spur eines Widerscheines ab; umso befremdlicher schien es ihm, daß sie ihn beinahe bis zur Blindheit blendete. Dennoch brachte er es nicht fertig, die Augen abzuwenden oder auch nur zu schließen. Als schwarze Flecken in seiner Welt zu tanzen begannen und er sein Augenlicht bereits verloren glaubte, erlosch der unheimliche Brand mit einem Mal; und wie Friederich nun wieder hinsehen konnte, fand er die Säule leer. Erst nach einer ganzen Weile ungläubigen Anstarrens gewahrte er die Silhouette des Engels: doch sie war so zum Erbarmen klein, daß sie ganz alleine in der Höhe einsam und verloren wirkte. Friederich bereitete dieser Anblick ein schadenfrohes Vergnügen, das im nächsten Moment in grimmige Tatenlust umschlug: er würde ihn von seinem Sockel stoßen, diesen Gernegroß, der sich darauf verstehen mochte, imposant zu wirken und allerlei Budenzauber darzubieten, nun aber, da er ohne den Schutz der vielen ganz alleine vor ihm stand, seine wahre, kniehohe Winzigkeit offenbarte.
Von jäher Zerstörungslust befallen, begann Friederich, die Säule zu erklimmen, kam trotz seines Zustandes vorwärts, was ihn zusätzlich beflügelte, fand Halt an Ornamenten, setzte den Fuß in die verwitterten Reste eingelassener Schriftzeichen und zog sich empor. Bald streckte er die Hand nach dem Rand der Säule aus; gleich würde er vor ihm stehen, vor diesem Flügelzwerg, dieser Fledermaus; und um die Vorfreude zu steigern, malte er sich aus, wie er ihn von der Säule schob, wie er kippte, stürzte und am Boden in tausend Splitter zersprang. Mit einem einzigen Ruck zog er sich hoch, lugte über den Rand, sah einen Fuss, ein Bein, einen Körper, dann ein Gesicht hoch wie der Himmel, das ihn mit stummen grauen Steinaugen ansah. Fassungslos prallte er zurück und fiel rücklings in die Tiefe.
„Nun aber hoch mit Ihnen. Sie behindern meine Arbeit, überdies ist die Hecke, wie sie vermutlich bald bemerken werden, aufgrund zahlreicher Stacheln als Schlafplatz denkbar ungeeignet.“ Als Friederich dies hörte und die Augen aufschlug, erblickte er einen Mann, dessen Uniform ihn als einen der zahlreichen Stadtführer auswies. Tatsächlich stand ein knappes Dutzend Menschen mit Kameras um ihn herum, die ihn neugierig beäugten. Er selbst lag ein Stück weit eingesunken auf dem Rücken in der besagten Hecke und spürte nun auch, wie die erwähnten Stacheln sich allmählich bemerkbar machten.
Friederich verspürte einen starken Drang, das Unbegreifliche der letzten Nacht zum handlichen Format des Klatsches zu zerreiben, ferner war auch der Rausch noch nicht verflogen und beflügelte seine Beredheit, so daß er ohne Rücksicht auf den Eindruck, den solche Einlassungen hinterlassen konnten, auf den Uniformierten einzureden begann, ihm den Ursprung seiner Lage auseinandersetzte und von hier aus in eine Anzahl von Fragen überging, wie es möglich sei, daß so ein Stein auf einmal Feuer fange, seine Gestalt und Größe wandle und zu sprechen beginne.
Der Befragte stutzte einen Augenblick, ehe er antwortete. „Hierüber kann ich Ihnen derzeit leider keine Auskunft geben; selbstverständlich freuen wir von der Stadt uns aber über Ihr Interesse. Die Informationstafel wird derzeit restauriert. Inzwischen empfehle ich das Stadtarchiv, wenn Sie mehr erfahren möchten.
Sie finden es im Keller der Stadtbibliothek. Wenn ich Sie nun bitten darf, sich zu entfernen...“ Und Friederich, der es gewohnt war, den Weisungen der Amtlichen zu folgen, gehorchte.
Viele Stunden darauf, als der letzte Rest von alkoholischer Betörung verflogen war, befand sich Friederich noch immer im Zustand so tiefer Verwirrung über das Erlebte, daß er dem Rat des Uniformierten gemäß in der Bibliothek Aufschluß zu suchen beschloß. Als er jedoch durch die Eingangstür getreten war und sich nun als augenscheinlich zur Zeit einziger Besucher einer Front von Schreibtischen gegenüber sah, hinter denen korrekt gekleidete Herren ihre Arbeit unterbrachen und zu ihm herübersahen, fiel ihm, da er doch schlechterdings nicht einen von diesen mit den Einzelheiten seiner mitternächtlichen Wachträume belästigen konnte, nicht recht ein, was er tun sollte; und er hatte sich schon halb zum Gehen gewandt, als ihm aus einem dunklen Winkel jemand entgegenkam, den er aus der Nähe als den Stadtführer vom Mittag erkannte. „Es ist gut, daß sie tatsächlich gekommen sind. Dieser Tage gibt es unglücklicherweise weit mehr geheucheltes als wirkliches Interesse, wovon ihnen die Zahl unserer Besucher einen Eindruck verschaffen mag; sie wollten etwas über den Engel wissen, wenn ich mich recht entsinne?“ Und ohne die Antwort abzuwarten, setzte er hinzu „Gut denn, kommen Sie mit.“
Friederich folgte dem Mann über eine Treppe, die in unregelmäßigen Windungen nach unten führte; dann und wann kamen sie an Türen vorbei, von denen die meisten geschlossen waren, andere aber einen Blick auf von unangenehm hellem Neonlicht beleuchtete Korridore freigaben; in einem von diesen sah er jemanden in einer altmodischen Portieruniform den Gang entlangeilen, dem ein junger, seltsamerweise über und über von Schnee bedeckter Mann auf dem Fuß folgte; aber ehe er sich über diese Merkwürdigkeit weitere Gedanken machen konnte, trat sein Führer durch eine schwere, eherne Tür, die die Aufschrift „Galerie“ trug. Dann begann er, den dahinterliegenden Gang, dessen Wände tatsächlich lückenlos mit Bildern behängt zu sein schienen, zu durchschreiten, wobei er sein Tempo aber derart steigerte, daß Friederich im Vorbeihasten kaum mehr als flüchtige Umrisse erkennen konnte. Gerade als er den Mut gefasst hatte, den Uniformierten deswegen anzusprechen, erhob dieser von selbst seine Stimme.
„Dieser Gang“, sagte er mit einem Ton, der nichts von der Atemlosigkeit erkennen ließ, in die Friederich inzwischen verfallen war, „ist nicht weniger als die gesamte Geschichte unserer Stadt; was immer in ihrem Verlauf geschehen ist, wurde schon in der Frühzeit abgebildet und hier unten aufbewahrt; Sie können sich einen Eindruck von der Fülle dessen machen, was hier unten lagert, wenn ich Ihnen erzähle, daß es mir in nun schon fünfzehnjähriger Dienstzeit nicht gelungen ist, ihn so weit zu gehen, daß ein Ende – oder vielmehr ein Anfang, denn wie Ihnen nicht entgangen sein wird, zeigt, was hier hängt, die Gegenwart und jüngere Vergangenheit, auch nur in Sicht gekommen wäre. In Wahrheit ist er sogar derart lang, daß an eine solche Unternehmung garnicht zu denken ist; immer wieder geschieht es, daß jemand es dennoch versucht. Zumeist verschellen diese Übereifrigen dort, wo gemeinhin die beginnende Mitte des Ganges vermutet wird; wir erhalten von ihnen keine Kunde mehr, außer dadurch, daß ein anderer mit mehr Glück uns ihre Überreste bringt. Bisweilen gibt es aber auch Berichte, daß sich in den hinteren Teilen kleine Gruppen von Kundschaftern häuslich eingerichtet haben, ja, dort schon seit Generationen leben; diese geben, wenn man den Berichten der Zurückgekehrten glauben darf, die Ergebnisse ihrer Erkundungen von Gruppe zu Gruppe weiter, bis sie uns erreichen. Die Gruppen in den hinteren Bereichen leben leider in einer solchen Abgeschiedenheit, daß schon die nächste meist große Mühe hat, ihre Ausführungen überhaupt zu verstehen; und je mehr solcher Stationen ein Bericht passieren muß, ehe er uns erreicht, desto größer wird die Anhäufung von Mißverständnissen, Umdeutungen, schließlich sogar bewußten Verfälschungen darin; denn wer wird seine Familienehre in den Schmutz ziehen wollen, indem er die Kunde von einem Bild, darauf sein Urahn am Pranger steht, unverändert durchreicht? Auch ist zu vermuten, daß nur wenige die Unbill der Einsamkeit auf Dauer ertragen können, ohne Schaden an der Seele zu nehmen.
So kommt aus den hinteren Bereichen wenig Verständliches, und nichts Verlässliches. Freilich kann es ohnehin nur solchen gelingen, die bereit sind, ihr ganzes Leben daran zu setzen, auch nur die erste dieser Versammlungen zu erreichen, so daß wir schon von dieser nur aus Erzählungen wissen. Möglich, daß es sich um Hirngespinste handelt und die hinteren Bereiche menschenleer sind.
Was nun den Engel angeht, so ist es noch niemandem gelungen, dem Gang bis zur Zeit seiner Entstehung zu folgen; es wird vermutet, daß er schon seit der Gründungszeit der Stadt an seinem Platz steht. Was jedoch bei eingehender Betrachtung der älteren Bilder ins Auge fällt, ist, daß er sich mit dem Fortbau der Stadt stetig und ohne daß ein Urheber dafür auszumachen wäre, vergrößert und ausgeformt hat; so berichten Wagemutige, die noch halbe Kinder waren, als sie in den Gang zogen, und Greise, als sie wiederkehrten, von Darstellungen der Figur ohne Flügel, ja sogar ohne Schwert! Letzteres scheint zeitgleich mit dem Bau des Rathauses, ersteres mit dem der Kirche hinzugekommen zu sein. Jedenfalls zeigen die ältesten Werke, von denen wir freilich nur aus überlieferten Berichten Einzelner Kenntnis haben, die auf dem Weg überdies etwas wunderlich geworden sind, eine menschliche Gestalt ohne Sockel, stellen Sie sich das vor – auf der planen Erde! Das hervorstechendste Merkmal freilich sind, da werden Sie mir beipflichten, seine Augen; von denen heißt es, nur Berauschte, Verrückte und Erwählte könnten ihnen widerstehen. Was diese angeht...“
Er stockte, als ein penetrantes mechanisches Schnarren erschallte und entlang des Korridors rote Lichter zu blinken begannen.
„Oh, das ist freilich ungünstig. Verzeihen Sie, aber wir müssen zurück. Umgehend.“ Damit machte er kehrt, eilte, von Friederich gefolgt, den Gang entlang, die Treppen wieder hinauf zurück in den Hauptraum, der aber einen stark veränderten Eindruck bot.
Inzwischen war nämlich eine Anzahl anderer Besucher eingetroffen, die an vereinzelt stehenden Arbeitstischen vor aufgeschlagenen Büchern saßen und ärgerlich oder verwirrt um sich blickten. Allenthalben gingen, in lautstarke Unterhaltungen vertieft, alte bärtige Herren in grauen Anzügen umher; sie waren schon so zahlreich, daß den anderen nichts übrigblieb, als auf ihren Plätzen zu verharren, denn bei diesem Gedränge mußte es ganz und gar unmöglich sein, noch eine vorgeplante Richtung einzuhalten. Und durch die Eingangstüren kamen immer mehr.
„Aber es kann ja keiner sich mehr auf sein Buch besinnen!“ rief Friederich aus. „Warum mahnt sie denn keiner zur Ruhe?“
„Unmöglich.“, flüsterte der Uniformierte in ehrfurchtsvollem Ton. „Das ist eine Expertenkommission. Im übrigen ist es Zeit. Sie werden sicher müde sein; auch ist an eine Fortsetzung Ihrer Recherchen nicht zu denken, solange die Kommission noch hier ist; tatsächlich wird es bei diesem Ansturm bald schon ganz und gar unmöglich sein, die Bibliothek zu verlassen; die eine Möglichkeit, die jetzt noch offensteht, ist diese.“
Damit öffnete er die Tür zu einem Raum, dessen Inneres von einem mächtigen roten Samtvorhang verborgen war. „Der Ausgang ist am anderen Ende des Raumes. Gehen Sie nur hinein.“ Friederich beeilte sich, dieser Einladung zu folgen. Als er den Vorhang beiseite geschoben hatte, war der Anblick so unerwartet, daß er verdutzt innehielt. Das Innere des Raumes war von einem angenehm roten Lichtschein erfüllt, dessen Intensität knapp vor der Grenze der Aufdringlichkeit zurückblieb. Inmitten des Lichtes aber, das Gesicht zu ihm gewandt, stand eine junge Frau von zarter Gestalt, bloß bis auf einen Lendenschurz aus Perlenschnüren, die Friederich aus großen, schwarzen Augen einen Blick zuwarf, den dieser mit sprachloser Benommenheit erwiderte.
Bis er verstand. Der Lump hatte ihn in ein Freudenhaus geführt! Ein steinernes Auge stach in seinen Nacken und sandte Schübe eisiger Kälte durch seinen Leib. Friederich stieß einen entsetzten Schrei aus, wirbelte herum und rannte los, querte in blinder Hatz den Raum, der rettenden Tür zu, die sich einen grauenvollen Augenblick lang seinen Versuchen, sie zu öffnen, widersetzte, dann aber aufschwang und ihn ins Freie taumeln ließ, wohl wissend, daß er schon verloren hatte; zu lange hatte er gezögert, zu lange sich dem Anblick der Versuchung ausgesetzt. Schon spürte er das strafende Gesicht von allen Seiten; liess die Schultern hängen; senkte demutsvoll den Kopf, da ging ihm ein Licht auf und – er hob ihn wieder. War der Geflügelte mit den Geschicken seiner Stadt derart verwoben, wie es den Anschein hatte nach den Erzählungen des Uniformierten, denen trotz dessen zweifelhafter Natur doch vermöge der Autorität der vorgeführten Bilder einiges Gewicht zu kam , so mußte er sich nicht länger ängstlich bücken und den Rest seines Lebens unter der Knute dieses absichtslos Gewachsenen verbringen. Nichts mußte er, und zur Vermeidung dieses Unglücks bedurfte es nur des einfachen Vorsatzes, von dem Ungeheuer fern zu bleiben. Mit einem Ruck riss er sich aus der Gewohnheit heraus, die ihn nach links hin vor das Gesicht führen wollte, und marschierte stattdessen nach rechts, die Strasse hinauf. Zu Beginn war diese breit und mit glattem Asphalt versiegelt; je weiter sie aber anstieg, desto mehr Sprünge und Risse zeigten sich in ihrem Pflaster, desto spärlicher wurde ihr zivilisatorischer Saum aus Häusern und desto zahlreicher die Bäume. Nach einigen Stunden lief Friederich über nackte, schlammige Erde. Häuser gab es nun keine mehr, nur hie und da zeigten hölzerne Verschläge und rostende Zäune die zeitweilige Gegenwart anderer Menschen an. Als er nach oben sah, wo die Baumkronen die Sicht auf ein Stück Himmel freigaben, bemerkte er, daß die Sonne den hohen Mittag anzeigte und damit auch, was für ein großes Stück Weg er schon zwischen sich und den Grauen gebracht haben mußte. Er lächelte. Bald würde die ganze Stadt so weit hinter, so weit unter ihm liegen, daß ihm ihre Schrecknisse nur noch als Schatten gegenwärtig waren.
Allmählich wurde der Wald dichter und unwegsamer, doch ohne dabei sein Fortkommen im mindesten zu hindern; keine Ranke zupfte an seinen Kleidern, keine Wurzel langte nach seinem Fuss, während er frohgemut weiter bergauf wanderte. Wie er aber schon meinte, in dieser Wildnis sei kein Mensch mehr anzutreffen außer ihm, da hörte er Stimmen und erspähte durch das Geäst zwei Kinder auf einer Lichtung. Friederich hielt ob dieses unerwarteten Anblicks einen Moment inne und schaute sie an; sie waren offenbar verschiedenen Geschlechtes und hatten, soweit sich Friederich auf solche Schätzungen verstand, das achte Lebensjahr noch vor sich; beide schienen sehr versunken zu sein in ein Spiel, welches daraus bestand, sich eine himmelblaue Scheibe zuzuwerfen; dies unterbrachen sie jedoch im gleichen Moment, da Friederich auf die Lichtung trat; sie verstummten, liessen die Scheibe, der doch eben noch ihre ganze Aufmerksamkeit gegolten hatte, achtlos zu Boden fallen und wandten sich zu ihm um. Friederich, der den Kindern keinen Anlass zur Furcht geben wollte, vermied es, sie seiner Neugier entsprechend anzusehen; dennoch schien es ihm, als ruhten ihre Blicke während des ganzen Wegs zu ihnen herauf auf ihm. Er passierte die beiden, bemerkte im Vorübergehen, daß der Junge schwarzes, das Mädchen aber schulterlanges, goldblondes Haar hatte und wunderte sich über ihre ganz unkindliche Reglosigkeit. Dann erreichte er den Rand der Lichtung, wo die Bäume wieder hoch und dicht standen. Er tat einen Schritt in das Dickicht hinein, da hörte er die helle Stimme des Mädchens hinter sich.
„Den kenn´ ich.“, sagte sie im Plauderton zu ihrem Spielgefährten. „Den hab ich gemacht, als ich noch klein war.“ Dann hob sie die Scheibe auf und warf sie ihm zu.
Friederich, den diese überraschende Verlautbarung in der Wahl seines Weges hatte unaufmerksam werden lassen, trat unglücklich auf eine Wurzel, glitt auf dem moosigen Holz aus und war für ein paar Schritte ohne Gleichgewicht; nur wenige Momente, da der Versuch, es wiederzuerlangen, einen lenkt, genügen aber in solchen Gegenden, wo die Wege schmal und die Abhänge zahlreich sind, leicht, um dem unbedachten Wanderer die Mühen des Aufstiegs zunichte zu machen: und so fand sich Friederich bald in rasender Fahrt talwärts rutschend, auf Blättern und Geröll, rufend, zappelnd, haltlos um sich greifend, bis ihm durch die Gnade eines starken Astes die Sinne schwanden.
Als sie ihm wiederkamen, spürte er kalten, glatten Stein unter sich. Er öffnete die Augen, doch er gewahrte nichts als Finsternis. In seinem Kopf rumorte es, als dresche jemand darauf ein wie auf einen störrischen Esel.
Mühsam rappelte er sich hoch und sah sich um. Die Wolkendecke riss auf; das fahle Licht des Mond entbarg hoch über ihm die schattenhaften Umrisse eines geflügelten Riesen auf einer stämmigen Säule. Das Entsetzen fällte ihn wie einen Grashalm. Er sackte zu Boden und blieb dort ohne Regung liegen.
Wer "Warum Karl kein Buch schrieb" gemocht hat, wird das hier vermutlich auch schätzen; ansonsten habe ich versucht, einige der dortigen Kritikpunkte (die übrigens zu Überarbeitungen Anlass gegeben haben, die ich nur nicht gepostet habe, weil das wohl zu lang geworden wäre) zu berücksichtigen, die Sätze sind im Durchschnitt kürzer, der ganze Text auch. Das Ende kommt mir noch etwas überhastet vor (der Text wurde gerade rechtzeitig zur Bescherung fertig

Grüsse
Merlin
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Friederich und der Engel
Soweit sich Friederich erinnern konnte, war es um die Wende zu seinem achten Lebensjahr gewesen, als er den Engel erstmalig erkannt hatte; was durchaus nicht heißen soll, daß er ihn vorher nicht gesehen hätte. Unbeweglich stand er auf einer Säule am Kopf des leicht abschüssigen Markplatzes, den Kopf leicht zum Boden geneigt, die Flügel, die der Länge nach gute zwei Meter messen mochten, zu den Seiten hin gespreizt, die eine Hand nach dem Gewimmel auf dem Plan ausgestreckt, die andere, die ein Schwert umfasste, gen Himmel gerichtet. Um die Säule herum lungerte meist ein Häuflein Trunkenbolde, Gescheiterte, die von der stets aufmerksamen Ordnungsmacht geduldet wurden, solange sie sich abseits hielten und niemanden belästigten. Zu übersehen war dieses Monument auch für jemanden wie Friederich, der recht verträumt zu gehen pflegte und von vielen Strassen nicht mehr als das Pflaster kannte, so wenig wie die verwinkelte Miniaturstadt aus Marktständen zu seinen Füssen, hinter denen eifrige Krämer unablässig wogen und zählten, oder der Pranger, der, freilich nur ein Abguss des Originals, das längst im Museum verstaubte, etwas abseits der Stände die Verderbtheit seiner lang vergangenen Epoche dem Spott jener Vorbeigehenden preisgab, die es gerade nötig hatten, sich über fremde Verderbtheiten zu echauffieren. Das besondere Erkennen an jenem unverdächtig sonnig-sorgenfreien Maitag hatte vielmehr darin gelegen, daß der Engel an diesem Tag zurückgeschaut hatte.
Friederich war durch eine schmale Gasse auf den Markt gekommen und hatte von einem der Stände im Vorübergehen einen Apfel stibitzt. Dabei sah er durchaus keinen Anlass, sich nun etwa dem Händler gegenüber in der Schuld zu sehen, hatte er doch schon oft gehört, wie jener seinerseits die Waren knapp und die Preise großzügig zu bemessen pflegte, so daß Friederich gewiss nicht mehr genommen als in der Zeit zuvor zuviel bezahlt hatte. Auch drohte ihm, überlegte er, als er den Pranger passierte, keinerlei Unbill von Seiten seiner Eltern, war er sich doch sicher, unbemerkt geblieben zu sein. So ist es nur gerecht, dachte er und biss vergnügt ein großes Stück aus seiner Beute, als er den Kopf hob, um in die warme Frühlingssonne zu blinzeln und dabei dem steinernen Antlitz des Engels begegnete. Aus zehn Metern Höhe sah ihn die Steinfigur aus leeren grauen Augen an. Ein unbestimmtes Unbehagen kam in ihm auf, das er hastig zu verscheuchen versuchte.
„Es ist nur gerecht.“ dachte er trotzig „Der alte Gauner kann sich glücklich schätzen...“
Der Engel schwieg. Sein starrer Blick legte ein eisiges Schweigen in seine Gedanken.
„Überhaupt! Was ist denn schon ein Apfel! Wenn man sich über eine solche Kleinigkeit erregen wollte...“
Der Engel starrte ihn an. Hart, grau, kalt. Kein Laut. Keine Regung. Friederich stand wie versteinert. Eine unheimliche Beklemmung durchwucherte und umwolkte ihn, lähmte sein Denken, ließ seine Knie weich werden und bahnte einem Gefühl der Nacktheit und Verlorenheit den Weg, vor dem er instinktiv das Weite suchte.
„Lächerlicher Graurock, Rattenheim, Taubenhohn! Einen schönen, saftigen Apfel halte ich hier, siehst du wohl? Wohl bekomm´s!“
Damit wandte er den Kopf ab und sperrte den Mund auf, als wollte er die ganze Frucht auf einen Schlag verschlingen. Die grauen Augen ließen von ihm ab. Doch er tat keinen Bissen mehr.
Von diesem Tag an sah er den Engel mit anderen Augen; wo vormals ein in den Markt verbautes Stück Granit gestanden hatte, da warf nun eine finstere Lichtgestalt lange Schatten über die Stadt, ein Arm von Düsternis, der mit der sich senkenden Sonne noch in die letzten Winkel reichte; ein ehrfurchtgebietendes Wesen thronte dort auf seiner Säule, vor dem die Leute die Köpfe neigten und die Augen niederschlugen. Keine Untat des jungen und jugendlichen Friederich war vor der unausgesprochenen, sprachlosen, und eben darum gegen jeden Einspruch immunen Mißbilligung der grauen Augen sicher. Ob er im Begriff war, sich auf dem Schulweg eine Verspätung zuschulden kommen zu lassen, im Zorn einen Ausspruch tat, den er bei klaren Sinnen vermieden hätte, im Hause seines Onkels eine von dessen heißgeliebten Vasen ohne böse Absicht, aber aus Mangel an Umsicht zerstörte oder in vorgerückten Jugendjahren angesichts weiblicher Reize unkeusche Gedanken pflegte – bis in die letzten Winkel seines Denkens folgte ihm das Auge nach, und dem Engel war es gleichviel, ob er aus Bosheit, Eigensucht, Nachlässigkeit oder Faulheit fehlte; er kehrte sich nicht an dem Zwiespalt zwischen Verursachung und Verantwortung, keine Häufung von noch so unglücklichen Umständen machte seine Miene milder.
So sollte es von jener ersten Begegnung an viele Jahre dauern, bis die Dinge eine neue Wendung nahmen. Es hatte nämlich an jenem Abend eine Feier stattgefunden, zu der man Friederich als Gast geladen hatte, und hier hatte es dieser wider die elterliche Weisung und eigene Einsicht seinen Freunden gleichgetan und dem dort vorrätigen Wein bis zur Berauschung zugesprochen. Wie er nun zu deutlich vorgerückter Stunde über den Markplatz ging – diesem war auf dem Heimweg nicht auszuweichen – war ihm vor dem unheimlichen Flügelwesen derart bange, daß er den Blick nicht vom Boden aufzuheben wagte; da er aber nun auch nicht mehr in der Lage war, die gewählte Richtung zu halten, dauerte es nicht lange, bis er stolperte und fiel. Die Überraschung und der Schmerz liessen ihn, als er sich erhob, in der Wahl seiner Blickrichtung unvorsichtig werden: er kniete gerade, die Hände auf den Boden gestützt, als er beiläufig den Kopf hob und die Spitze der Säule einen Moment lang in seine Sicht geriet.
Augenblicklich durchzuckte ein Schreck seinen Körper und hieß seine Glieder still stehen. Denn der dort stand und grauslich grimassierte, war ohne Flügel und Schwert. Stattdessen hielt er einen Apfel in der linken Hand und mit der rechten deutete er streng auf Friederich: in der Gestalt erkannte er niemand anders als seinen eigenen Vater. „Na warte, Bursche, dir werde ich es zeigen.“ rief er donnernd und gebärdete sich, als wolle er im nächsten Augenblick von seinem Sockel springen. In dem Moment aber tat es einen gewaltigen Schlag. Von der Spitze der Säule leckte eine Flammensäule in den schwarzen Himmel, züngelte und reckte sich nach allen Richtungen, waberte und wogte, doch was sie tat, erschreckte Friederich bei weitem nicht so sehr wie das, was sie nicht tat: sie warf kein Licht. Weder war es im Umfeld der Erscheinung merklich heller, noch zeichnete sich auf den umstehenden Häusern oder den dichten Wolken die kleinste Spur eines Widerscheines ab; umso befremdlicher schien es ihm, daß sie ihn beinahe bis zur Blindheit blendete. Dennoch brachte er es nicht fertig, die Augen abzuwenden oder auch nur zu schließen. Als schwarze Flecken in seiner Welt zu tanzen begannen und er sein Augenlicht bereits verloren glaubte, erlosch der unheimliche Brand mit einem Mal; und wie Friederich nun wieder hinsehen konnte, fand er die Säule leer. Erst nach einer ganzen Weile ungläubigen Anstarrens gewahrte er die Silhouette des Engels: doch sie war so zum Erbarmen klein, daß sie ganz alleine in der Höhe einsam und verloren wirkte. Friederich bereitete dieser Anblick ein schadenfrohes Vergnügen, das im nächsten Moment in grimmige Tatenlust umschlug: er würde ihn von seinem Sockel stoßen, diesen Gernegroß, der sich darauf verstehen mochte, imposant zu wirken und allerlei Budenzauber darzubieten, nun aber, da er ohne den Schutz der vielen ganz alleine vor ihm stand, seine wahre, kniehohe Winzigkeit offenbarte.
Von jäher Zerstörungslust befallen, begann Friederich, die Säule zu erklimmen, kam trotz seines Zustandes vorwärts, was ihn zusätzlich beflügelte, fand Halt an Ornamenten, setzte den Fuß in die verwitterten Reste eingelassener Schriftzeichen und zog sich empor. Bald streckte er die Hand nach dem Rand der Säule aus; gleich würde er vor ihm stehen, vor diesem Flügelzwerg, dieser Fledermaus; und um die Vorfreude zu steigern, malte er sich aus, wie er ihn von der Säule schob, wie er kippte, stürzte und am Boden in tausend Splitter zersprang. Mit einem einzigen Ruck zog er sich hoch, lugte über den Rand, sah einen Fuss, ein Bein, einen Körper, dann ein Gesicht hoch wie der Himmel, das ihn mit stummen grauen Steinaugen ansah. Fassungslos prallte er zurück und fiel rücklings in die Tiefe.
„Nun aber hoch mit Ihnen. Sie behindern meine Arbeit, überdies ist die Hecke, wie sie vermutlich bald bemerken werden, aufgrund zahlreicher Stacheln als Schlafplatz denkbar ungeeignet.“ Als Friederich dies hörte und die Augen aufschlug, erblickte er einen Mann, dessen Uniform ihn als einen der zahlreichen Stadtführer auswies. Tatsächlich stand ein knappes Dutzend Menschen mit Kameras um ihn herum, die ihn neugierig beäugten. Er selbst lag ein Stück weit eingesunken auf dem Rücken in der besagten Hecke und spürte nun auch, wie die erwähnten Stacheln sich allmählich bemerkbar machten.
Friederich verspürte einen starken Drang, das Unbegreifliche der letzten Nacht zum handlichen Format des Klatsches zu zerreiben, ferner war auch der Rausch noch nicht verflogen und beflügelte seine Beredheit, so daß er ohne Rücksicht auf den Eindruck, den solche Einlassungen hinterlassen konnten, auf den Uniformierten einzureden begann, ihm den Ursprung seiner Lage auseinandersetzte und von hier aus in eine Anzahl von Fragen überging, wie es möglich sei, daß so ein Stein auf einmal Feuer fange, seine Gestalt und Größe wandle und zu sprechen beginne.
Der Befragte stutzte einen Augenblick, ehe er antwortete. „Hierüber kann ich Ihnen derzeit leider keine Auskunft geben; selbstverständlich freuen wir von der Stadt uns aber über Ihr Interesse. Die Informationstafel wird derzeit restauriert. Inzwischen empfehle ich das Stadtarchiv, wenn Sie mehr erfahren möchten.
Sie finden es im Keller der Stadtbibliothek. Wenn ich Sie nun bitten darf, sich zu entfernen...“ Und Friederich, der es gewohnt war, den Weisungen der Amtlichen zu folgen, gehorchte.
Viele Stunden darauf, als der letzte Rest von alkoholischer Betörung verflogen war, befand sich Friederich noch immer im Zustand so tiefer Verwirrung über das Erlebte, daß er dem Rat des Uniformierten gemäß in der Bibliothek Aufschluß zu suchen beschloß. Als er jedoch durch die Eingangstür getreten war und sich nun als augenscheinlich zur Zeit einziger Besucher einer Front von Schreibtischen gegenüber sah, hinter denen korrekt gekleidete Herren ihre Arbeit unterbrachen und zu ihm herübersahen, fiel ihm, da er doch schlechterdings nicht einen von diesen mit den Einzelheiten seiner mitternächtlichen Wachträume belästigen konnte, nicht recht ein, was er tun sollte; und er hatte sich schon halb zum Gehen gewandt, als ihm aus einem dunklen Winkel jemand entgegenkam, den er aus der Nähe als den Stadtführer vom Mittag erkannte. „Es ist gut, daß sie tatsächlich gekommen sind. Dieser Tage gibt es unglücklicherweise weit mehr geheucheltes als wirkliches Interesse, wovon ihnen die Zahl unserer Besucher einen Eindruck verschaffen mag; sie wollten etwas über den Engel wissen, wenn ich mich recht entsinne?“ Und ohne die Antwort abzuwarten, setzte er hinzu „Gut denn, kommen Sie mit.“
Friederich folgte dem Mann über eine Treppe, die in unregelmäßigen Windungen nach unten führte; dann und wann kamen sie an Türen vorbei, von denen die meisten geschlossen waren, andere aber einen Blick auf von unangenehm hellem Neonlicht beleuchtete Korridore freigaben; in einem von diesen sah er jemanden in einer altmodischen Portieruniform den Gang entlangeilen, dem ein junger, seltsamerweise über und über von Schnee bedeckter Mann auf dem Fuß folgte; aber ehe er sich über diese Merkwürdigkeit weitere Gedanken machen konnte, trat sein Führer durch eine schwere, eherne Tür, die die Aufschrift „Galerie“ trug. Dann begann er, den dahinterliegenden Gang, dessen Wände tatsächlich lückenlos mit Bildern behängt zu sein schienen, zu durchschreiten, wobei er sein Tempo aber derart steigerte, daß Friederich im Vorbeihasten kaum mehr als flüchtige Umrisse erkennen konnte. Gerade als er den Mut gefasst hatte, den Uniformierten deswegen anzusprechen, erhob dieser von selbst seine Stimme.
„Dieser Gang“, sagte er mit einem Ton, der nichts von der Atemlosigkeit erkennen ließ, in die Friederich inzwischen verfallen war, „ist nicht weniger als die gesamte Geschichte unserer Stadt; was immer in ihrem Verlauf geschehen ist, wurde schon in der Frühzeit abgebildet und hier unten aufbewahrt; Sie können sich einen Eindruck von der Fülle dessen machen, was hier unten lagert, wenn ich Ihnen erzähle, daß es mir in nun schon fünfzehnjähriger Dienstzeit nicht gelungen ist, ihn so weit zu gehen, daß ein Ende – oder vielmehr ein Anfang, denn wie Ihnen nicht entgangen sein wird, zeigt, was hier hängt, die Gegenwart und jüngere Vergangenheit, auch nur in Sicht gekommen wäre. In Wahrheit ist er sogar derart lang, daß an eine solche Unternehmung garnicht zu denken ist; immer wieder geschieht es, daß jemand es dennoch versucht. Zumeist verschellen diese Übereifrigen dort, wo gemeinhin die beginnende Mitte des Ganges vermutet wird; wir erhalten von ihnen keine Kunde mehr, außer dadurch, daß ein anderer mit mehr Glück uns ihre Überreste bringt. Bisweilen gibt es aber auch Berichte, daß sich in den hinteren Teilen kleine Gruppen von Kundschaftern häuslich eingerichtet haben, ja, dort schon seit Generationen leben; diese geben, wenn man den Berichten der Zurückgekehrten glauben darf, die Ergebnisse ihrer Erkundungen von Gruppe zu Gruppe weiter, bis sie uns erreichen. Die Gruppen in den hinteren Bereichen leben leider in einer solchen Abgeschiedenheit, daß schon die nächste meist große Mühe hat, ihre Ausführungen überhaupt zu verstehen; und je mehr solcher Stationen ein Bericht passieren muß, ehe er uns erreicht, desto größer wird die Anhäufung von Mißverständnissen, Umdeutungen, schließlich sogar bewußten Verfälschungen darin; denn wer wird seine Familienehre in den Schmutz ziehen wollen, indem er die Kunde von einem Bild, darauf sein Urahn am Pranger steht, unverändert durchreicht? Auch ist zu vermuten, daß nur wenige die Unbill der Einsamkeit auf Dauer ertragen können, ohne Schaden an der Seele zu nehmen.
So kommt aus den hinteren Bereichen wenig Verständliches, und nichts Verlässliches. Freilich kann es ohnehin nur solchen gelingen, die bereit sind, ihr ganzes Leben daran zu setzen, auch nur die erste dieser Versammlungen zu erreichen, so daß wir schon von dieser nur aus Erzählungen wissen. Möglich, daß es sich um Hirngespinste handelt und die hinteren Bereiche menschenleer sind.
Was nun den Engel angeht, so ist es noch niemandem gelungen, dem Gang bis zur Zeit seiner Entstehung zu folgen; es wird vermutet, daß er schon seit der Gründungszeit der Stadt an seinem Platz steht. Was jedoch bei eingehender Betrachtung der älteren Bilder ins Auge fällt, ist, daß er sich mit dem Fortbau der Stadt stetig und ohne daß ein Urheber dafür auszumachen wäre, vergrößert und ausgeformt hat; so berichten Wagemutige, die noch halbe Kinder waren, als sie in den Gang zogen, und Greise, als sie wiederkehrten, von Darstellungen der Figur ohne Flügel, ja sogar ohne Schwert! Letzteres scheint zeitgleich mit dem Bau des Rathauses, ersteres mit dem der Kirche hinzugekommen zu sein. Jedenfalls zeigen die ältesten Werke, von denen wir freilich nur aus überlieferten Berichten Einzelner Kenntnis haben, die auf dem Weg überdies etwas wunderlich geworden sind, eine menschliche Gestalt ohne Sockel, stellen Sie sich das vor – auf der planen Erde! Das hervorstechendste Merkmal freilich sind, da werden Sie mir beipflichten, seine Augen; von denen heißt es, nur Berauschte, Verrückte und Erwählte könnten ihnen widerstehen. Was diese angeht...“
Er stockte, als ein penetrantes mechanisches Schnarren erschallte und entlang des Korridors rote Lichter zu blinken begannen.
„Oh, das ist freilich ungünstig. Verzeihen Sie, aber wir müssen zurück. Umgehend.“ Damit machte er kehrt, eilte, von Friederich gefolgt, den Gang entlang, die Treppen wieder hinauf zurück in den Hauptraum, der aber einen stark veränderten Eindruck bot.
Inzwischen war nämlich eine Anzahl anderer Besucher eingetroffen, die an vereinzelt stehenden Arbeitstischen vor aufgeschlagenen Büchern saßen und ärgerlich oder verwirrt um sich blickten. Allenthalben gingen, in lautstarke Unterhaltungen vertieft, alte bärtige Herren in grauen Anzügen umher; sie waren schon so zahlreich, daß den anderen nichts übrigblieb, als auf ihren Plätzen zu verharren, denn bei diesem Gedränge mußte es ganz und gar unmöglich sein, noch eine vorgeplante Richtung einzuhalten. Und durch die Eingangstüren kamen immer mehr.
„Aber es kann ja keiner sich mehr auf sein Buch besinnen!“ rief Friederich aus. „Warum mahnt sie denn keiner zur Ruhe?“
„Unmöglich.“, flüsterte der Uniformierte in ehrfurchtsvollem Ton. „Das ist eine Expertenkommission. Im übrigen ist es Zeit. Sie werden sicher müde sein; auch ist an eine Fortsetzung Ihrer Recherchen nicht zu denken, solange die Kommission noch hier ist; tatsächlich wird es bei diesem Ansturm bald schon ganz und gar unmöglich sein, die Bibliothek zu verlassen; die eine Möglichkeit, die jetzt noch offensteht, ist diese.“
Damit öffnete er die Tür zu einem Raum, dessen Inneres von einem mächtigen roten Samtvorhang verborgen war. „Der Ausgang ist am anderen Ende des Raumes. Gehen Sie nur hinein.“ Friederich beeilte sich, dieser Einladung zu folgen. Als er den Vorhang beiseite geschoben hatte, war der Anblick so unerwartet, daß er verdutzt innehielt. Das Innere des Raumes war von einem angenehm roten Lichtschein erfüllt, dessen Intensität knapp vor der Grenze der Aufdringlichkeit zurückblieb. Inmitten des Lichtes aber, das Gesicht zu ihm gewandt, stand eine junge Frau von zarter Gestalt, bloß bis auf einen Lendenschurz aus Perlenschnüren, die Friederich aus großen, schwarzen Augen einen Blick zuwarf, den dieser mit sprachloser Benommenheit erwiderte.
Bis er verstand. Der Lump hatte ihn in ein Freudenhaus geführt! Ein steinernes Auge stach in seinen Nacken und sandte Schübe eisiger Kälte durch seinen Leib. Friederich stieß einen entsetzten Schrei aus, wirbelte herum und rannte los, querte in blinder Hatz den Raum, der rettenden Tür zu, die sich einen grauenvollen Augenblick lang seinen Versuchen, sie zu öffnen, widersetzte, dann aber aufschwang und ihn ins Freie taumeln ließ, wohl wissend, daß er schon verloren hatte; zu lange hatte er gezögert, zu lange sich dem Anblick der Versuchung ausgesetzt. Schon spürte er das strafende Gesicht von allen Seiten; liess die Schultern hängen; senkte demutsvoll den Kopf, da ging ihm ein Licht auf und – er hob ihn wieder. War der Geflügelte mit den Geschicken seiner Stadt derart verwoben, wie es den Anschein hatte nach den Erzählungen des Uniformierten, denen trotz dessen zweifelhafter Natur doch vermöge der Autorität der vorgeführten Bilder einiges Gewicht zu kam , so mußte er sich nicht länger ängstlich bücken und den Rest seines Lebens unter der Knute dieses absichtslos Gewachsenen verbringen. Nichts mußte er, und zur Vermeidung dieses Unglücks bedurfte es nur des einfachen Vorsatzes, von dem Ungeheuer fern zu bleiben. Mit einem Ruck riss er sich aus der Gewohnheit heraus, die ihn nach links hin vor das Gesicht führen wollte, und marschierte stattdessen nach rechts, die Strasse hinauf. Zu Beginn war diese breit und mit glattem Asphalt versiegelt; je weiter sie aber anstieg, desto mehr Sprünge und Risse zeigten sich in ihrem Pflaster, desto spärlicher wurde ihr zivilisatorischer Saum aus Häusern und desto zahlreicher die Bäume. Nach einigen Stunden lief Friederich über nackte, schlammige Erde. Häuser gab es nun keine mehr, nur hie und da zeigten hölzerne Verschläge und rostende Zäune die zeitweilige Gegenwart anderer Menschen an. Als er nach oben sah, wo die Baumkronen die Sicht auf ein Stück Himmel freigaben, bemerkte er, daß die Sonne den hohen Mittag anzeigte und damit auch, was für ein großes Stück Weg er schon zwischen sich und den Grauen gebracht haben mußte. Er lächelte. Bald würde die ganze Stadt so weit hinter, so weit unter ihm liegen, daß ihm ihre Schrecknisse nur noch als Schatten gegenwärtig waren.
Allmählich wurde der Wald dichter und unwegsamer, doch ohne dabei sein Fortkommen im mindesten zu hindern; keine Ranke zupfte an seinen Kleidern, keine Wurzel langte nach seinem Fuss, während er frohgemut weiter bergauf wanderte. Wie er aber schon meinte, in dieser Wildnis sei kein Mensch mehr anzutreffen außer ihm, da hörte er Stimmen und erspähte durch das Geäst zwei Kinder auf einer Lichtung. Friederich hielt ob dieses unerwarteten Anblicks einen Moment inne und schaute sie an; sie waren offenbar verschiedenen Geschlechtes und hatten, soweit sich Friederich auf solche Schätzungen verstand, das achte Lebensjahr noch vor sich; beide schienen sehr versunken zu sein in ein Spiel, welches daraus bestand, sich eine himmelblaue Scheibe zuzuwerfen; dies unterbrachen sie jedoch im gleichen Moment, da Friederich auf die Lichtung trat; sie verstummten, liessen die Scheibe, der doch eben noch ihre ganze Aufmerksamkeit gegolten hatte, achtlos zu Boden fallen und wandten sich zu ihm um. Friederich, der den Kindern keinen Anlass zur Furcht geben wollte, vermied es, sie seiner Neugier entsprechend anzusehen; dennoch schien es ihm, als ruhten ihre Blicke während des ganzen Wegs zu ihnen herauf auf ihm. Er passierte die beiden, bemerkte im Vorübergehen, daß der Junge schwarzes, das Mädchen aber schulterlanges, goldblondes Haar hatte und wunderte sich über ihre ganz unkindliche Reglosigkeit. Dann erreichte er den Rand der Lichtung, wo die Bäume wieder hoch und dicht standen. Er tat einen Schritt in das Dickicht hinein, da hörte er die helle Stimme des Mädchens hinter sich.
„Den kenn´ ich.“, sagte sie im Plauderton zu ihrem Spielgefährten. „Den hab ich gemacht, als ich noch klein war.“ Dann hob sie die Scheibe auf und warf sie ihm zu.
Friederich, den diese überraschende Verlautbarung in der Wahl seines Weges hatte unaufmerksam werden lassen, trat unglücklich auf eine Wurzel, glitt auf dem moosigen Holz aus und war für ein paar Schritte ohne Gleichgewicht; nur wenige Momente, da der Versuch, es wiederzuerlangen, einen lenkt, genügen aber in solchen Gegenden, wo die Wege schmal und die Abhänge zahlreich sind, leicht, um dem unbedachten Wanderer die Mühen des Aufstiegs zunichte zu machen: und so fand sich Friederich bald in rasender Fahrt talwärts rutschend, auf Blättern und Geröll, rufend, zappelnd, haltlos um sich greifend, bis ihm durch die Gnade eines starken Astes die Sinne schwanden.
Als sie ihm wiederkamen, spürte er kalten, glatten Stein unter sich. Er öffnete die Augen, doch er gewahrte nichts als Finsternis. In seinem Kopf rumorte es, als dresche jemand darauf ein wie auf einen störrischen Esel.
Mühsam rappelte er sich hoch und sah sich um. Die Wolkendecke riss auf; das fahle Licht des Mond entbarg hoch über ihm die schattenhaften Umrisse eines geflügelten Riesen auf einer stämmigen Säule. Das Entsetzen fällte ihn wie einen Grashalm. Er sackte zu Boden und blieb dort ohne Regung liegen.