Der abtrünnige Punkt

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aufderdurchreise

Beitragvon aufderdurchreise » 11.10.2006, 00:07

Der abtrünnige Punkt

Es war einmal eine Linie.
Diese bestand aus ganz vielen kleinen Punkten, die ganz eng aneinandergereiht
in Reih und Glied neben- und untereinander angeordnet waren.
So hatte ein Mensch, der vor ihr stand, eine gestochen schwarze Linie vor sich.
Doch sah der Betrachter genauer hin, fiel ihm/ihr ein einzelner Punkt auf,
der dort nicht hingehören zu schien.

Dieser Punkt befand sich ein wenig links, unterhalb der Linie.
Es schien, als ob es sich aus der schwarzen Linie aus Reih und Glied herausgelöst hatte und einfach ein wenig nach unten gerutscht war.
Sah man ganz genau hin, konnte man sogar erkennen, dass dort,
wo ursprünglich der schwarze Punkt in der Linie sich befand,
ein weißer Punkt zu erkennen war.
Ein kleines Nichts.

Die vielen einzelnen Punkte aus der die Linie bestand,
kannten sich alle und sie unterhielten sich den ganzen Tag miteinander.
Es wurde viel geredet.

Das liebste Thema aller Punkte war jedoch der „abtrünnige Punkt“.
Der Punkt, der mit den anderen „nicht in Reih und Glied“ stand.
Sie ärgerten sich darüber, von einem einzelnen Punkt ihre Symmetrie kaputtgemacht zu bekommen.

Wieso ist er nicht so wie wir alle.
Wieso bringt er Unruhe/Unordnung in unser Gesamtbild.
Wieso ist er verrückt?

Viel wurde über diesen „anderen Punkt“ getuschelt.
Nie wurde mit ihm geredet – und so schlossen sie ihn schon von vornherein aus.

Von all dem Gerede bekam der einzelne Punkt,
der links unterhalb der Linie sein Dasein fristete,
überhaupt nichts mit.

Er wusste nur, dass er, wie die anderen Punkte, ein Teil der Linie war.

Er ahnte aber auch, dass er etwas ganz besonderes war.
Jedes Mal, wenn ein Mensch vor der Linie stand,
und diese genauer betrachtete – sah er in ein leicht überraschtes Gesicht.
Der Mensch bemerkte ihn nach kurzer Zeit links unterhalb der Linie.
„Oh ja, er musste ein ganz besonderer Punkt sein – und war sehr stolz darauf.

Nifl
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Beitragvon Nifl » 12.10.2006, 18:37

Hallo Reisende.

Einen interessanten Text hast du da fabriziert. Die Thematik ist nicht neu (aber welche ist das schon?) ... Hier verhält sich ein Punkt unangepasst. Warum er nicht auch in Reih und Glied steht, bleibt jedoch offen. Er scheint nicht bestrebt zu sein, diesen Makel zu beheben und sieht sich am Ende gar als etwas Besonderes. Hm. Eine ziemlich seichte Variante, weil der Abtrünnige weder "gepiesackt" wird, noch seine Aufsässigkeit- wenigstens temporär- bedauert, weil es ja scheinbar auch keine Nachteile bringt. Ich würde diesen Punkt mehr leiden lassen! (fies der Nifl) ... dann wirkte die Akzeptanz oder sogar der Genuss seiner Situation mehr.

Ein paar dezidierte Nifleien noch:


aneinandergereiht
in Reih

die Wiederholung finde ich unschön


So hatte ein Mensch, der vor ihr stand, eine gestochen schwarze Linie vor sich.

Wieso ist die schwarz? ... gestochen? scharf?

in Reih und Glied neben- und untereinander angeordnet waren.

und...

Dieser Punkt befand sich ein wenig links, unterhalb der Linie.

Ich denke die sind untereinander angeordnet?


Dieser Punkt befand sich ein wenig links, unterhalb der Linie.
Es schien, als ob es sich aus der schwarzen Linie

als ob er


wo ursprünglich der schwarze Punkt in der Linie sich befand,

wo sich ursprünglich
befunden hatte (Plusquamperfekt)


„Oh ja, er musste ein ganz besonderer Punkt sein – und war sehr stolz darauf.

"

LG
Nifl
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Max

Beitragvon Max » 18.10.2006, 20:30

Liebe(r) reisende(r),

ich finde, dass es in Deiner geschichte eine deutliche Zäsur gibt. Die ersten zwei Absätze finde ich rehct originell, auch wenn ich sie mir als Bild besser vorstellen kann als als Text. Ich dachte die ganze Zeit beim Lesen, das müsste man malen - und in der Tat ist es ja schwer mit einem text, der ein Bild beschreibt, besser zu sein als das Bild.

Alles, was nach dem zweitem Absatz kommt, finde ich moralisierend. Ja, dass die Besonderen nicht in Reih und Glied stehen, dass aber über sie geredet wird, das hat man schon mal gehört. Es ist eine sehr kindliche Perspektive, die dort eingenommen wird, oder soll es eine Geschichte für Kinder sein?

Liebe Grüße
max


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