Prolog
Verfasst: 25.09.2006, 19:04
Prolog
Der Winterabend ist dumpf in seinem Zimmer. Keine Möglichkeit, einen klaren Gedanken zu fassen, ein vernünftiges Wort zu Papier zu bringen. Alle Texte auf dieser Welt schon geschrieben, nichts Neues mehr möglich, gleich welche Wortkombination er auch wählt. Er wünscht, seine Worte wären Klänge. Klänge wie jene der großen Komponisten, die es vermögen, allen Schmerz und alles Glück auf dieser Welt einzufangen und jederzeit wieder fühlbar zu machen. Die den sich lichtenden Nebel und die durch die Wolken brechenden Sonnenstrahlen ebenso hörbar machen wie das langsame Niedersinken des Vorhangs vor der Lebensbühne und Furcht und Ehrfurcht vor dem Unbegreiflichen. In diesen Wunsch hinein jedoch drängt sich jene Frage, die ihn schon als Kind beschäftigt hat: Müssen der Welt nicht irgendwann die Melodien ausgehen? Zwölf Töne gibt es schließlich nur, nicht mehr. Die Luft, voll von abgenutzten Phrasen, klebt in dem kleinen Zimmer wie aufgequollene Knetmasse. Er ist sich selbst nur noch ein taubes Gefühl in den Fingerspitzen, mehr nicht. Das Orangeglühen der Zigarette konkurriert mit dem nebligen Licht der Schreibtischlampe. Wieder ist er am Ende eines Gedankengangs angekommen, wieder in einer Sackgasse.
Raus hier.
Schnell.
Draußen gefrorene Sauerstoffmoleküle, eine feste klare Masse, an der die Laute abprallen so klar wie an Glas; scharfkantige Kristalle hängen unverrückbar in der Luft, fest ineinander verkettet und auf beiden Seiten der Straße in die rauen Häuserwände gekrallt, zwischen denen in regelmäßigen Abständen Lichtzylinder stehen. Ein spitzes Prickeln auf seinem Gesicht. Von irgendwoher klingendes Kratzen auf Granit, als versuche jemand, seine Grabplatte beiseite zu schieben. Keine Ahnung, wo er eigentlich hinwill. Jedenfalls weg von den ausgetretenen Pfaden, irgendwoanders hin, wo immer das sein mag. Links abbiegen dort, wo er sonst immer geradeaus geht.
Irgendwann kommt er an.
Irgendwo.
Irgendwo an einem Gebäude, aus dessen Fenstern trotz der späten Stunde noch Zeichen von Leben dringen, eine rote Leuchtschrift blinkt über einer Schwingtür. Drinnen: Lose zu Menschen formierte Atommassen füllen einen halbdunklen Raum, der von ihnen beinahe überquillt. Ihr Aneinanderstoßen pflanzt sich in anschwellenden unhörbaren Schallwellen fort, so dicht, dass die Köpfe der Anwesenden zwischen zwei Mauern gepresst werden. Und in jedem Kopf mindestens ein anderer Gedanke. Könnte man Gedanken hören, denkt er, gäbe das einen Geräuschpegel, der einen in kürzester Zeit in den Wahnsinn triebe. Doch auch die verbal geäußerten Gedanken, wohl nur ein Bruchteil der hier tatsächlich vorhandenen, sind schon laut genug. Er schiebt sich durch die Menge warmer, kantigweicher Körper an einen pfützigen Holztresen, bestellt sich ein Bier, unschlüssig, was er sonst hier tun soll. Überall das Gleiche, egal, wo er hingeht. Auch hier zeichnet sein Daumen wieder Muster in das Kondenswasser, das außen am Glas herunterrinnt, spürt den Kontrast der kalten Feuchtigkeit zur Raumluft, fährt seine Linke derweil mit dem Feuerzeug die splitterige Maserung der Holzplatte nach, steckt er sich schließlich wieder eine Zigarette an, die hier auch nicht besser schmeckt als zu Hause.
Nach einer Weile steht er auf, lässt sein Glas halb geleert stehen und wendet sich zur Tür, will wieder gehen, als mit einem Mal eine einzelne Violine eine klare rote Linie durch das Gewühl zieht wie einen glühenden Draht, der von einem zum anderen wandert. Eine Sekunde der Ewigkeit gibt sich zu erkennen. Etwas, an dem er sich festhalten kann. Etwas, das dem Gewühl Konturen gibt, etwas, das ihn fortzieht, hinaus aus dem Geräuschbrei, darüber hinweg. Keiner außer ihm scheint etwas bemerkt zu haben.
Er folgt dem Sog, dem Ruf, der irgendwo von oben kommt. Am anderen Ende des Raumes, in einer dunklen Ecke, von den Massen gemieden, windet sich eine enge glattgescheuerte Holztreppe nach oben. Von dort auch ein schwacher warmer Lichtschein, Kerzenlicht sickert durch den Spalt einer schweren dunklen Tür. Leise tritt er näher, wagt kaum zu atmen, als er vorsichtig einen Blick durch den Spalt schickt.
Ein unmöblierter Raum, Spiele von Licht und Schatten bedecken leuchtendrote Wände, die sanft pulsieren. Keine Fenster. Niemand zu sehen, die Musik scheint von selbst in dem Raum zu entstehen. Er tritt ein, ohne einen einzigen Laut zu verursachen. Ein weicher kurzfloriger Bass liegt über dem Boden; von allen vier Ecken sammelt sich Klavier, um von der Mitte der Decke herunterzuperlen wie das Blut, das er gestern versuchsweise aus seinem Finger hat tropfen lassen, ein rhythmisches Plitschen auf weißem Papier, in den roten Explosionen unzählige Male er, codiert. Codiert mit nur vier Buchstaben. Nur vier Buchstaben, die nicht nur ihn codieren, sondern alles Leben auf dieser Welt, all die Vielfalt, die je existiert hat, existiert und existieren wird. Vier Buchstaben. Dreimal so viele Töne. Welche Möglichkeiten müssen sie dann bieten? Und wie lange wird es wohl dauern, bis diese Möglichkeiten erschöpft sind? Vielleicht, irgendwann, nach einer Zeitspanne, die ihm nicht vorstellbar ist, gehen tatsächlich einmal die Melodien aus. Aber noch ist es nicht soweit. Zwölf Töne. Mehr als doppelt so viele Buchstaben. Sechsundzwanzig Buchstaben, um genau zu sein. Das Tropfen wird stärker, bis sich schließlich ganze Klavierkaskaden über ihn ergießen, der Raum sich füllt, er sich füllt, sich auflöst und Frequenz wird. Klang wird, eine Melodie, die er noch nie zuvor gehört hat, und doch weiß er, es ist seine. Er weiß nicht nur, er ist. Menschen, vielgestaltig, die sich auf einmal im Raum herumbewegen, sämtliche Stadien seines Lebens wirbeln durcheinander, bis die Musik allmählich rhythmischer wird, ein regelmäßi-ges Klopfen die zahllosen Körper in Formation zwingt wie eine vibrierende Lautsprechermembran einen Haufen wahllos verstreuter Sandkörner. Das Wirbeln wird zum Tanz, der Tanz ist bewegte Ordnung, Dynamik mit Sinn. Immer neue Tonfolgen bilden sich, und in ihnen neue Buchstaben-kombinationen, neue Wort-DNA, die in dieser Form bisher noch nicht existiert hat und deren Sinn doch so klar ist wie das Urwissen der Menschheit; Verbalgene schließen sich zu Syntaxchromosomen zusammen und diese zu nichts weniger als dem Beginn eines neuen Weltenteils, erwachsen aus der Vergangenheit, seiner Vergangenheit und der seiner Vorfahren. Und schließlich formt in dieser Ursuppe auch er sich neu. Wird wieder Körper Geist Seele wie zuvor, und doch ist es anders. Eine Wand scheint eingerissen in seinem Innern, die sich zuvor immer enger, immer dichter um seine Gedanken geschlossen haben muss, ohne dass er es bemerkt hatte.
Als er die Treppe wieder hinuntersteigt, ist die Kneipe leer, die Tür steht weit offen. Draußen hat sich indes das vormals starre Dunkel der Nacht in kupfernes Morgensonnenlicht verwandelt, legiert mit Klängen und Worten von extremer Klarheit.
Der Winterabend ist dumpf in seinem Zimmer. Keine Möglichkeit, einen klaren Gedanken zu fassen, ein vernünftiges Wort zu Papier zu bringen. Alle Texte auf dieser Welt schon geschrieben, nichts Neues mehr möglich, gleich welche Wortkombination er auch wählt. Er wünscht, seine Worte wären Klänge. Klänge wie jene der großen Komponisten, die es vermögen, allen Schmerz und alles Glück auf dieser Welt einzufangen und jederzeit wieder fühlbar zu machen. Die den sich lichtenden Nebel und die durch die Wolken brechenden Sonnenstrahlen ebenso hörbar machen wie das langsame Niedersinken des Vorhangs vor der Lebensbühne und Furcht und Ehrfurcht vor dem Unbegreiflichen. In diesen Wunsch hinein jedoch drängt sich jene Frage, die ihn schon als Kind beschäftigt hat: Müssen der Welt nicht irgendwann die Melodien ausgehen? Zwölf Töne gibt es schließlich nur, nicht mehr. Die Luft, voll von abgenutzten Phrasen, klebt in dem kleinen Zimmer wie aufgequollene Knetmasse. Er ist sich selbst nur noch ein taubes Gefühl in den Fingerspitzen, mehr nicht. Das Orangeglühen der Zigarette konkurriert mit dem nebligen Licht der Schreibtischlampe. Wieder ist er am Ende eines Gedankengangs angekommen, wieder in einer Sackgasse.
Raus hier.
Schnell.
Draußen gefrorene Sauerstoffmoleküle, eine feste klare Masse, an der die Laute abprallen so klar wie an Glas; scharfkantige Kristalle hängen unverrückbar in der Luft, fest ineinander verkettet und auf beiden Seiten der Straße in die rauen Häuserwände gekrallt, zwischen denen in regelmäßigen Abständen Lichtzylinder stehen. Ein spitzes Prickeln auf seinem Gesicht. Von irgendwoher klingendes Kratzen auf Granit, als versuche jemand, seine Grabplatte beiseite zu schieben. Keine Ahnung, wo er eigentlich hinwill. Jedenfalls weg von den ausgetretenen Pfaden, irgendwoanders hin, wo immer das sein mag. Links abbiegen dort, wo er sonst immer geradeaus geht.
Irgendwann kommt er an.
Irgendwo.
Irgendwo an einem Gebäude, aus dessen Fenstern trotz der späten Stunde noch Zeichen von Leben dringen, eine rote Leuchtschrift blinkt über einer Schwingtür. Drinnen: Lose zu Menschen formierte Atommassen füllen einen halbdunklen Raum, der von ihnen beinahe überquillt. Ihr Aneinanderstoßen pflanzt sich in anschwellenden unhörbaren Schallwellen fort, so dicht, dass die Köpfe der Anwesenden zwischen zwei Mauern gepresst werden. Und in jedem Kopf mindestens ein anderer Gedanke. Könnte man Gedanken hören, denkt er, gäbe das einen Geräuschpegel, der einen in kürzester Zeit in den Wahnsinn triebe. Doch auch die verbal geäußerten Gedanken, wohl nur ein Bruchteil der hier tatsächlich vorhandenen, sind schon laut genug. Er schiebt sich durch die Menge warmer, kantigweicher Körper an einen pfützigen Holztresen, bestellt sich ein Bier, unschlüssig, was er sonst hier tun soll. Überall das Gleiche, egal, wo er hingeht. Auch hier zeichnet sein Daumen wieder Muster in das Kondenswasser, das außen am Glas herunterrinnt, spürt den Kontrast der kalten Feuchtigkeit zur Raumluft, fährt seine Linke derweil mit dem Feuerzeug die splitterige Maserung der Holzplatte nach, steckt er sich schließlich wieder eine Zigarette an, die hier auch nicht besser schmeckt als zu Hause.
Nach einer Weile steht er auf, lässt sein Glas halb geleert stehen und wendet sich zur Tür, will wieder gehen, als mit einem Mal eine einzelne Violine eine klare rote Linie durch das Gewühl zieht wie einen glühenden Draht, der von einem zum anderen wandert. Eine Sekunde der Ewigkeit gibt sich zu erkennen. Etwas, an dem er sich festhalten kann. Etwas, das dem Gewühl Konturen gibt, etwas, das ihn fortzieht, hinaus aus dem Geräuschbrei, darüber hinweg. Keiner außer ihm scheint etwas bemerkt zu haben.
Er folgt dem Sog, dem Ruf, der irgendwo von oben kommt. Am anderen Ende des Raumes, in einer dunklen Ecke, von den Massen gemieden, windet sich eine enge glattgescheuerte Holztreppe nach oben. Von dort auch ein schwacher warmer Lichtschein, Kerzenlicht sickert durch den Spalt einer schweren dunklen Tür. Leise tritt er näher, wagt kaum zu atmen, als er vorsichtig einen Blick durch den Spalt schickt.
Ein unmöblierter Raum, Spiele von Licht und Schatten bedecken leuchtendrote Wände, die sanft pulsieren. Keine Fenster. Niemand zu sehen, die Musik scheint von selbst in dem Raum zu entstehen. Er tritt ein, ohne einen einzigen Laut zu verursachen. Ein weicher kurzfloriger Bass liegt über dem Boden; von allen vier Ecken sammelt sich Klavier, um von der Mitte der Decke herunterzuperlen wie das Blut, das er gestern versuchsweise aus seinem Finger hat tropfen lassen, ein rhythmisches Plitschen auf weißem Papier, in den roten Explosionen unzählige Male er, codiert. Codiert mit nur vier Buchstaben. Nur vier Buchstaben, die nicht nur ihn codieren, sondern alles Leben auf dieser Welt, all die Vielfalt, die je existiert hat, existiert und existieren wird. Vier Buchstaben. Dreimal so viele Töne. Welche Möglichkeiten müssen sie dann bieten? Und wie lange wird es wohl dauern, bis diese Möglichkeiten erschöpft sind? Vielleicht, irgendwann, nach einer Zeitspanne, die ihm nicht vorstellbar ist, gehen tatsächlich einmal die Melodien aus. Aber noch ist es nicht soweit. Zwölf Töne. Mehr als doppelt so viele Buchstaben. Sechsundzwanzig Buchstaben, um genau zu sein. Das Tropfen wird stärker, bis sich schließlich ganze Klavierkaskaden über ihn ergießen, der Raum sich füllt, er sich füllt, sich auflöst und Frequenz wird. Klang wird, eine Melodie, die er noch nie zuvor gehört hat, und doch weiß er, es ist seine. Er weiß nicht nur, er ist. Menschen, vielgestaltig, die sich auf einmal im Raum herumbewegen, sämtliche Stadien seines Lebens wirbeln durcheinander, bis die Musik allmählich rhythmischer wird, ein regelmäßi-ges Klopfen die zahllosen Körper in Formation zwingt wie eine vibrierende Lautsprechermembran einen Haufen wahllos verstreuter Sandkörner. Das Wirbeln wird zum Tanz, der Tanz ist bewegte Ordnung, Dynamik mit Sinn. Immer neue Tonfolgen bilden sich, und in ihnen neue Buchstaben-kombinationen, neue Wort-DNA, die in dieser Form bisher noch nicht existiert hat und deren Sinn doch so klar ist wie das Urwissen der Menschheit; Verbalgene schließen sich zu Syntaxchromosomen zusammen und diese zu nichts weniger als dem Beginn eines neuen Weltenteils, erwachsen aus der Vergangenheit, seiner Vergangenheit und der seiner Vorfahren. Und schließlich formt in dieser Ursuppe auch er sich neu. Wird wieder Körper Geist Seele wie zuvor, und doch ist es anders. Eine Wand scheint eingerissen in seinem Innern, die sich zuvor immer enger, immer dichter um seine Gedanken geschlossen haben muss, ohne dass er es bemerkt hatte.
Als er die Treppe wieder hinuntersteigt, ist die Kneipe leer, die Tür steht weit offen. Draußen hat sich indes das vormals starre Dunkel der Nacht in kupfernes Morgensonnenlicht verwandelt, legiert mit Klängen und Worten von extremer Klarheit.