Das höchste Gut

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Mucki
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Beitragvon Mucki » 08.09.2006, 13:13

Das höchste Gut (Neue Fassung)

„'Traurige Augen', Häuptling 'Großer Bär' hat Ohren für dich“, flüsterte 'Schneller Pfeil' mir zu. Verwundert über diese Ehre, stapfte ich durch den Schnee, der mir bis zu den Knöcheln reichte, zum Wigwam unseres Stammesoberhauptes. Es war das erste Mal für mich. Ich sei noch zu jung, sagten die anderen, wenn ich fragte, warum ich an den Versammlungen im Wigwam von 'Großer Bär' bisher nie teilnehmen durfte.

Obwohl das Büffelfell wärmte, spürte ich ein Frösteln in mir. Hatte ich etwas falsch gemacht? Was erwartete mich? Langsam öffnete ich sein Zelt und betrat mit Ehrfurcht sein heiliges Reich. Zögernd blieb ich am Eingang stehen, fühlte mich klein und unbedeutend in seiner Gegenwart. Er schien dies zu spüren und lächelte mir aufmunternd zu.

„Setz dich zu mir 'Traurige Augen'“, forderte er mich freundlich auf. ‚Großer Bär’ zog an seiner langen Pfeife und fächerte sich den Rauch sanft ins Gesicht. Er saß vor einem prasselnden Feuer. Sein Wigwam strahlte Geborgenheit und Wärme aus. Ich fühlte mich wohl, verspürte keine Angst mehr. An den Wänden hingen Bärenklauen. Ihre Anzahl und Größe beeindruckten mich. Viele Bären musste er erlegt haben. ‚Schneller Pfeil’ hatte mir einmal gesagt, es seien über dreißig. Federn in verschiedenen Farben schmückten das Zelt. Auf seinem Schoß lag ein brauner Lederbeutel.

'Wie friedlich er aussieht', dachte ich. Schweigend saß ich ihm gegenüber und betrachtete sein von Falten übersätes Gesicht.

„Weißt du, welches das höchste Gut für einen alten Mann wie mich ist?“, fragte er. Ich schüttelte den Kopf.
„Ein warmes Feuer und eine gute Pfeife. Was kann es Höheres geben?“ Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.

„Du weißt, warum dir dein Name gegeben wurde?“
„Weil meine Augen traurig sind?“, murmelte ich.
„Sie spiegeln deine Seele. Du wurdest mit diesem Spiegel geboren. Deine Seele ist alt und bereits lange auf der Reise. Sie hat sehr viel Trauriges gesehen, viel mehr, als du ahnst. Welcher Tiergeist erscheint dir, wenn du zu den Ohren der Trommeln tanzt?“
„Ein großer schwarzer Adler“, sagte ich.
„Ja. Du fliegst weit fort, wenn du tanzt!“
„Du siehst meinen Flug?“, fragte ich überrascht. Ich hatte niemandem etwas davon erzählt.
„Oh ja, mit mächtigen Schwingen schwebst du über die Weite der Ebenen, deine Sehnsucht trägt dich fort. Wenn die Trommeln schweigen, fühlst du Traurigkeit im Herzen. Was wäre für dich das höchste Gut?“
„Immer so zu fliegen“, rief ich.
„Sag mir den Grund!“
„Ich fühle mich frei, so leicht wie eine Feder. Wenn die Trommeln schweigen, werde ich zum schweren Fels“, sagte ich leise.
„Die Feder wiegt schwerer als der Fels“, sprach 'Großer Bär'.
Ich verstand nicht und schaute ihn ratlos an.

„Der Fels ist dein menschliches Leben, das du zu meistern hast. Um die Leichtigkeit der Feder zu erlangen, musst du die Schwere deines Felsens überwinden. Erst dann wirst du zum Adler. Er ist in dir, doch bist du noch nicht in ihm, erreichen dich meine Worte?“
Ich dachte lange nach, erahnte langsam seine große Weisheit.

„So ruft mich der Adler im Rausch des Tanzes, um mir zu zeigen, dass ich eines Tages in ihm sein werde?“, dachte ich laut.
„So ist es! Was ist nun dein größtes Gut?“, fragte er schmunzelnd.
„Die Feder im Fels zu finden!“, sagte ich entschlossen.
Zufrieden nickte er und reichte mir den Lederbeutel.

„Nimm dies als Wegweiser und gehe auf die Suche 'Traurige Augen'. Finde, indem du die Zeichen des Felsens verstehst und du wirst zum Schwarzen Adler werden", sprach er und lächelte mich an. Seine Augen strahlten eine Güte aus, die mich tief berührte.

Im Beutel befand sich eine schwarze Feder. 'Großer Bär' ist wahrhaftig weise, dachte ich und verließ frohen Herzens sein Wigwam.

© Gabriella Marten Cortes
27.09.2006




Das höchste Gut

„'Traurige Augen', Häuptling 'Großer Bär' hat Ohren für dich“, flüsterte 'Schneller Pfeil' mir zu. Verwundert über diese große Ehre, stapfte ich durch den hohen Schnee zum weiträumigen Wigwam unseres Stammesoberhauptes. Ich hatte es noch nie betreten. Ich sei noch zu jung, sagten mir die anderen, wenn ich kleinlaut fragte, warum ich an den Versammlungen im Wigwam von 'Großer Bär' nie teilnehmen durfte.

Obwohl mich das dicke Büffelfell wärmte, kroch fröstelnde Angst in mir hoch. Hatte ich etwas falsch gemacht? Langsam öffnete ich sein Zelt und betrat ehrfürchtig sein heiliges Reich. Ich fühlte mich klein und unbedeutend in seiner Gegenwart. Er schien meine Unsicherheit zu bemerken.

„Setz dich zu mir 'Traurige Augen'“, sprach er gütig lächelnd, zog an seiner langen Pfeife und fächerte sich den Rauch mit einer sanften Bewegung ins Gesicht. Genießerisch schloss er dabei die Augen. 'Großer Bär' saß vor einem prasselnden Feuer. Sein Wigwam strahlte Geborgenheit und Wärme aus. An den Wänden hingen verschiedene Bärenklauen und bunte Federn. Vor ihm lag ein kleiner Lederbeutel.

'Wie friedlich er aussieht', dachte ich. Ich saß ihm schweigend gegenüber.

„Weißt du, was das höchste Gut für einen alten Mann wie mich ist?“, fragte er. Ich schüttelte verlegen den Kopf.
„Ein warmes Feuer und eine gut schmeckende Pfeife, was kann es Höheres geben?“ Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.
„Du weißt, warum dir der Name 'Traurige Augen' gegeben wurde?“
„Weil meine Augen traurig sind?“, erwiderte ich zögernd.
„Sie spiegeln deine Seele. Du wurdest mit diesem Spiegel geboren. Deine alte Seele ist bereits lange auf der Reise und hat schon sehr viel Trauriges gesehen, viel mehr, als du ahnst. Welcher Tiergeist erscheint dir, wenn du zu den Ohren der Trommeln tanzt?“, fragte er und zog an seiner Pfeife.

„Ein Adler, ein großer schwarzer Adler“, sagte ich.
„Ja. Du fliegst weit fort, wenn du tanzt!“
„Kannst du sehen, wenn ich fliege?“, fragte ich überrascht. Ich hatte es niemandem verraten.

„Ich sehe, wie du mit mächtigen Schwingen über die Weite der Ebenen schwebst, deine große Sehnsucht trägt dich fort. Wenn die Trommeln schweigen, fühlst du große Traurigkeit im Herzen. Was wäre für dich das höchste Gut?“
„Immer so fliegen zu können“, erwiderte ich sofort.
„Sag mir den Grund.“
„Ich fühle mich so frei, ungebunden, leicht wie eine Feder. Wenn die Trommeln schweigen, werde ich zum schweren Fels“, sagte ich traurig.
„Die leichteste Feder wiegt schwerer als der größte Fels“, sprach 'Großer Bär'.
Nicht begreifend, schaute ich ihn ratlos an.

„Der schwere Fels ist dein menschliches Leben, das du zu meistern hast. Um die Leichtigkeit der Feder zu erlangen, musst du die Schwere deines Felsens überwinden. Erst dann wirst du zum Adler. Er ist in dir, doch bist du noch nicht in ihm, erreichen dich meine Worte?“

Ich dachte lange nach, erahnte langsam seine große Weisheit.

„So ruft mich der Adler im Rausch des Tanzes, um mir zu zeigen, dass ich eines Tages in ihm sein werde?“, dachte ich laut.
„So ist es! Was ist nun dein größtes Gut?“, fragte 'Großer Bär' schmunzelnd.
„Die Feder im Fels zu finden!“, rief ich entschlossen.
Zufrieden nickte er und reichte mir den kleinen Lederbeutel, der vor ihm lag.

„Nimm dies als Wegweiser und gehe auf die Suche 'Traurige Augen'. Finde, indem du die Zeichen des Felsens verstehst und du wirst zum Schwarzen Adler werden!"

Im Beutel befand sich eine schwarze Feder. 'Großer Bär' ist wahrhaftig ein weiser Mann, dachte ich und verließ lächelnd sein Wigwam.

© Gabriella Marten Cortes
Zuletzt geändert von Mucki am 05.10.2006, 12:12, insgesamt 3-mal geändert.

Nihil

Beitragvon Nihil » 09.09.2006, 20:20

hmm - ich bin gegen das analytische Zerpflücken eines Textes in seine Bestandteile und vorauseilende wie ausformulierte "Korrekturvorschläge" sind wohl gut gemeint, aber damit nimmt man der Autorin/dem Autor wie ich finde zugleich gewissermaßen das eigene Werk und die Kreativität wie dem Werk seine spontane Kraft. Ich habe den Text gelesen und er hat mir spontan gefallen - ich finde auch, dass er so wie er ist im Fluss ist und aus einem Guss und schlussendlich sollte es immer das Ganze sein, welches seinen Ausdruck entfaltet, das ist es was zählt .. und Ideen zur Überarbeitung sollten wirklich der Autorin/dem Autor vorbehalten bleiben. :pfeifen:

mfg

Nihil

steyk

Beitragvon steyk » 09.09.2006, 20:33

Hi Nihil,
ich seh das nicht als "zerpflücken" an. Es sind Vorschläge, nichts weiter. Der Autor kann einige übernehmen, eigene Ideen daraus entwickeln oder sie schlicht nur zur Kenntnis nehmen. Er wird zu nichts gezwungen. Einige meiner Geschichten würden jetzt nicht so "glatt" aussehen, wenn sie nicht vorher "auseinandergepflückt" worden wären. Es hat mir geholfen. Du warst nicht ganz unbeteiligt daran.

Gruß
Stefan

Nihil

Beitragvon Nihil » 09.09.2006, 20:49

Hallo Stefan,

das ist bestimmt Ansichtssache und ich bin zugegebenermaßen immer sehr empfindlich, wenn es um Korrekturvorschläge geht .. ich finde, dass es oftmals die erste Niederschrift und Version ist, welche die Temperatur der Empfindungen und der inneren Bewegungen im Allgemeinen am nahesten transportiert und durch Korrekturen verwässert - oder wie Du es selbst so treffend formulierst - "geglättet" wird .. ich finde glatte Texte einigermaßen uninteressant, der Stil ist entscheidend und dieser findet sich zumeist intuitiv ein und nicht über den Umweg der Reflexion, in welcher dieser dann oftmals Brechung erfährt .. und Stefan - an was war ich um Himmels Willen beteiligt? :pfeifen: :mrgreen:

mfg

Nihil

steyk

Beitragvon steyk » 09.09.2006, 21:03

Oh Mannomann, die Nerven ;-) - ist wohl der Anfangsstress der neuen Aufgabe (schwitz).
Habe dich mit Nifl verwechselt. Eure Namen ähneln sich...

Gruß
Stefan

Nihil

Beitragvon Nihil » 09.09.2006, 21:06

.. im Zweifelsfall den Tadel immer an Nifl und das Lob an Nihil! *lach*

;-)

Nihil

Nifl
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Beitragvon Nifl » 09.09.2006, 22:24


ch seh das nicht als "zerpflücken" an. Es sind Vorschläge, nichts weiter. Der Autor kann einige übernehmen, eigene Ideen daraus entwickeln oder sie schlicht nur zur Kenntnis nehmen. Er wird zu nichts gezwungen. Einige meiner Geschichten würden jetzt nicht so "glatt" aussehen, wenn sie nicht vorher "auseinandergepflückt" worden wären.

...also steyk, wie kannst du nur glauben, dass ich nicht genau dieser Meinung bin! Jetzt bin ich menschlich sehr enttäuscht! *g ...
Aber tröste dich, in einem anderen Forum bin ich immer mit einem Nihel verwechselt worden ...

LG
NIFL HEIM
"Das bin ich. Ich bin Polygonum Polymorphum" (Wolfgang Oehme)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 09.09.2006, 23:09

Hallo Nihil,

du hast es richtig erkannt. Ich schrieb diese Geschichte in einem Guss. Aber keine Sorge, ich empfinde die Kommentare und Vorschläge nicht als "Zerpflücken", sondern als gute Anregungen, von denen ich einige übernehmen werde und andere nicht. Wie Stefan richtig sagt, der Autor entscheidet.

Außerdem freue ich mich sehr, dass ihr euch so mit dem Text auseinandergesetzt habt, denn das zeigt mir, dass er es wert ist:), sonst hättet ihr euch diese Arbeit nicht gemacht. Ich schließe da jetzt einfach mal von mir auf andere *g*
LG
Magic

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Thomas Milser
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Beitragvon Thomas Milser » 11.09.2006, 02:00

Und ich bin so begeistert von der Intensität der Besprechung hier, dass ich überhaupt nix mehr zu dem Text sagen kann. Vorm Lesen der Kommentare wusste ich noch ganz viel, aber nu? Ich lass es jetzt mal einfach...

Weiter so, adjektivische Indianerinnen wie auch nervenzerfressene Neumods :o)))))))))))

Wie geil ist das denn? Allen Beteiligten: Respekt!!! Ich verkrümel mich wieder hinter die Kolumnen...

Tom.
Menschheit, Du hattest von Anfang an nicht das Zeug dazu... (Charles Bukowski)

Mucki
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Beitragvon Mucki » 27.09.2006, 23:40

Hallo ihr Lieben,

habe eure tollen Vorschläge beherzigt und die Geschichte auch noch ein bisschen mehr ausgemalt.
Oben seht ihr die neue Fassung. Vielen Dank noch mal an euch:-)))
Saludos
Magic
P.S. Die neue Fassung von "Der schwermütige Seehund" habe ich am 18.9. eingestellt. Da habt ihr mir auch so klasse geholfen:-)

steyk

Beitragvon steyk » 02.10.2006, 15:38

Liebe Magic,

zur neuen Fassung :daumen:


Gruß
Stefan

Mucki
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Beitragvon Mucki » 02.10.2006, 16:47

Hallo Stefan,

das freut mich :-)
Diesen Text werden ich demnächst mal lesen ;-)
Saludos
Magic


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