Rapunzelstadt
Verfasst: 24.08.2006, 11:46
Rapunzelstadt
Eigentlich hat sie mir ja gut gefallen, diese Kurzreise durch das Siebengebirge. Wir haben mit der Reiseleitung alle Stätten des Wirkens von Rübezahl besichtigt, sind über die Höhen und Tiefen des Gebirgszuges gewandert und beim nebligen Morgengrauen blieben keine Zweifel offen, dass sich all die alten Mären um diese sagenumwobenen Figur genau so zugetragen haben mussten. Gefangen von den Eindrücken der Märchenwelt treten wir die Rückreise an.
Der Reisebus holpert die Straßen hinauf und hinab, so dass es einigen Mitreisenden speiübel wird. Der Fahrer lacht laut, amüsiert sich über die schlappen Mägen der Großstädter, faselt irgendetwas von es sei noch zu früh für einen Stopp, der käme erst viel später dran und kugelt sich bei dieser Aussage vor Lachen.
Sein Amüsement verstehe ich nicht. In meinem Magen grummelt es in der Zwischenzeit auch gewaltig, und mein Vertrauen zu den vor mir hängenden Papiertüten ist eher gering.
„Lass’ den blöden Bus endlich anhalten!“, denke ich noch, da gibt es einen riesigen Knall, der Bus gerät ins Schleudern, Jacken, Taschen und anderes Gepäck fliegen in hohem Bogen durch den Innenraum. Der Busfahrer beginnt diabolisch zu lachen, reißt das Lenkrad mehrfach herum und bringt schlussendlich, nach einigen scharfen Kurven, den Bus in einem Graben zum Stehen.
„Jetzt haben wir Pause!“ Der Kamikazefahrer erklärt vollständig ruhig, dass ein Reifen geplatzt sei, und wir uns auf einen mehrstündigen Aufenthalt einstellen müssen.
Ich verlasse den Bus sofort, auch um meinem sich drehenden Magen die Möglichkeit zu geben, seinen Inhalt der freien Natur preis zu geben. Gott sei Dank habe ich nicht allzu viel gefrühstückt, so dass sich dieser Vorgang auf wenige Minuten beschränkt.
Zu klarem Verstand zurückgekehrt sehe ich mir die Umgebung näher an.
Mein Blick bleibt an einem Wegeschild hängen.
Rapunzelstadt 3km, ist auf ihm zu lesen. Hier also liegt die mythische Rapunzelstadt? Zwar habe ich in den Reiseunterlagen etwas davon gelesen, jedoch war von einem Besuch abgeraten worden. Wahrscheinlich hält man das Städtchen nicht gerade für eine touristische Attraktion.
Der Busfahrer hat in der Zwischenzeit den Aufenthalt auf ca. vier Stunden taxiert. Bevor ich also hier warte, könnte ich ebenso gut einen kurzen Abstecher in die Märchenstadt wagen, schlimmer als mir vier Stunden die Beine in den Bauch zu stehen kann das ja auch nicht sein.
Von den Mitreisenden mag sich keiner anschließen, sie sitzen weißgesichtig am Wegrand und rühren sich keinen Millimeter. Also ziehe ich alleine los.
Ich erreiche Rapunzelstadt nach kurzer Zeit. Ein bezauberndes, idyllisches Städtchen, das wirkt, als ob in ihm die Zeit stehen geblieben sei. Schlösschen, Burgen, ein Brunnen auf dem Markt…dann bemerke ich es, das Schild auf dem „Zum Rapunzelturm“ zu lesen ist. Ich folge der Beschilderung.
Es dauert gar nicht lange, bis ich ihn sehen kann. Vor mir steht ein etwa sieben Meter hoher Turm mit nur einem einzigen Fenster an der oberen Spitze. Das Gemäuer wirkt alt und verwittert, an manchen Stellen hat es bereits Moos angesetzt. Es haben wohl einige Prinzen vor mir tatsächlich versucht, den Turm zu erklimmen. In den alten Bruchsteinen befinden sich ein paar Steigeisen.
Wenn die Fantasie mit Menschen durchgeht; da werden die Don Quichotes der Gegenwart doch zu imaginären Rapunzelrettern. Ich lache laut auf.
„Rapunzel, Rapunzel, wirf Deinen Zopf hinunter!“, schreie ich amüsiert.
Da fliegt mir auch schon der Zopf auf den Kopf. Ich staune nicht schlecht. Mein Blick folgt wie hypnotisiert dem Verlauf des langen, geflochtenen Kunstwerks, es kommt tatsächlich aus dem Dachfenster.
„Bist Du es, mein Prinz? Bist Du endlich gekommen, mich zu retten?“ Von oben herab klingt die lieblichste Stimme, die ich je gehört habe, durchsetzt von heftigem Weinen.
Ich traue meinen Ohren nicht. Kann das wirklich wahr sein? Bin tatsächlich ich derjenige, der zur Rettung des Rapunzels auserkoren ist? Ich, Harald Schulz, der Buchhalter?
Ich kann nicht an mich halten. Sofort beginne ich den Aufstieg zum Turmfenster, halte mich mit beiden Händen an den geflochtenen Haaren fest, nutze die schon vorhandenen Steigeisen und bewältige den Aufstieg der Wand in nur wenigen Minuten.
„Endlich!“, ruft mir mein Rapunzel entgegen.
Ob ich sie wohl heiraten soll? Wer hat schon je eine Märchenbraut geheiratet? Der Gedanke fasziniert mich.
Mein erster Blick fällt auf ein wunderschönes Mädchen, das sich für sein Alter wirklich gut gehalten hat.
„Komm’ näher!“, ruft sie mir wehmütig entgegen. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Mit aller mir noch möglichen Energie versuche ich, so dicht wie möglich an sie heran zu kommen.
Doch kaum bin ich in greifbarer Nähe, verwandelt sich ihr Antlitz in das einer bösen alten Frau, mein Rapunzel mutiert zu einer uralten hässlichen Hexe, die ihre Haare mit einer jähen Kopfbewegung entflicht, um sie als Seile zu missbrauchen, mit denen sie mich wie Tentakeln umfängt und an die Gitterstäben des Fensters fesselt.
So steht sie vor mir mit boshaft-vulgärem Lachen, in schwarzer, geschnürter Ledercorsage, dazu geschlitztem Rock und mit einer Peitsche in der rechten Hand, die linke grabscht durch die Stäbe des Turmfensters und versucht, mich stückweise durch die Stäbe zu ziehen.
In dieser Position kann ich einen Blick in den Innenraum erhaschen. Ich staune nicht schlecht. Vor mir liegt das bestausgestattete Dominastudio, das ich je gesehen habe: Fesselwände, ein Schafbock, Peitschen, Handschellen, Halsbänder in allen Größen, Formen und Farben und als Krönung eine Streckbank.
Die Rapunzelhexe brüllt grunzend. „Das hättest Du nicht erwartet, oder? Das Studio habe ich vor ein paar Jahren von Mutter Theresa geerbt, als diese sich in diesem Bereich zur Rente setzte. Sie ist eine gute Freundin, weißt Du. Und in ihrem Job war sie absolut die Beste, ja, sie wusste, wie man der Menschheit Gutes tut!!" Eine Orkanwelle des Lachens ergießt sich über mich.
" Hast Du das noch nicht gewusst? Jede weiße Seite hat auch eine schwarze!“ Der voluminöse Bauch bewegt sich in Wogen auf und ab.
Und während sie noch vor sich hin grunzt, versucht die Peitsche mein bestes Stück zu erwischen. Ich durchschaut den Plan, kann eine Hand befreien, mit der ich versuche, meine empfindlichste Stelle zu schützen, während ich verzweifelt daran arbeite, auch die andere Hand frei zu bekommen. Das Ungeheuer ist erbost über die schützende Hand, zieht meinen Unterkörper näher an die Stäbe und beißt mit einem Haps den Ringfinger meiner rechten ab. Ich schreie laut auf vor Schmerz, doch während die Rapunzelhexe rülpsend meinen Finger verspeist, gelingt es mir, die linke Hand zu befreien. Einem Reflex folgend verpasse ich ihr einen Fausthieb auf die Nase und spucke dabei in ihre Augen.
Damit hat sie wohl nicht gerechnet. Sie flucht laut, schlägt um sich; in einem Augenblick der Verwirrung lockert sich die Umgarnung der Zopfseile, und ich falle mit einem lauten Knall auf den Boden.
Als ich das Bewusstsein wieder erlange, steht neben mir ein besorgter Passant.
„Hatten sie das Warnschild nicht gelesen?“ Er deutet auf ein riesiges Schild vor dem Turm.
„Vorsicht, bissiges Rapunzel!“, ist dort in großen Lettern zu lesen.
„Tja, unser Rapunzel ist wohl ein wenig schizophren geworden. Die langen Jahre der Einsamkeit, wissen sie.“
Ich überlege kurz, ob ich das soeben Geschehene damit entschuldigen soll...
Dann fährt er mich ins Krankenhaus. Nachdem man mich notdürftig zusammengeflickt hat, bettele ich darum, mich der Reisegruppe wieder anschließen zu dürfen, schließlich will ich nicht an diesem unheilvollen Ort bleiben. Also bringt man mich trotz einiger Widerstände zurück.
Der Busfahrer hat schon auf mich gewartet und grinst mich wissend an.
„Na, hast du mein Mädchen getroffen? Sie hatte so wenig Spaß in den letzten Jahren und war schon fast depressiv geworden.“
Eigentlich hat sie mir ja gut gefallen, diese Kurzreise durch das Siebengebirge. Wir haben mit der Reiseleitung alle Stätten des Wirkens von Rübezahl besichtigt, sind über die Höhen und Tiefen des Gebirgszuges gewandert und beim nebligen Morgengrauen blieben keine Zweifel offen, dass sich all die alten Mären um diese sagenumwobenen Figur genau so zugetragen haben mussten. Gefangen von den Eindrücken der Märchenwelt treten wir die Rückreise an.
Der Reisebus holpert die Straßen hinauf und hinab, so dass es einigen Mitreisenden speiübel wird. Der Fahrer lacht laut, amüsiert sich über die schlappen Mägen der Großstädter, faselt irgendetwas von es sei noch zu früh für einen Stopp, der käme erst viel später dran und kugelt sich bei dieser Aussage vor Lachen.
Sein Amüsement verstehe ich nicht. In meinem Magen grummelt es in der Zwischenzeit auch gewaltig, und mein Vertrauen zu den vor mir hängenden Papiertüten ist eher gering.
„Lass’ den blöden Bus endlich anhalten!“, denke ich noch, da gibt es einen riesigen Knall, der Bus gerät ins Schleudern, Jacken, Taschen und anderes Gepäck fliegen in hohem Bogen durch den Innenraum. Der Busfahrer beginnt diabolisch zu lachen, reißt das Lenkrad mehrfach herum und bringt schlussendlich, nach einigen scharfen Kurven, den Bus in einem Graben zum Stehen.
„Jetzt haben wir Pause!“ Der Kamikazefahrer erklärt vollständig ruhig, dass ein Reifen geplatzt sei, und wir uns auf einen mehrstündigen Aufenthalt einstellen müssen.
Ich verlasse den Bus sofort, auch um meinem sich drehenden Magen die Möglichkeit zu geben, seinen Inhalt der freien Natur preis zu geben. Gott sei Dank habe ich nicht allzu viel gefrühstückt, so dass sich dieser Vorgang auf wenige Minuten beschränkt.
Zu klarem Verstand zurückgekehrt sehe ich mir die Umgebung näher an.
Mein Blick bleibt an einem Wegeschild hängen.
Rapunzelstadt 3km, ist auf ihm zu lesen. Hier also liegt die mythische Rapunzelstadt? Zwar habe ich in den Reiseunterlagen etwas davon gelesen, jedoch war von einem Besuch abgeraten worden. Wahrscheinlich hält man das Städtchen nicht gerade für eine touristische Attraktion.
Der Busfahrer hat in der Zwischenzeit den Aufenthalt auf ca. vier Stunden taxiert. Bevor ich also hier warte, könnte ich ebenso gut einen kurzen Abstecher in die Märchenstadt wagen, schlimmer als mir vier Stunden die Beine in den Bauch zu stehen kann das ja auch nicht sein.
Von den Mitreisenden mag sich keiner anschließen, sie sitzen weißgesichtig am Wegrand und rühren sich keinen Millimeter. Also ziehe ich alleine los.
Ich erreiche Rapunzelstadt nach kurzer Zeit. Ein bezauberndes, idyllisches Städtchen, das wirkt, als ob in ihm die Zeit stehen geblieben sei. Schlösschen, Burgen, ein Brunnen auf dem Markt…dann bemerke ich es, das Schild auf dem „Zum Rapunzelturm“ zu lesen ist. Ich folge der Beschilderung.
Es dauert gar nicht lange, bis ich ihn sehen kann. Vor mir steht ein etwa sieben Meter hoher Turm mit nur einem einzigen Fenster an der oberen Spitze. Das Gemäuer wirkt alt und verwittert, an manchen Stellen hat es bereits Moos angesetzt. Es haben wohl einige Prinzen vor mir tatsächlich versucht, den Turm zu erklimmen. In den alten Bruchsteinen befinden sich ein paar Steigeisen.
Wenn die Fantasie mit Menschen durchgeht; da werden die Don Quichotes der Gegenwart doch zu imaginären Rapunzelrettern. Ich lache laut auf.
„Rapunzel, Rapunzel, wirf Deinen Zopf hinunter!“, schreie ich amüsiert.
Da fliegt mir auch schon der Zopf auf den Kopf. Ich staune nicht schlecht. Mein Blick folgt wie hypnotisiert dem Verlauf des langen, geflochtenen Kunstwerks, es kommt tatsächlich aus dem Dachfenster.
„Bist Du es, mein Prinz? Bist Du endlich gekommen, mich zu retten?“ Von oben herab klingt die lieblichste Stimme, die ich je gehört habe, durchsetzt von heftigem Weinen.
Ich traue meinen Ohren nicht. Kann das wirklich wahr sein? Bin tatsächlich ich derjenige, der zur Rettung des Rapunzels auserkoren ist? Ich, Harald Schulz, der Buchhalter?
Ich kann nicht an mich halten. Sofort beginne ich den Aufstieg zum Turmfenster, halte mich mit beiden Händen an den geflochtenen Haaren fest, nutze die schon vorhandenen Steigeisen und bewältige den Aufstieg der Wand in nur wenigen Minuten.
„Endlich!“, ruft mir mein Rapunzel entgegen.
Ob ich sie wohl heiraten soll? Wer hat schon je eine Märchenbraut geheiratet? Der Gedanke fasziniert mich.
Mein erster Blick fällt auf ein wunderschönes Mädchen, das sich für sein Alter wirklich gut gehalten hat.
„Komm’ näher!“, ruft sie mir wehmütig entgegen. Das lasse ich mir nicht zweimal sagen. Mit aller mir noch möglichen Energie versuche ich, so dicht wie möglich an sie heran zu kommen.
Doch kaum bin ich in greifbarer Nähe, verwandelt sich ihr Antlitz in das einer bösen alten Frau, mein Rapunzel mutiert zu einer uralten hässlichen Hexe, die ihre Haare mit einer jähen Kopfbewegung entflicht, um sie als Seile zu missbrauchen, mit denen sie mich wie Tentakeln umfängt und an die Gitterstäben des Fensters fesselt.
So steht sie vor mir mit boshaft-vulgärem Lachen, in schwarzer, geschnürter Ledercorsage, dazu geschlitztem Rock und mit einer Peitsche in der rechten Hand, die linke grabscht durch die Stäbe des Turmfensters und versucht, mich stückweise durch die Stäbe zu ziehen.
In dieser Position kann ich einen Blick in den Innenraum erhaschen. Ich staune nicht schlecht. Vor mir liegt das bestausgestattete Dominastudio, das ich je gesehen habe: Fesselwände, ein Schafbock, Peitschen, Handschellen, Halsbänder in allen Größen, Formen und Farben und als Krönung eine Streckbank.
Die Rapunzelhexe brüllt grunzend. „Das hättest Du nicht erwartet, oder? Das Studio habe ich vor ein paar Jahren von Mutter Theresa geerbt, als diese sich in diesem Bereich zur Rente setzte. Sie ist eine gute Freundin, weißt Du. Und in ihrem Job war sie absolut die Beste, ja, sie wusste, wie man der Menschheit Gutes tut!!" Eine Orkanwelle des Lachens ergießt sich über mich.
" Hast Du das noch nicht gewusst? Jede weiße Seite hat auch eine schwarze!“ Der voluminöse Bauch bewegt sich in Wogen auf und ab.
Und während sie noch vor sich hin grunzt, versucht die Peitsche mein bestes Stück zu erwischen. Ich durchschaut den Plan, kann eine Hand befreien, mit der ich versuche, meine empfindlichste Stelle zu schützen, während ich verzweifelt daran arbeite, auch die andere Hand frei zu bekommen. Das Ungeheuer ist erbost über die schützende Hand, zieht meinen Unterkörper näher an die Stäbe und beißt mit einem Haps den Ringfinger meiner rechten ab. Ich schreie laut auf vor Schmerz, doch während die Rapunzelhexe rülpsend meinen Finger verspeist, gelingt es mir, die linke Hand zu befreien. Einem Reflex folgend verpasse ich ihr einen Fausthieb auf die Nase und spucke dabei in ihre Augen.
Damit hat sie wohl nicht gerechnet. Sie flucht laut, schlägt um sich; in einem Augenblick der Verwirrung lockert sich die Umgarnung der Zopfseile, und ich falle mit einem lauten Knall auf den Boden.
Als ich das Bewusstsein wieder erlange, steht neben mir ein besorgter Passant.
„Hatten sie das Warnschild nicht gelesen?“ Er deutet auf ein riesiges Schild vor dem Turm.
„Vorsicht, bissiges Rapunzel!“, ist dort in großen Lettern zu lesen.
„Tja, unser Rapunzel ist wohl ein wenig schizophren geworden. Die langen Jahre der Einsamkeit, wissen sie.“
Ich überlege kurz, ob ich das soeben Geschehene damit entschuldigen soll...
Dann fährt er mich ins Krankenhaus. Nachdem man mich notdürftig zusammengeflickt hat, bettele ich darum, mich der Reisegruppe wieder anschließen zu dürfen, schließlich will ich nicht an diesem unheilvollen Ort bleiben. Also bringt man mich trotz einiger Widerstände zurück.
Der Busfahrer hat schon auf mich gewartet und grinst mich wissend an.
„Na, hast du mein Mädchen getroffen? Sie hatte so wenig Spaß in den letzten Jahren und war schon fast depressiv geworden.“