Verzerrte Spiegelwelt
Verfasst: 16.08.2006, 12:52
Er erwacht durch die Stimme seines Vaters, die ihn mit Vehemenz auffordert, seine Sachen zusammen zu packen und dabei die Tabletten nicht zu vergessen. In einer halben Stunde wünschte er zu fahren.
In Stephens Kopf dröhnt es wie eine Heerschar von Flugzeugen. Der Raum stinkt nach Alkohol und Erbrochenem. Er hatte gestern Nacht wohl in den Flur gekotzt. Nur mit aller Energie gelingt es ihm, die bleiernen Knochen zu ordnen und aufzustehen.
Er torkelt, und bei dem Versuch in das Bad zu gelangen strauchelt er und landet in der stinkenden Brühe.
“Bullshit, scheiß Kotze!”, ungehalten und voller Selbstekel steht er wieder auf.
Im Bad wirft er einen Blick in den Spiegel. Eine Fratze sieht ihn an, verstellt durch den Blick des Betrunkenen, dessen Realität sich schon lange verschoben hat.
“Arschloch, du bist ein Arschloch!”, wiederholt er in Schüben.
Nachdem er sich etwas gereinigt hat, beginnt er seinen Koffer zu packen, will nicht den Zorn des Vaters auf sich ziehen. Auf den Boden des Reisegepäcks legt er zunächst die Medikamente. Nur eine einzige Kapsel davon steckt er in die linke Jackentasche. Auf die Tabletten faltet er eine schwarze Hose und ein weißes Hemd. Mehr würde er nicht brauchen. Dann zieht er den Reißverschluss mit einem Ruck zu.
Sein Blick fällt auf das Foto von Regina, der Königlichen, das immer an seinem Bett steht.
Die Liebende und das Arschloch, konnte sowieso nicht funktionieren, auch, wenn er sie so sehr liebte wie ein Arschloch eben lieben kann.
Doch das Foto sieht ihn trotzdem liebevoll an. “Spring! Entscheide dich zu leben und atme, verdammt, atme doch!”, klingen ihm noch die Worte im Ohr, die er als letztes hörte in diesem Gespräch, in dem sie sich so sehr wünschte, mit ihm durch das Leben gehen zu können, anstatt Hospizarbeit leisten zu müssen.
Aber diese Worte erscheinen ihm so weit entfernt wie der Ruf aus einer fremden Welt; ein kurzer Moment der Versuchung vielleicht, aber nicht stark genug, um die Nebelschwaden zu durchdringen, die seine Vorstellungen schon seit langer Zeit so dicht umhüllen.
Er muss noch einmal ins Bad. Starr vor Selbstaufgabe, unfähig für die Realität begegnet er erneut seinem Spiegelbild. Die Verzweiflung steigt in ihm auf, so stark, dass sein Körper kontrahiert, so dass er zu würgen beginnt. Und wie schon so viele Male kann er ihn nicht abwenden , diesen Hass gegen sich selbst, der ihn in unbändige Wut versetzt. Er entlädt seine Aggression; Mit einem weiteren “Arschloch, du altes Arschloch!”, zerschlägt seine Faust den Spiegel.
Teile des Gesichtes sehen ihn nun aus Spiegelscherben unzusammenhängend an.
“Monster, ich bin ein Monster!” entfährt es ihm mit kehligem Lachen und das erste Mal seit langer Zeit gefällt ihm sein Spiegelbild.
Von den Händen tropft Blut, als handele es sich um die Kreuzigung Jesu, mit dem einzigen Unterschied, dass sein Leidensweg schon zehn Jahre länger dauerte. Wie immer empfindet er das “Leben-Müssen” als Strafe Gottes für ein sündiges Leben.
Stephen bemerkt, dass der Vater den Raum betreten hat, aber er benötigt noch einen kurzen Moment des Abschieds.
Sein Blick durchschweift den Raum, er nimmt Blut, Erbrochenes und eine Unzahl leerer Flaschen wahr.
In der hinteren Ecke seines Zimmers steht sein Schreibtisch, wie immer aufgeräumt, aufgeräumt wie er selbst, wenn er sich in seiner Eigenwelt befindet. Darüber hängt gerahmt sein Doktortitel.
Er erinnert sich schwach an die Jahre, in denen er noch zu klaren Gedanken fähig gewesen war.
Hochmotiviert und mit einem ungeheuren Wissensdrang hatte er seine Studien aufgenommen. Ein erster Abschluss reichte ihm nicht, alles in ihm forderte mehr, zu was es gut sein würde, wusste er zu keiner Zeit. Er erhielt Wissenschaftsstipendien, die es ihm ermöglichten, an dem zu arbeiten, was ihm wichtig erschien. Er knackte das hebräische Verbalsystem, was bisher niemandem gelungen war, jedoch die wissenschaftliche Anerkennung erhielt er nicht. So blieb er ein Suchender… bis diese Bilder zu ihm kamen, die altäthopischen Texte über die Heilige Gottesmutter. Das also war es gewesen, was zu seinem Lebensthema erwählt worden war, und er folgte dem Ruf. Freiwillig zunächst, später empfand er es als Handlungszwang, aus dem er sich nicht mehr befreien konnte.
In diesen Jahren war er der Stolz des Vaters, der ihn für seine Stärke bewunderte und seine Kraft und seinen Ehrgeiz liebte.
Die reale Hand seines Vaters auf der Schulter reißt ihn aus seinen Erinnerungen. Doch die Liebe desjenigen, der versucht ihn, den Kranken, den Verzweifelten zu führen und in das Leben zu geleiten, kann er nicht spüren.
In seiner Wahrnehmung fühlt sich die Hand auf seiner Schulter wie eine übergriffige Krallenhand an, jederzeit bereit, ihm einen Teil seiner selbst zu nehmen. Er zuckt zusammen.
“Komm, mein Sohn, es wird Zeit.”, dringen die väterlichen Worte an sein Ohr. Stephen nimmt die Tasche, um sich auf den Weg zu machen.
Sie steigen gemeinsam und schweigend in das Auto. Der Vater voller Hoffnung, der Sohn mit dem Gefühl des Kreuzganges.
Aus der rechten Jackentasche holt er seine hebräische Bibel hervor, die er als Schutz stets bei sich trägt, bildet sie doch das Fundament des Glaubens der Gottesmutter und ihres Sohnes, Jesus Christus.
“Mutter Gottes, vergib uns unsere Schuld”, verfällt Stephen in ein stummes Gebet. Diese Zeile wiederholt er wohl einhundert Mal als handele es sich um eine Beschwörungsformel.
Am Ziel angekommen bittet er seinen Vater, ihn nicht weiter zu begleiten. Dieser Weg gehört allein zu ihm.
Er klingelt.
Als sich die Tür der Psychiatrie hinter ihm schließt, greift er in die linke Jackentasche, nimmt die darin befindliche Kapsel heraus und zerbeißt sie.
In Stephens Kopf dröhnt es wie eine Heerschar von Flugzeugen. Der Raum stinkt nach Alkohol und Erbrochenem. Er hatte gestern Nacht wohl in den Flur gekotzt. Nur mit aller Energie gelingt es ihm, die bleiernen Knochen zu ordnen und aufzustehen.
Er torkelt, und bei dem Versuch in das Bad zu gelangen strauchelt er und landet in der stinkenden Brühe.
“Bullshit, scheiß Kotze!”, ungehalten und voller Selbstekel steht er wieder auf.
Im Bad wirft er einen Blick in den Spiegel. Eine Fratze sieht ihn an, verstellt durch den Blick des Betrunkenen, dessen Realität sich schon lange verschoben hat.
“Arschloch, du bist ein Arschloch!”, wiederholt er in Schüben.
Nachdem er sich etwas gereinigt hat, beginnt er seinen Koffer zu packen, will nicht den Zorn des Vaters auf sich ziehen. Auf den Boden des Reisegepäcks legt er zunächst die Medikamente. Nur eine einzige Kapsel davon steckt er in die linke Jackentasche. Auf die Tabletten faltet er eine schwarze Hose und ein weißes Hemd. Mehr würde er nicht brauchen. Dann zieht er den Reißverschluss mit einem Ruck zu.
Sein Blick fällt auf das Foto von Regina, der Königlichen, das immer an seinem Bett steht.
Die Liebende und das Arschloch, konnte sowieso nicht funktionieren, auch, wenn er sie so sehr liebte wie ein Arschloch eben lieben kann.
Doch das Foto sieht ihn trotzdem liebevoll an. “Spring! Entscheide dich zu leben und atme, verdammt, atme doch!”, klingen ihm noch die Worte im Ohr, die er als letztes hörte in diesem Gespräch, in dem sie sich so sehr wünschte, mit ihm durch das Leben gehen zu können, anstatt Hospizarbeit leisten zu müssen.
Aber diese Worte erscheinen ihm so weit entfernt wie der Ruf aus einer fremden Welt; ein kurzer Moment der Versuchung vielleicht, aber nicht stark genug, um die Nebelschwaden zu durchdringen, die seine Vorstellungen schon seit langer Zeit so dicht umhüllen.
Er muss noch einmal ins Bad. Starr vor Selbstaufgabe, unfähig für die Realität begegnet er erneut seinem Spiegelbild. Die Verzweiflung steigt in ihm auf, so stark, dass sein Körper kontrahiert, so dass er zu würgen beginnt. Und wie schon so viele Male kann er ihn nicht abwenden , diesen Hass gegen sich selbst, der ihn in unbändige Wut versetzt. Er entlädt seine Aggression; Mit einem weiteren “Arschloch, du altes Arschloch!”, zerschlägt seine Faust den Spiegel.
Teile des Gesichtes sehen ihn nun aus Spiegelscherben unzusammenhängend an.
“Monster, ich bin ein Monster!” entfährt es ihm mit kehligem Lachen und das erste Mal seit langer Zeit gefällt ihm sein Spiegelbild.
Von den Händen tropft Blut, als handele es sich um die Kreuzigung Jesu, mit dem einzigen Unterschied, dass sein Leidensweg schon zehn Jahre länger dauerte. Wie immer empfindet er das “Leben-Müssen” als Strafe Gottes für ein sündiges Leben.
Stephen bemerkt, dass der Vater den Raum betreten hat, aber er benötigt noch einen kurzen Moment des Abschieds.
Sein Blick durchschweift den Raum, er nimmt Blut, Erbrochenes und eine Unzahl leerer Flaschen wahr.
In der hinteren Ecke seines Zimmers steht sein Schreibtisch, wie immer aufgeräumt, aufgeräumt wie er selbst, wenn er sich in seiner Eigenwelt befindet. Darüber hängt gerahmt sein Doktortitel.
Er erinnert sich schwach an die Jahre, in denen er noch zu klaren Gedanken fähig gewesen war.
Hochmotiviert und mit einem ungeheuren Wissensdrang hatte er seine Studien aufgenommen. Ein erster Abschluss reichte ihm nicht, alles in ihm forderte mehr, zu was es gut sein würde, wusste er zu keiner Zeit. Er erhielt Wissenschaftsstipendien, die es ihm ermöglichten, an dem zu arbeiten, was ihm wichtig erschien. Er knackte das hebräische Verbalsystem, was bisher niemandem gelungen war, jedoch die wissenschaftliche Anerkennung erhielt er nicht. So blieb er ein Suchender… bis diese Bilder zu ihm kamen, die altäthopischen Texte über die Heilige Gottesmutter. Das also war es gewesen, was zu seinem Lebensthema erwählt worden war, und er folgte dem Ruf. Freiwillig zunächst, später empfand er es als Handlungszwang, aus dem er sich nicht mehr befreien konnte.
In diesen Jahren war er der Stolz des Vaters, der ihn für seine Stärke bewunderte und seine Kraft und seinen Ehrgeiz liebte.
Die reale Hand seines Vaters auf der Schulter reißt ihn aus seinen Erinnerungen. Doch die Liebe desjenigen, der versucht ihn, den Kranken, den Verzweifelten zu führen und in das Leben zu geleiten, kann er nicht spüren.
In seiner Wahrnehmung fühlt sich die Hand auf seiner Schulter wie eine übergriffige Krallenhand an, jederzeit bereit, ihm einen Teil seiner selbst zu nehmen. Er zuckt zusammen.
“Komm, mein Sohn, es wird Zeit.”, dringen die väterlichen Worte an sein Ohr. Stephen nimmt die Tasche, um sich auf den Weg zu machen.
Sie steigen gemeinsam und schweigend in das Auto. Der Vater voller Hoffnung, der Sohn mit dem Gefühl des Kreuzganges.
Aus der rechten Jackentasche holt er seine hebräische Bibel hervor, die er als Schutz stets bei sich trägt, bildet sie doch das Fundament des Glaubens der Gottesmutter und ihres Sohnes, Jesus Christus.
“Mutter Gottes, vergib uns unsere Schuld”, verfällt Stephen in ein stummes Gebet. Diese Zeile wiederholt er wohl einhundert Mal als handele es sich um eine Beschwörungsformel.
Am Ziel angekommen bittet er seinen Vater, ihn nicht weiter zu begleiten. Dieser Weg gehört allein zu ihm.
Er klingelt.
Als sich die Tür der Psychiatrie hinter ihm schließt, greift er in die linke Jackentasche, nimmt die darin befindliche Kapsel heraus und zerbeißt sie.