Stayin' Alive
Verfasst: 05.08.2006, 16:01
NEUE FASSUNG (alte siehe weiter unten):
Sie sitzt auf der Bettkante und schaut geradeaus auf die gegenüberliegende Wand. Kein Blick zur Tür und offensichtlich kein Gedanke daran, wer eingetreten sei. Das Zimmer ist abgedunkelt. Durch die Schlitze des Rollladens versucht die Sonne einzudringen. Unterbrochene Lichtstreifen überspannen das Innere wie ein Netz, 'nehmen gefangen', denke ich.
"Hallo" begrüße ich sie, fühle mich schon bei diesem einen Wort unbeholfen. Keine Reaktion. Ganz, wie es mir prophezeit wurde. Trotzdem zögere ich, weiter zu sprechen. Alles was ich mir zurechtgelegt hatte, erscheint mir nun unpassend, selbstgerecht.
Ich setze mich auf das Sofa ihr gegenüber. Genau in ihr Blickfeld. Ihre Haare sind strähnig, reichen bis an die Schulter, sind nicht mehr so blond wie damals. Sie sitzt übertrieben gerade, beinahe so, als drücke jemand von hinten ihr Kreuz durch. Ihre Gesichtszüge sind markanter geworden. Die Wangenknochen stehen hervor. Dadurch wirken ihre Augen besonders groß, und als hätten sie sich zurückgezogen, als lägen sie in einem Höhleneingang auf der Lauer.
Sie trägt weite Kleidung. Aus den Hosenbeinen schauen ihre nackten Füße. Ihre großen Zehen sind nicht so lang wie ihre Nachbarn.
Ich erkläre ihr, wer ich bin. In meiner Vorstellung kam jetzt schon eine Reaktion von ihr. Irgendein Signal, dass sie mich wahrnimmt, versteht, wer ich bin. Nichts. Ich Naivling. Dachte, ich könnte hier durch meine bloße Erscheinung den Helden spielen, käme hereinspaziert und würde mit ihr zurückkehren. Eine Weile sage ich nichts. Auf dem Flur klappert Geschirr. Am liebsten würde ich sie durchschütteln und anschreien: "Sag doch was, verdammt! Das ist doch nicht so schwer! Ich hatte auch nicht nur rosige Zeiten!".
Stattdessen flüstere ich mein Leben runter. Ich weiß gar nicht, ob sie es von der Lautstärke her überhaupt verstehen kann. Bei der Scheidung kommen mir fast die Tränen. Wie Lilly heulend und altklug sagte: "Man kann doch über alles reden, das habt ihr doch immer gesagt!".
Mein Leben dauert ungefähr eine halbe Stunde (wie armselig). Und nun sitze ich auf dem kartesischen Nullpunkt und weiß nicht weiter. Ich kann mich jetzt entscheiden, ob mein weiteres Leben im ersten oder im vierten Quadranten verlaufen soll. Scheiß Psychoanalyse.
"Anne, du warst meine erste Liebe! Deshalb bin ich hier." Würdest du sprechen, sagtest du vermutlich, dass daraus keine Verantwortlichkeit entstünde... und Tschüss. Aber du bist ein Stein. Wie gerne hätte ich Hammer und Meißel zur Hand, dann würde ich dein Gesicht erstrahlen lassen, wie damals. Aber alles was übrig ist, ist ein 'Weißt du noch... ohne Antwort'.
Draußen vor dem Fenster geht jemand vorüber und die Lichtstreifen im Zimmer kommen in Bewegung, wie die Reflexe einer Discokugel. Beim Tanz waren wir vereinter als beim Sex. Meine Gedanken verlieren die Bodenhaftung. Plötzlich springe ich auf und singe laut Stayin' Alive. Dabei spaziere ich mit dem beschwingten Schritt von John Travolta aus der Anfangsszene durch das Zimmer.
Well, you can tell by the way I use my walk,
I'm a woman's man: no time to talk.
Music loud and women warm.
I've been kicked around since I was born.
And now it's all right - it's O.K. -
And you may look the other way ... singe ich laut und ohne Hemmung. Ich beginne ausgelassen zu tanzen. Alle Tänze von 'Saturday Night Fever' beherrschten wir perfekt... (weißt du noch?...) Ich reiße meine Arme hoch, bin nun mitten im im Solo zu "You should be daaaaancing", da wird die Tür geöffnet. Augenblicklich verharre ich, senke sie langsam wieder und drehe mich zur Tür.
"Ich wollte nur mal schauen, ob alles klar ist. Die Besuchszeit wäre dann auch vorbei", sagt eine Pflegerin. Sie tut so, als sei es ganz normal, dass Besucher laut singend im Zimmer tanzen. Beim Rausgehen sehe ich, wie sich Annes kleiner Zeh bewegt. Ich muss lächeln. Morgen komme ich wieder. Erster Quadrant.
ALTE FASSUNG:
Meine Hand ruht auf der Kunststoffklinke. Die Tür ist breiter als gewöhnlich. Vermutlich, damit auch ein Bett hindurchgeschoben werden kann. Im Bedarfsfall. Hier und dort stehen Pflanzenkübel. Die Sitzecke am Ende des Flures mit Aquarium und indirektem Licht strahlt Wohnzimmercharakter aus. Das Bemühen mit einfachen Mitteln vom Krankenhausflair abzulenken, ist offensichtlich. Der Desinfektionsgeruch vereitelt diese Absicht. Ich verspüre den Drang, wieder an die frische Luft zu wollen, frei zu atmen. Habe ich überhaupt Recht dazu, einzutreten?
Eben bin ich gewarnt worden. Sie sagte, wenn ich sie 20 Jahre nicht gesehen hätte, würde ich sie kaum wieder erkennen. Ich antwortete, dass mir das gleich sei und es ein langwieriger Entschluss gewesen wäre. Nun bin ich doch unsicher. Vielleicht hätte ich nicht darauf bestehen sollen, allein zu gehen. Hat doch alles keinen Sinn, denke ich, ziehe meine Hand zurück und steckte sie in die Hosentasche. Raus hier. Da sehe ich die Frau, mit der ich das Gespräch führte. Als würde ich ihre Fragen mehr scheuen als das Ungewisse, öffne ich nun doch schwungvoll die schwere Tür und trete ein.
Sie sitzt auf der Bettkante und schaut geradeaus auf die gegenüberliegende Wand. Kein Blick zur Tür und offensichtlich kein Gedanke daran, wer wohl eingetreten sei. Das Zimmer ist abgedunkelt. Durch die Schlitze des Rollladens versucht die Sonne verzweifelt einzudringen. Unterbrochene Lichtstreifen überspannen das Innere wie ein Netz, "nimmt gefangen", denke ich.
"Hallo" begrüße ich sie, fühle mich schon bei diesem einen Wort unbeholfen. Keine Reaktion. Ganz, wie es mir prophezeit wurde. Trotzdem zögere ich, weiter zu sprechen. Erneut bahnt sich das Gefühl der Sinnlosigkeit seinen Weg. Alles was ich mir zurechtgelegt hatte, erscheint mir nun unpassend, selbstgerecht.
Ich setze mich auf das Sofa ihr gegenüber. Genau in ihr Blickfeld. Ihre Haare sind strähnig, reichen bis an die Schulter, sind nicht mehr so blond wie damals. Sie sitzt übertrieben gerade, beinahe so, als drücke jemand von hinten ihr Kreuz durch. Ihre Gesichtszüge sind markanter geworden. Die Wangenknochen stehen hervor. Dadurch wirken ihre Augen besonders groß, und als hätten sie sich zurückgezogen, als lägen sie in einem Höhleneingang auf der Lauer.
Sie trägt eine weite Baumwollhose und ein weißes T-Shirt. Auf dem Kragen ist ein gelber Fleck. Ob sie noch Kaffee trinken darf ? Sie ist barfüßig.
Ich erkläre ihr, wer ich bin. In meiner Vorstellung kam jetzt schon eine Reaktion von ihr. Irgendein Signal, dass sie mich wahrnimmt, versteht, wer ich bin. Nichts. Ich Naivling. Dachte, ich könnte hier durch meine bloße Erscheinung den Helden spielen, käme hereinspaziert und würde mit ihr zurückkehren. Eine Weile sage ich nichts. Auf dem Flur klappert Geschirr. Am liebsten würde ich sie durchschütteln und anschreien: "Sag doch was, verdammt ! Das ist doch nicht so schwer ! Ich hatte auch nicht nur rosige Zeiten!".
Stattdessen flüstere ich mein Leben runter. Ich weiß gar nicht, ob sie es von der Lautstärke her überhaupt verstehen kann. Bei der Scheidung kommen mir fast die Tränen. Wie Lilly heulend und altklug sagte: "Man kann doch über alles reden, das habt ihr doch immer gesagt!".
Mein Leben dauert ungefähr eine Stunde (wie armselig). Und nun sitze ich auf dem kartesischen Nullpunkt. Ich kann mich jetzt entscheiden, ob mein weiteres Leben im ersten oder im vierten Quadranten verlaufen soll. Scheiß Psychoanalyse.
"Annegret, du warst meine erste Liebe! Deshalb bin ich hier." Würdest du sprechen, sagtest du vermutlich, dass daraus keine Verantwortlichkeit entstünde ... und Tschüß. Aber du bist ein Stein. Wie gerne hätte ich Hammer und Meißel zur Hand, dann würde ich dein Gesicht strahlend machen, wie damals. Aber alles was übrig ist, ist ein 'Weißt du noch ...ohne Antwort'.
Meine Gedanken verlieren die Bodenhaftung. Plötzlich springe ich auf und singe laut Stayin' Alive. Dabei spaziere ich mit dem beschwingten Schritt von John Travolta aus der Anfangsszene durch das Zimmer.
Well, you can tell by the way I use my walk,
I'm a woman's man: no time to talk.
Music loud and women warm.
I've been kicked around since I was born.
And now it's all right - it's O.K. -
And you may look the other way ... singe ich laut und ohne Hemmung. Ich beginne ausgelassen zu tanzen. Jeden Tanz konnten wir perfekt imitieren ... (weißt du noch?...) Ich reiße meine Arme hoch, bin mitten im im Solo zu "You should be daaaaancing", da wird die Tür geöffnet. Augenblicklich verharre ich, senke sie langsam wieder und drehe mich zur Tür.
"Ich wollte nur mal schauen, ob alles klar ist. Die Besuchszeit wäre dann auch vorbei", sagt die Frau, mit der ich das "Aufklärungsgespräch" hatte. Sie tut so, als sei es ganz normal, dass Besucher laut singend im Zimmer tanzen. Beim Rausgehen sehe ich, wie sich Annegrets kleiner Zeh bewegt. Ich muss lächeln. Morgen komme ich wieder. Erster Quadrant.
Edit: Jürgens Kritik umgesetzt
Sie sitzt auf der Bettkante und schaut geradeaus auf die gegenüberliegende Wand. Kein Blick zur Tür und offensichtlich kein Gedanke daran, wer eingetreten sei. Das Zimmer ist abgedunkelt. Durch die Schlitze des Rollladens versucht die Sonne einzudringen. Unterbrochene Lichtstreifen überspannen das Innere wie ein Netz, 'nehmen gefangen', denke ich.
"Hallo" begrüße ich sie, fühle mich schon bei diesem einen Wort unbeholfen. Keine Reaktion. Ganz, wie es mir prophezeit wurde. Trotzdem zögere ich, weiter zu sprechen. Alles was ich mir zurechtgelegt hatte, erscheint mir nun unpassend, selbstgerecht.
Ich setze mich auf das Sofa ihr gegenüber. Genau in ihr Blickfeld. Ihre Haare sind strähnig, reichen bis an die Schulter, sind nicht mehr so blond wie damals. Sie sitzt übertrieben gerade, beinahe so, als drücke jemand von hinten ihr Kreuz durch. Ihre Gesichtszüge sind markanter geworden. Die Wangenknochen stehen hervor. Dadurch wirken ihre Augen besonders groß, und als hätten sie sich zurückgezogen, als lägen sie in einem Höhleneingang auf der Lauer.
Sie trägt weite Kleidung. Aus den Hosenbeinen schauen ihre nackten Füße. Ihre großen Zehen sind nicht so lang wie ihre Nachbarn.
Ich erkläre ihr, wer ich bin. In meiner Vorstellung kam jetzt schon eine Reaktion von ihr. Irgendein Signal, dass sie mich wahrnimmt, versteht, wer ich bin. Nichts. Ich Naivling. Dachte, ich könnte hier durch meine bloße Erscheinung den Helden spielen, käme hereinspaziert und würde mit ihr zurückkehren. Eine Weile sage ich nichts. Auf dem Flur klappert Geschirr. Am liebsten würde ich sie durchschütteln und anschreien: "Sag doch was, verdammt! Das ist doch nicht so schwer! Ich hatte auch nicht nur rosige Zeiten!".
Stattdessen flüstere ich mein Leben runter. Ich weiß gar nicht, ob sie es von der Lautstärke her überhaupt verstehen kann. Bei der Scheidung kommen mir fast die Tränen. Wie Lilly heulend und altklug sagte: "Man kann doch über alles reden, das habt ihr doch immer gesagt!".
Mein Leben dauert ungefähr eine halbe Stunde (wie armselig). Und nun sitze ich auf dem kartesischen Nullpunkt und weiß nicht weiter. Ich kann mich jetzt entscheiden, ob mein weiteres Leben im ersten oder im vierten Quadranten verlaufen soll. Scheiß Psychoanalyse.
"Anne, du warst meine erste Liebe! Deshalb bin ich hier." Würdest du sprechen, sagtest du vermutlich, dass daraus keine Verantwortlichkeit entstünde... und Tschüss. Aber du bist ein Stein. Wie gerne hätte ich Hammer und Meißel zur Hand, dann würde ich dein Gesicht erstrahlen lassen, wie damals. Aber alles was übrig ist, ist ein 'Weißt du noch... ohne Antwort'.
Draußen vor dem Fenster geht jemand vorüber und die Lichtstreifen im Zimmer kommen in Bewegung, wie die Reflexe einer Discokugel. Beim Tanz waren wir vereinter als beim Sex. Meine Gedanken verlieren die Bodenhaftung. Plötzlich springe ich auf und singe laut Stayin' Alive. Dabei spaziere ich mit dem beschwingten Schritt von John Travolta aus der Anfangsszene durch das Zimmer.
Well, you can tell by the way I use my walk,
I'm a woman's man: no time to talk.
Music loud and women warm.
I've been kicked around since I was born.
And now it's all right - it's O.K. -
And you may look the other way ... singe ich laut und ohne Hemmung. Ich beginne ausgelassen zu tanzen. Alle Tänze von 'Saturday Night Fever' beherrschten wir perfekt... (weißt du noch?...) Ich reiße meine Arme hoch, bin nun mitten im im Solo zu "You should be daaaaancing", da wird die Tür geöffnet. Augenblicklich verharre ich, senke sie langsam wieder und drehe mich zur Tür.
"Ich wollte nur mal schauen, ob alles klar ist. Die Besuchszeit wäre dann auch vorbei", sagt eine Pflegerin. Sie tut so, als sei es ganz normal, dass Besucher laut singend im Zimmer tanzen. Beim Rausgehen sehe ich, wie sich Annes kleiner Zeh bewegt. Ich muss lächeln. Morgen komme ich wieder. Erster Quadrant.
ALTE FASSUNG:
Meine Hand ruht auf der Kunststoffklinke. Die Tür ist breiter als gewöhnlich. Vermutlich, damit auch ein Bett hindurchgeschoben werden kann. Im Bedarfsfall. Hier und dort stehen Pflanzenkübel. Die Sitzecke am Ende des Flures mit Aquarium und indirektem Licht strahlt Wohnzimmercharakter aus. Das Bemühen mit einfachen Mitteln vom Krankenhausflair abzulenken, ist offensichtlich. Der Desinfektionsgeruch vereitelt diese Absicht. Ich verspüre den Drang, wieder an die frische Luft zu wollen, frei zu atmen. Habe ich überhaupt Recht dazu, einzutreten?
Eben bin ich gewarnt worden. Sie sagte, wenn ich sie 20 Jahre nicht gesehen hätte, würde ich sie kaum wieder erkennen. Ich antwortete, dass mir das gleich sei und es ein langwieriger Entschluss gewesen wäre. Nun bin ich doch unsicher. Vielleicht hätte ich nicht darauf bestehen sollen, allein zu gehen. Hat doch alles keinen Sinn, denke ich, ziehe meine Hand zurück und steckte sie in die Hosentasche. Raus hier. Da sehe ich die Frau, mit der ich das Gespräch führte. Als würde ich ihre Fragen mehr scheuen als das Ungewisse, öffne ich nun doch schwungvoll die schwere Tür und trete ein.
Sie sitzt auf der Bettkante und schaut geradeaus auf die gegenüberliegende Wand. Kein Blick zur Tür und offensichtlich kein Gedanke daran, wer wohl eingetreten sei. Das Zimmer ist abgedunkelt. Durch die Schlitze des Rollladens versucht die Sonne verzweifelt einzudringen. Unterbrochene Lichtstreifen überspannen das Innere wie ein Netz, "nimmt gefangen", denke ich.
"Hallo" begrüße ich sie, fühle mich schon bei diesem einen Wort unbeholfen. Keine Reaktion. Ganz, wie es mir prophezeit wurde. Trotzdem zögere ich, weiter zu sprechen. Erneut bahnt sich das Gefühl der Sinnlosigkeit seinen Weg. Alles was ich mir zurechtgelegt hatte, erscheint mir nun unpassend, selbstgerecht.
Ich setze mich auf das Sofa ihr gegenüber. Genau in ihr Blickfeld. Ihre Haare sind strähnig, reichen bis an die Schulter, sind nicht mehr so blond wie damals. Sie sitzt übertrieben gerade, beinahe so, als drücke jemand von hinten ihr Kreuz durch. Ihre Gesichtszüge sind markanter geworden. Die Wangenknochen stehen hervor. Dadurch wirken ihre Augen besonders groß, und als hätten sie sich zurückgezogen, als lägen sie in einem Höhleneingang auf der Lauer.
Sie trägt eine weite Baumwollhose und ein weißes T-Shirt. Auf dem Kragen ist ein gelber Fleck. Ob sie noch Kaffee trinken darf ? Sie ist barfüßig.
Ich erkläre ihr, wer ich bin. In meiner Vorstellung kam jetzt schon eine Reaktion von ihr. Irgendein Signal, dass sie mich wahrnimmt, versteht, wer ich bin. Nichts. Ich Naivling. Dachte, ich könnte hier durch meine bloße Erscheinung den Helden spielen, käme hereinspaziert und würde mit ihr zurückkehren. Eine Weile sage ich nichts. Auf dem Flur klappert Geschirr. Am liebsten würde ich sie durchschütteln und anschreien: "Sag doch was, verdammt ! Das ist doch nicht so schwer ! Ich hatte auch nicht nur rosige Zeiten!".
Stattdessen flüstere ich mein Leben runter. Ich weiß gar nicht, ob sie es von der Lautstärke her überhaupt verstehen kann. Bei der Scheidung kommen mir fast die Tränen. Wie Lilly heulend und altklug sagte: "Man kann doch über alles reden, das habt ihr doch immer gesagt!".
Mein Leben dauert ungefähr eine Stunde (wie armselig). Und nun sitze ich auf dem kartesischen Nullpunkt. Ich kann mich jetzt entscheiden, ob mein weiteres Leben im ersten oder im vierten Quadranten verlaufen soll. Scheiß Psychoanalyse.
"Annegret, du warst meine erste Liebe! Deshalb bin ich hier." Würdest du sprechen, sagtest du vermutlich, dass daraus keine Verantwortlichkeit entstünde ... und Tschüß. Aber du bist ein Stein. Wie gerne hätte ich Hammer und Meißel zur Hand, dann würde ich dein Gesicht strahlend machen, wie damals. Aber alles was übrig ist, ist ein 'Weißt du noch ...ohne Antwort'.
Meine Gedanken verlieren die Bodenhaftung. Plötzlich springe ich auf und singe laut Stayin' Alive. Dabei spaziere ich mit dem beschwingten Schritt von John Travolta aus der Anfangsszene durch das Zimmer.
Well, you can tell by the way I use my walk,
I'm a woman's man: no time to talk.
Music loud and women warm.
I've been kicked around since I was born.
And now it's all right - it's O.K. -
And you may look the other way ... singe ich laut und ohne Hemmung. Ich beginne ausgelassen zu tanzen. Jeden Tanz konnten wir perfekt imitieren ... (weißt du noch?...) Ich reiße meine Arme hoch, bin mitten im im Solo zu "You should be daaaaancing", da wird die Tür geöffnet. Augenblicklich verharre ich, senke sie langsam wieder und drehe mich zur Tür.
"Ich wollte nur mal schauen, ob alles klar ist. Die Besuchszeit wäre dann auch vorbei", sagt die Frau, mit der ich das "Aufklärungsgespräch" hatte. Sie tut so, als sei es ganz normal, dass Besucher laut singend im Zimmer tanzen. Beim Rausgehen sehe ich, wie sich Annegrets kleiner Zeh bewegt. Ich muss lächeln. Morgen komme ich wieder. Erster Quadrant.
Edit: Jürgens Kritik umgesetzt