Die Cthulhu-Chroniken -- Episode 13 -- Katholu

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Mnemosyne
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Beitragvon Mnemosyne » 24.12.2023, 10:09

Es ist Samstagmorgen. Ich liege entspannt auf meinem Bett und lese.

"EY, MENSCH!"

So muss Schopenhauers Pudel sich gefühlt haben. Seufzend lege ich "Die Welt als Wille und Vorstellung" beiseite.

"Was gibt's, Monster?" Ich nehme einen Schluck Wasser aus der Flasche neben mir.

"Haben wir einen Rosenkranz?"

Und spucke ihn prustend wieder aus. "Einen WAS?"

"Sag bloß, Du weißt nicht, was ein Rosenkranz ist. So ein Ding zum Beten halt."

Alles wäre einfacher, wenn er, wie das letzte Mal, nach Flusssäure verlangt hätte. „Zur Verdauung“, hatte er gesagt. Das war kurz nach der Sache mit meinem Nachbarn. Oder, wie vorgestern, nach blickdichten Vorhängen. Das hat mir wenigstens nur Angst gemacht. Das hier ist schlimmer: Es macht mich neugierig. Ich beginne, mich mit der Vorstellung abzufinden, aufzustehen.

"Hamma nicht.", sage ich einstweilen, und komme mir vor wie im Supermarkt.

"Was? Warum nicht?"

"Was soll ich denn damit? Hast Du mich schon einmal beten sehen?"

"Klar, vorgestern Abend!"

Mein Versuch, mich an vorgestern Abend zu erinnern, gestaltet sich erstaunlich schwierig. Irgendwie ist alles unscharf und ich vergesse ständig, woran ich mich erinnern will. Außerdem habe ich einen unangenehmen Pfeifton im Ohr, der umso lauter wird, je mehr ich mich bemühe. Rührend, wie mein Gedächtnis immer wieder versucht, mich zu beschützen. Ich bleibe trotzdem dran.

"Das zählt nicht", gebe ich einige Schweißausbrüche und Kopfschmerzattacken später zurück. "Da stand die ganze Wohnung in Flammen. Und als ich fliehen wollte, hat die Türklinke versucht, mir die Hand abzubeißen." Unwillkürlich schaue ich mich um. Die Wohnung ist ein bisschen staubig, aber ansonsten in Ordnung. "Zumindest sah es so aus."

"Und am Abend davor?"

Ich habe keine Ahnung, was vorvorgestern Abend war. Durch Bauchschmerzen und Herzflattern lasse ich mich diesmal widerwillig davon überzeugen, es gar nicht erst zu versuchen. Stattdessen stehe ich auf und gehe ins Wohnzimmer.

Dort fallen mir vier Dinge auf. Drei davon sind selbst für seine Verhältnisse außergewöhnlich.
Cthulhu trägt ein Kruzifix um den Hals, das golden aus seinen Tentakeln hervorblitzt. Er liest die Bibel. Auf seinem Kopf sitzt eine aus Zeitungspapier gefaltete Papstmütze. Und er selbst auf dem Sofa. Warum ist mir die Sache mit dem Sofa aufgefallen, denke ich, die ist ja nun wirklich nicht weiter erwähnenswert; aber andererseits gibt es gerade wichtigeres.

"Was zur Hölle tust Du da?"

Die Barttentakel werden von einem stoßartigen Ausatmen in Bewegung versetzt. Pffff. Dabei kommt kurz ein Namensschild mit der Aufschrift „Katholu“ zum Vorschein. "Wonach sieht es wohl aus?"

"Gut, ich ändere meine Frage: Warum?"

Eines der Barttentakel schwingt nach oben und zeigt auf eine Schlagzeile auf der Zeitungsmütze. "Katholische Stadtjugend sucht Maskottchen" steht da. Ich nehme Cthulhu die Zeitung vom Kopf und falte sie auseinander. "Ey!" ruft Cthulhu, "gib die wieder her!"

Irgendwie ist die Zeitung jetzt wieder auf seinem Kopf. Dass es 1000€ Preisgeld gibt, habe ich vorher noch lesen können. Immerhin.

"Was willst Du mit 1000 Euro?" frage ich.

"Gar nichts. Was soll ich mit Geld? Wenn ich das brauche, nehme ich einfach deins."

Er schmiert einem keinen Honig ums Maul, das muss man ihm lassen. Irgendwie weiß ich diese Offenheit ja zu schätzen.

"Ich habe darüber nachgedacht, was Du neulich im Restaurant meintest. Dass ich Schwierigkeiten habe, Anhänger zu finden. Das stimmt leider schon. Die Sache mit der Angst, beim Weltuntergang benachteiligt zu werden allein zieht nicht. Die Leute wissen zu wenig von mir und nehmen mich zu wenig ernst. Und ich brauche Kultisten. Diener."

"Damit sie dir Menschenopfer darbringen, Dimensionstore für dich öffnen, den Weltuntergang vorbereiten und solche Sachen?" rekapituliere ich.

"Genau." Ein Rauschen geht durch die Tentakel; offenbar freut er sich darüber, wie gut ich ihn verstehe.

"Und Du denkst, dass du da in der Flensburger Jugendkirche die richtigen Kandidaten für findest?"

"Irgendwo muss man halt anfangen. Und ihr Symbol gefällt mir eigentlich schon mal ganz gut. Damit kann man arbeiten." Einige Tentakelspitzen umschlingen das Kruzifix und halten es mir entgegen.

"Das Bild eines Menschen, der gerade auf grausige Weise zu Tode gefoltert wird?"

"Genau. Ich meine, die lernen ja schon als Kleinkinder, es völlig normal zu finden, dass so etwas überall herum hängt. Und dieses Buch..." Einige Tentakel saugen sich an der Außenseite der Bibel fest und schwenken sie herum. „Also, je mehr ich lese, desto besser gefällt mir das. Dieser Jehova ist ein echt sympathischer Typ. Die Sintflut, der Feuerregen, die Sache mit Hiob – das hätte von mir sein können. Ich glaube fast, das war einer von uns. Ich muss auf der nächsten Vollversammlung mal herumfragen, ob den jemand kennt.“

"Du meinst, der alttestamentarische Gott war einer der großen Alten?"

"Könnte schon sein. Auf jeden Fall ist das Buch richtig inspirierend."

"Ich glaube, der zweite Teil könnte dich etwas enttäuschen."

„Es gibt einen zweiten Teil?“ Von freudiger Erwartung erfasst, richten sich die Tentakel vom Gesicht weg gerade nach vorne und beginnen zu zappeln, wie sehnsuchtsvoll nach Süßem ausgestreckte Kleinkinderarme. Cthulhu dreht das Buch wieder zu sich hin; ein Tentakel schiebt sich ins letzte Drittel und beginnt, scheinbar wahllos in den Seiten herumzublättern, während die Augen über die Zeilen wandern. Je weiter er kommt, desto weiter sinken die Fangarme, die nicht zum Blättern verwendet werden. Schließlich lässt er das Buch mit einem Ruck fallen. Der Bart hängt schlaff herunter.

„Ich habe ja schon viele schlechte Fortsetzungen gesehen. Matrix. Dragonheart. Herr der Ringe. Harry Potter. Alles läuft so vielversprechend, ehe zum Schluss dann doch alles schief geht. Ist irgendwie so ein Ding in der Menschenliteratur, diese „unhappy ends“. Aber das hier ist wirklich...“ Er scheint um Worte zu ringen, aber keine zu finden. “Kann man das mit diesem Jesus-Typ nicht einfach weglassen?

„Ich glaube nicht. Die Marke baut doch stark drauf auf.“ Ich deute auf das Kruzifix an Cthulhus Hals.

„Du meinst, das ist...?“

„Genau.“

Der Tentakelschwarm weicht vor dem Kruzifix zurück wie Fettaugen vor einem Tropfen Spülmittel. Sehr langsam tasten sich drei von links und eines von rechts wieder darauf zu, haken sich mit den äußersten Spitzen in die Kette und reißen sie mit einem Ruck ab. Sie fliegt quer durch das Zimmer; dem Geräusch nach landet sie irgendwo im Bücherregal. Kurz darauf landet die Papstmütze als zerknüllter Papierball im Abfalleimer. Einige Dutzend Tentakel rubbeln hektisch über Hals und Kopf, wie um die Berührung abzuwaschen. Ich ziehe mich lieber zurück.

Als ich eine halbe Stunde später den Raum wieder betrete, ist Cthulhu bereits dabei, seine Bibel-Lektüre fortzusetzen.

„Nanu“, sage ich, „gerade konntest Du sie doch gar nicht schnell genug loswerden.“

Er schaut mich über den Buchrand hinweg an. „Ja. Aber inzwischen habe ich ein bisschen gegoogelt. Das hat mich wieder beruhigt. Eigentlich sind diese Christen schon voll in Ordnung. Es kommt ja nicht nur auf die Theorie an, sondern auch auf das, was man daraus macht. Und wenn ich es richtig sehe, ist alles, was sie von diesem Typen behalten haben, eine ziemlich geschmackvolle Todesszene. Was sie wirklich getrieben haben – Kreuzzüge, Ketzerverbrennungen, Hexenprozesse und so – also, damit kann man schon arbeiten.“

„Es ist doch immer wieder interessant und anregend, mal eine ganz neue Perspektive auf die Dinge kennenzulernen“, sage ich.

„Danke.“ Cthulhu räuspert sich. „Ich denke, mit dem Christentum ist es wie mit dem Kommunismus – an sich eine furchtbare Sache, aber letztlich doch ganz brauchbar umgesetzt.“

Ich stelle mir Cthulhu mit einem schwarzen Barett auf dem Kopf vor, auf dessen Vorderseite ein roter Stern prangt. Über die Vorstellung muss ich grinsen.

„Und jetzt? Soll ich deine Mütze aus dem Papierkorb holen?“

„Nee, lass mal. Nach allem, was ich jetzt weiß, bin ich sicher, dass dieser Jehova einer von uns ist. Und einem Kollegen seine Kultisten abzuwerben, so etwas macht man einfach nicht. Es gibt ja genug andere Möglichkeiten.“

Kurz überfliege ich die Flyer, die verstreut um Cthulhu auf dem Sofa liegen: Eine Meditationsgruppe von Scientology, ein Kennenlernabend der AfD-Jugend, ein Pamphlet der Flat-Earth-Bewegung und ein Werbeprospekt von Tupperware.

Da hat er wohl noch einiges vor.

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