Prosa - Kartoffelernte

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thami
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Beitragvon thami » 16.08.2020, 17:18

Kartoffelernte



ich höre, ich verstehe, das Verstehbare so fremd
/ Sylvie Germain /



Am Ende der Schulstunden und auf dem Weg zu den Busbahnhöfen inszenierte sich der immer gleiche Trubel, die Schlacht um Mützen, Rucksäcke und deren Inhalte. Während einer ein geplündertes Pausenbrot in die Rinne trat, mochte der andere denjenigen ohrfeigen, der lange an der Mauerwand schwieg. Als sich der Bus näherte, erschien kurzweilig Frieden. Zugleich schuf die Masse schreiender, drängender, nun in den Bus hinein stolpernder Schüler neue Fronten, strategische Auseinandersetzun-gen im verbissenen Kampf um die begehrtesten Plätze, unterbrochen vom Gebrüll des den Gang abschreitenden Fahrers, dessen scheinbar strafende Gesten unbeholfen, abgenutzt und daher erkannt waren, was den einen oder andern zum Mitleid gemahnte oder zur Steigerung dieses alltäglichen Rituals. Bald dröhnte der Mittagsschlag des nahegelegenen Kirchengebäudes.

Im Inneren des Busses, wiederum dem Ritual entsprechend, herrschte augenblicklich Totenstille. Die bronzenen Zeiger hatten sich überdeckt, wie Finger auf eine Gewissheit weisend, die wiederkehrte und in der man gefangen war, und bestünde diese Gefangenschaft nur aus wiederkehrenden Uhrschlägen, dem sauren und nie gelüfteten Klassenzimmer, der rissigen Tafel, dem sauren Geruch des Anzugs des Lehrers, der im neonflackernden Licht ein Buch aufschlug oder die Reihen vorgezeigter Hausarbeiten abging. Im Augenblick, als sich die Zeiger der Turmuhr überkreuzten, warf der Fahrer seine Zigarette weg. Die Ferien begannen.

Wie sich Gewissheit oft in Müdigkeit verkehrt, wie das Gewusste und Gelebte, das zu Erwartende und zu Ahnende einer gewissen Konsequenz nach in den Abgrund fällt, in die Müdigkeit und den Traum, in die tiefste Schicht der Bangigkeit, wo in Gestalt vollkommen neuer Konstellation die Lebenssplitter aufgewühlt, aus dem Morast des Unbewussten wie auferstandene, ins Taghell tauchende Diamanten aufblitzen, so schien auch mir, wenige Haltestellen weiter die Person, die neu zugestiegen war, mich an der Schulter wachrüttelnd, Platz einnehmend, mit wenig überraschenden Sätzen erklärend, dass die Eltern weiter in der Stadt verbleiben würden.

Wenige Wochen nur, sagte sie, solange du bei mir bist. Das Land wird dir gut tun.

Das Leben im Hof meiner Tante entsprach der Verlängerung bislang bekannter Müdigkeiten. Eine hohe Steintreppe führte hofwärts zum Eingang, in dessen geradlinigem Verlauf sich jeweilige Zimmer bald nach rechts, bald nach links anschlossen. Mittags erschien eine Katze an der Treppe während des Sommers immer geöffneten Tür, oder sie schlich durch diese hindurch, auf dem Flur Beute ablegend, oder sie erbrach sich weiss-schaumig, Grashalme ruckartig von sich gebend, den Blick in Angst oder Schuld nach jedem Erbrechenstoss nach draußen richtend, wo wir sassen, auf der Treppe die heimwärts kehrenden, schwankenden, überhoch mit Heu beladenen Fuhrwerke schauend, von schwerfälligen stämmigen Pferden gezogen, über deren Rücken unentwegt eine Peitsche niederging.

Sie gehört nicht mir, sagte meine Tante, die Katze meinend, die sich nun um unsere Füße ringelte. Sie gehört niemandem. Aber, und sie blickte auf das schwarzweisse, sichtlich erschöpfte und nun im Sonnenlicht ausgebreitete, matte, heftig atmende, uns mit grossen Augen musternde Tier, ich, sagte sie, werd ihr um Gotteswillen nichts zu Saufen geben. Das werden wir uns nicht angewöhnen, nicht wahr, sagte sie augenzwinkernd, dem hechelnden Tier einen Tritt versetzend, auf dass es verschreckt seinen Platz verließ.

Die nächsten Tage fand ich meine Tante bereits zu frühen Morgenstunden mit den an den Vortagen geernteten Bohnen beschäftigt. Selbige waren nun in Spankörben auf den Treppenstufen ausgebreitet, und durch ihre Händen glitten unermüdlich die dunkler und steifer werdenden Massen, die, je länger in der Sonne gewendet, zu grauen, verkrümmten, fast unkaubaren Stiften schrumpften. Nicht anders erging es mit Pilzen, Früchten, Wurzelgemüse und Kräutern, und die Verrichtung dieser Tätigkeiten erschien lebenserhaltend, wenn nicht lebensbedeutend, da die Hände unermüdlich, von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in diesen Körben zu schaufeln, zu sortieren, zu wühlen und zu behüten hatten. Abends schauten wir noch einmal auf die Gasse. Berge geernteten Heus rumpelten vorbei, Peitschen schlugen über fliegenübersäte Pferderücken, die Mäuler im Kampf mit dem darin eingespannten Stahl und den an den Nüstern sich zu schwarzen Trauben anhängenden Fliegen, die unablässig, in Augen und Ohren der sich verzweifelt wehrenden Kreatur eindringend, ihr Wahnsinnswerk trieben, während eine Fuhre nach der anderen vorbeilärmte.

Als das letzte Peitschen im Dorf verebbte, reichte mir die Tante Schaufel und Besen. All der Dung auf dieser gepflasterten, tief ins Feld reichende Gasse (man mochte ja in jüngster Zeit sogar behaupten, sie sei ein Römerwerk) solle beerntet werden, und sie reichte mir eiserne Eimer, in die ich spätabends, mich vor dem Dung niederkniend, schaufelweise das Hinterlassene warf, bis die nächtlichen Wege gereinigt waren. Oftmals waren wir nicht alleine. Dann sprangen auch andere Kinder aus den Häusern, Eisen schepperte, Motten umspielten das spärliche Licht der Laternen, kleine, kaum mehr zu sehende Fliegen sprangen vom Dung in die Lippen oder aus Eimern in die Augen. Wir kehrten zurück, alles in den angrenzenden Garten kippend, worauf die Tante die hölzernen Fensterläden verschloss und mir ein Brot reichte.

Morgen, sagte sie, müssen wir den Dung umgraben. Du hast bereits die Würmer darin gesehen.

Und es wird Gewitter geben, sagte sie, ihren unbekleideten Oberkörper dem Waschstein zuwendend, sich Gesicht und Achseln mit Seife abreibend. Es wird Gewitter geben, sagte sie, ihr Haar auflösend, aus welchem immer noch Fliegen sprangen, dem kleinen, verfleckten Spiegel zugewandt, der über der porzellanenen Küchenspüle hing und von Teller- oder Tassenregalen umrahmt war. Ihre Augen näher noch an den wenigen Stellen, die der rückseitig abblätternde Zinn zuließ, begann ihre Hand über den Bauch zu kreisen, immer an gleichen Stellen, während die Augen fest in das Fleckenmuster starrten. - Warum man es weiss? Ein Gewitter spürt man dann, wenn alte Wunden zu jucken beginnen. Immer ist es eine Erinnerung. Und je näher es kommt, desto stärker die Schmerzen.

Und sich mir jäh zuwendend, mit den Fingernägeln einer fürchterlich langen rotbraunen Narbe entlangfahrend, diese einem geschwürigen Regenwurm gleich, der sich zur Unterhose verlängerte, aus dieser herauskroch und sich längs über das nackte Fleisch zog, krallten, zogen oder bohrten sich ihre an den Rändern grauen, abgesplitterten Fingernägel noch tiefer in den Wulst, sodass es ihr wie eine Lust erschien, welche alles offenbarte, zumindest das von Lauten begleitete stundenlange blutige Gekratze und Gewühl, das nicht enden Wollende dieses Schabens, Kratzens und Knetens, in der matten Einsicht, eine vorläufige, auf ihrem Körper ausgetragene Schlacht gewonnen zu haben. Hier, sagte meine Tante, hier, nun vollends den Blick vom Spiegel reißend, ihre Brüste bedeckend, als bemächtigte sie uralte Angst: Das hat das Gewitter aus mir gemacht! Sorge für Kerzen! Und schließe die Fenster!

Die Tage vergingen in Gleichläufen. Es gab keine Bücher zu lesen, die im Flur angrenzenden Zimmer erwiesen sich als vollkommen leer. In den umliegenden Gehöften klirrte unentwegt das Geschirr des angeketteten Viehs, und das Gewitter, in dessen Vorahnung sich meine Tante exzessiv am Bauch zu kratzen genötigt sah, war nicht eingetroffen. Nur aufflackerndes Leuchten durchzuckte die folgenden Nachthimmel. In den offenen Gärten brannten die Johannisbeeren, ihnen folgten Kirschen, überreif von Maden zerfressen, und Obstholz trieb frühe Früchte. Der Gleichlauf, in seinem Gefolge die Langweile, wie eine Glocke über die Sinne gehängt, frass die Zeit, oder die Zeit hatte sich unter der Maske der Gleichgültigkeit versteckt. Bisweilen erschien die Katze, der ich einen Namen, einen Lockruf zu geben suchte, oder ich stand vor den engen, ans Haus genagelten Kaninchenställen, parzellenartig je zwei oder drei Tiere zusammenpferchend, deren scheinbar bewusstloses, im stechenden, urinnassen Stroh verfangenes regungsloses augenoffenes Starren mit unendlicher Trauer verbunden schien. Umherstreifend, den Radius meiner Exkursionen immer weiter verlängernd, war es, dass die Zeit keiner Antwort bedurfte, wie umgekehrt die Fragen, die die Zeit stellte, unbeantwortet bleiben durften.

Sorglos strich ich durch die engschattigen Täler, dem Ende der Ferien und dem Beginn der Schule nahe. Die talwärts versteckten Bunker des letzten Krieges erkundend, in deren luftstillem Moder, ihren dunkelverzweigten, pfützenbedeckten Gängen eine hallende Stille herrschte, unterbrochen nur vom silbernen Plätschern herabrieselnden Wassers, unterbrochen durch die Schritte, die sich schmatzend, zögernd, der Wand aus Dunkelheit und Nichts entgegenstemmten, waren solcherlei Sorglosigkeiten wert. Doch je länger ich im Atemdampf die schmierigen, kalkigen Gewölbe durchtastete, in Schlamm und Finsternis die Labyrinthe durchwatete, desto deutlicher, im Wirrnis dieser Stollen und ihrer betonenen Dunkelkühle, entwirklichte sich der Schrei eines Krieges, von dem meine Eltern oft sprachen, selber Kinder des letzten Krieges, und dort verhallte auch mein banger Ruf, der sich hundertfach in den kalkigen, sauren, moosigen und unbelebten Dunkelgängen wiederholte. So erlebt es der Träumende in seinem Notschrei, kraftlos in das Unumkehrbare gestürzt, derweil der taube Mundwinkel kaum mehr als einen Seufzer entlässt.

In die noch kühlere Sonne tretend, die mich frösteln machte, kletterte ich über Wiesenhänge nach Hause. Mir vorstellend, dass der Krieg nur vorläufig unterbrochen sei, in dieser Vorläufigkeit aber schon genug Drohendes aussprach, was jederzeit, in der einen oder anderen Weise zu einer ganz anderen Auffassung der Dinge führen könne, musste ich innehalten. Kreisrund erschienen im Mittagsglanz die Wälder. An den Weghängen umzäuntes Weidevieh, aus glasigen Augen ins Leere starrend, unbeweglich aus nassen Nüstern unentwegt Wolken von Fliegen blasend. Aber da sich in den Momenten empfundener Stille nichts ereignete, jedenfalls nichts, was das Wiedereinsetzen der Zeit anging, so dachte ich auch weniger ans Ende der Ferien und noch weniger an meine Tage.

Es ist, sagte meine Tante, dass ich dieses Katzenvieh vergiften möchte. Totschlagen möchte ich es. Es ist mir leid, wie es in dieses Haus hineinkotzt, putzen nur sollte ich, immer nur hinterher putzen, und Nutzen hat man ja auch nicht. Stutzen sollte ich es, den Schwanz herunter stutzen, wie man es bei Hunden auch tut, damit es endlich nützlich wird. - Wie, fragte meine Tante, meinen Blick niederwerfend. Wie, fragte sie. Sie starrte mich an, als verstünde ich nicht, als schritte sie gleich zur Tat, mit einer Axt in der Hand, eine Bluttat zu beweisen, da ich unbeweglich zur Treppe stand. - Wie, fragte sie. Ihre Jungen werfe ich in den Eimer, ersaufen sollen sie, glaubst du, dafür gibt es Sentimente? Höre ich auf ihr Gewimmer? Was gehst du in den Garten und frisst mein gutes Obst? Doch weil ich es beschneide, weil ich es kürze, weil ich - und sie erhob ihre unansehnlichen, faltigen, verkrümmten, von Altersflecken übersäten Hände - weil ich es tun muss! - Bald wurden ihre Züge milder, und sich vom Schemel erhebend, auf welchem sie niedergebückt den dürren Inhalt all der vielen Spankörbe den ganzen Sonnentag über durchwühlt, gelockert und gelüftet hatte, sich die Hände an ihrer verschlissenen vorgebundenen Schürze abwischend, mit sichtlichen Rückenschmerzen in den Flur schlurfend, kehrte sie zur Treppe zurück, an deren untersten Stufe ich immer noch stand. Da, sagte sie. Deine Eltern haben geschrieben. Bald wirst du wieder zuhause sein.

Mit dieser Vorstellung allein war es nicht getan. Die Litanei über die Zumutungen der Katze ging weiter, freilich auch hier zu einem Ende führend, da ich anderntags meine Tante viel aufgeräumter, ansprechbarer und belustigter fand, als es ihrer Gewohnheit entsprach. Auch bedeutete sie mir, mich zu waschen, ein sauberes Hemd anzuziehen, wie sie sich am Nachmittag selber ein weisses Kleid überzog. Noch eine Weile auf der Treppe sitzend gewahrten wir leichte Fuhrwerke, von geschmückten Pferden auf die Äcker gezogen, bis wir aufbrachen und dem staubigen, in die ockerfarbene untergehende Sonne führenden Feldweg folgten. Mit einer gewissen Überlegenheit, die nur diesen Menschen zu eigen ist, die das Unwesentliche, das Nichtige und trotzdem so Notwendige aufgreifen können, kniff sie mir listig, hoheitsvoll Kumpanei anvertrauend, in den Arm. Umschlungen gingen wir den von wildem Mohn umsäumten Weg entlang, in dessen Ferne blasser Staub wirbelte.

Und es mag sein, dass sich ein Erzählen unterbricht. Und ich erinnerte mich, dass die Vorfreude meiner Tante mit Zeichen gewisser Nervosität begleitet gewesen war, und dass diese Zeichen, die sich allmählich, dennoch ununterbrochen in den Vordergrund geschoben hatten, auf eine Bedeutsamkeit wiesen, vielleicht auf ein Ritual, dessen Sinn und Ursprung mir noch zu entdecken blieb. Die Fuhrwerke der letzten Tage hatten dumpfer und schwerer geklungen. Merkwürdige Geräte, metallischen Spinnen gleich, deren rostige grobe Mechanik eher Abbildungen einer vorindustrialisierten Welt entsprach, rumpelten dumpf im Eisenschlag. Die Rufe und das Peitschenschlagen hatten härter in der Gasse gehallt, die geschundenen, stemmenden Tiere waren augenverdrehend vorbeigekeucht im ängstlichen Weiss ihrer fast pupillenlosen Augen, im harten Gestampfe der bisweilen funkensprühenden Hufschläge, rohe Bretterwagen ziehend, Rollen, wie man sagte, auf ihnen lehmige Hügel, nur durch ihre helle Schale unterscheidbare Kartoffelberge, die man einem möglichen Regen, einer vereitelten Ernte wegen den Äckern zu entreissen suchte, während Peitsche auf Peitsche in die Angst hieb. Ich erinnerte mich dieser Zeichen, als mittags schon Rauchsäulen verbrannten Kartoffelkrauts in den Feldern standen, draußen in der Nacht riesige Glutnester leuchteten, die Luft verpestend, den Rauch zu einer einzigen Gegenwart machend, den Häusern, dem Brot, dem Bett und aller stickigen und hustenden Wirklichkeit anhaftend, verbranntes Kartoffelkraut, dessen verbrennende Notwendigkeit – nein, natürlich: dessen notwendiges Verbrennen wiederum Erzählungen über Erzählungen barg. Man hätte es für eine Übertreibung gehalten, als selbst meine Tante in diesen Tagen den Rauch wie ein Heiliges inhalierte, sämtliche Fenster öffnend, den salzigen Qualm ins Haus lassend, auf dass sich braune Brandgerüche wie Teppiche über die Zimmer legten, mir berichtend, dass sie in den Kriegsjahren ausgeschickt war, mit all ihren Jahrgängen, um Kartoffelkäfer in den Äckern abzulesen. Und sie so mit dem Rauch (ein schlimmer Gedanke, als ich lernte, den Rauch in deutscher Geschichte zu verstehen) aufgewachsen war, den treibenden Wolken zu, den Säulen graubrauner, verstreuter, himmelwärts strebender spätsommerlicher Metaphern, denen sie einzig hinzufügte: Schädlinge müssen verbrannt werden.

Wir gingen weiter, als ich meine Tante fragte: Du denkst an die Katze?

Ja, sagte sie. Stehenbleibend suchte sie meine Augen. Nein, sagte sie. Und nach einer Weile, da wir bereits weit schon im Feld waren: Den jüdischen Arzt deiner Oma hatten wir in einem Schweinestall versteckt. Fünf lange Jahre hatten wir ihn wie ein Schwein aussehen lassen, kein Licht sah er, nur Schweine wärmten ihn. Nachts wuschen wir heimlich seine Lumpen, schlossen die Fenster, teilten Kartoffeln und Rüben mit den Schweinen und dem Juden. Später teilte er den Schweinestall mit russischen Kriegsgefangenen. Als man uns im Herbst fragte, wann die Schweine zu schlachten wären, behauptete meine Mutter, alle seien an einer Seuche verstorben.

Alle, fragte ich?

Die Schweine, die Juden und die Russen?

Noch immer standen wir. Wilde Kräuter umdufteten den Weg, und in vertrockneten Pfützen starrten ausgedörrte Regenwürmer gleich Kommas. Und nach einer Pause, die ihre Gesichtszüge verspannten und wiederum ins Fiebrige trieben, den Blick starr nach vorne richtend: Der Jude schrieb später viele Briefe aus Amerika. Ich hätte antworten können, aber was? Die Russen waren kaum älter als du. Man trieb sie gegen Kriegsende zum Kartoffellegen hinaus in die Äcker, wo man sie nach und nach erschossen hatte. Aber was? Siehst du nicht, dass ich nicht zugeben kann, wofür ich keine Schuld trage?


Ich denke an so vieles, sagte meine Tante. Aber nicht an deine Katze.


In einem größeren Kreis tief weit im Feld, den wir bald erreichten und dessen Zentrum aus glühender Asche bestand, wurden Geschirr und Gläser, unter verbergenden Tüchern Quarkspeisen hervorgeholt, während das Dutzend oder Zwanzig der Männer, mit Rechen die Glut auseinander faltend, die halb verkohlten, halb verschmorten, verschrumpelten, in ihrer Konsistenz kaum wiedererkennbaren Kartoffeln randwärts beförderten. Im Brandgeruch erschien goldenes Fleisch. Dann schlugen, als hätten sie sich verabredet, aus mehreren Winkeln Kirchenglocken, die eine, über die ferne, schwarze Kammlinie des Waldes in verwehender Erinnerung, nur bruchstückhaft in ihren hellen, kaum hörbaren Silbersilben, derweil andere Glocken des Umkreises dazwischen sprachen, worauf sich alle Anwesenden erhoben. Schweigend, mit gesenktem Kopf, die Hände gefaltet, starrte man auf die Furchen der Erde.

Milder Abendwind war über die Höhen gestrichen. Etwas war erschienen, was man, aus heutiger Sicht, als Erleben oder Erzählen ohne Zentrum bezeichnet. Lange hatte ich mir vorgestellt, ein solch geschriebenes Buch zu besitzen, ein Buch, das sich streitet, überhaupt ein Buch zu sein, zumal keine rühmenswerte Motive, weder Anfang noch Ende, am Allerwenigsten die Hand des formenden Autors vorhanden wäre. Ein solches Buch, dachte ich mir, würde ich es nur wissen, verdiente es, in diese Abende getragen zu werden, den aufkommenden Nebel aus den Tälern, den besagten Bunkertälern, den Dornenpfaden und den Brennesselfeldern zu, dem geschwürigen untergehenden rottränenden Sonnenauge zu, das die Zeit, den Erdrand, die Menschheit verlässt, vor letzten ziselierten Wolkenzeugen Abschied nehmend, womöglich eine Zeit deutend, wo es zwischen Augenschließen und Nacht keinen Unterschied mehr gibt. Ein solches Buch, dachte ich, sei so wahr, wie es unmöglich ist.

Um so beständiger rollten die Männer die Kartoffeln aus der Glut. Ausdampfend in der verkohlten Schale entdeckte sich gelber Teig, mürbe, nach salzigem Rauch schmeckend, und da die Frucht, obwohl in der Erde geboren, kaum nach Erde, kaum nach dunkelfeuchtem schwerem mineralischem Erdtrüb roch, vielleicht eher Luftigerem – Nüssen, Kastanien, Windumspieltem zugetan, verknüpfte sich dieser mehlige, rauchige, wolkige, mit allerlei Vorstellungen behaftete Geruch mit einem Weitererzählen, einem Weitergeben jenes Buches, in welchem, so träumte ich, einstmals zu wandern, zu schwimmen, zu bleiben, zu staunen oder zu sterben wäre. Als wäre ich das Buch gewesen, in seinem Warten auf mich, wie es sich aufschlug in seinen immer nur fortgesetzt sein wollenden Seiten, aus denen sich ergeben wollte, was immer nur hineingedacht und fortgedacht war, sich füllend und Gefäss werdend, anders aber als das Sieb der Schule und des Zuhauses, durch welches zerrüttete, freudlose Jahre gegossen waren, hatte sich, da ich mich zu gedulden, zu hoffen und vorläufig zu bescheiden hatte, vorderhand nichts ereignet. Es ereignete sich nichts ausser einer Vorahnung, einem dunkelstillen Spiegel, in welchem ich mich wähnen und nur an einem silbernen Faden gehalten fortträumen durfte, hoffend auf den Anfang, auf alle zu erzählenden Anfänge, als – nur weil das Buch ein Ende wollte – das Taxi erschien. Damals waren Taxis schwarz lackiert, und am Vorabend noch, in der Gewissheit eines vermeintlichen Gewitters, hatte sich meine Tante vorsorglich die alten Wunden aufgekratzt.

Geh nun, hatte sie gesagt.

Ich war die Treppe herunter geschritten, auf deren untersten Stufe sich die Katze im Mittagsschein ringelte. Unter einem Schlusspunkt nährten sich gewisse Einsichten, ins Leere fallend. Und Jahre später (aber waren es nur Jahre, oder war es, was man oft empfindet, eine Dauer, ein sich dahin spinnendes Netz, aufgespannt zwischen Imperativen, Appellen und unhintergehbaren Maßstäben, durch welche die zusammengeschnürten Schultage fielen?) waren wir, meine nun Trauer tragende Eltern und ich, fast im gleichen Taxi wieder zum Hof zurückgekehrt. Unten an der Treppe standen schwarzgekleidete Menschengruppen, schweigend dem nüchternen Sarg folgend, der in einen mit weissen Nelken drapierten Leichenwagen glitt. Leer erschien das Haus, und in den möbellosen dunklen Zimmern hingen, so wie ich hinheinspähte, von den Decken nur die nackten Lampenkabel.

An der Treppe hatte man Schnaps entkorkt. Das Leichenauto war zur Stadt gekehrt. Des Wartens müde hatte der Taxifahrer die letzte Zigarette angedeutet. Dann, voranruckend, in Koffern auf der Hinterbank begraben, sah ich zurückblickend eine verstruppte, sichtlich kranke, mit sichtlich schmerzenden Hüften sich zur Treppe schleppende Katze. Dort hatte sie sich hingelegt, in die letzten Sonnenstrahlen, in das Letzte, was ihr an Erinnerung geliebten war, bis der Blick abgerissen war. Lange fuhren wir in den gemauerten Schluchten der Stadt. Nichts, habe ich damals gedacht, habe ich an diesem Buch verstanden. Nichts, buchstäblich nichts.

Quoth
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Beitragvon Quoth » 19.08.2020, 11:26

"Freudlose Jahre" könnte der Titel auch lauten. Die ersten beiden Absätze sind für mich entbehrlich, fesselnder wird der Text mit dem Auftreten des erzählenden Ich. Etwas zu viele Partizipien Präsens, manchmal zu sehr um "gehobene" Sprache bemüht, aber interessant die genüssliche Ausmalung des Unästhetischen (Die Narbe der Tante, die kotzende Katze ...). Sogar das, dessen man sich rühmen könnte, ist unästhetisch (die Rettung des Juden). Es ist, als ob alles von der Schwerkraft des Grauens ergriffen wäre, sogar die untergehende Sonne wird "geschwürig". Interessant der Traum der Erzählerin/ des Erzählers, selbst ein Buch zu werden. Lesenswert unschön!
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.


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