Hilde

Bereich für Erzähl- und Sachprosa, also etwa Kurzgeschichten, Erzählungen, Romankapitel, Essays, Kritiken, Artikel, Glossen, Kolumnen, Satiren, Phantastisches oder Fabeln
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Werner
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Beitragvon Werner » 03.10.2019, 09:42

Hilde wohnt jetzt im Briefzentrum 39. Gestern kam ein brief von ihr, und mein erster blick geht immer auf den poststempel. Sie reist viel und ist immer unterwegs.

Hilde schreibt über die zurückliegende landtagswahl, den zunehmenden egoismus in der politik, den rechtsruck, die rückkehr der faschisten: ein spiegelbild der zeit und der zeit zwischen den weltkriegen.

Gestern, eigentlich vorgestern, ging Hilde auf den markt und diskutierte mit ihrem obst- und gemüsehändler über die deutsche sprache und flüchtlinge. Heimatliteratur sei wieder ganz groß in mode.

Heimat sei sowieso ein seltsamer begriff, der nur ausgrenze, sagte eine frau, die sich ins gespräch eingemischt habe. Sie zitierte einen schriftsteller: Und heimatlos sind wir doch alle.

Hildes sohn, der in Finnland lebt, ist schwer krank. Sie will zu ihm fahren und ihn pflegen. Alles klang sehr traurig.

Ich kenne Hilde jetzt schon seit fast 50 jahren. Wir wohnten nicht weit auseinander und besuchten dieselbe schule. Sie war zwei klassen über mir.

Mit 18 war ich in Hilde verliebt.
Schlag dir das aus dem kopf! war ihre einzige reaktion.
Freundschaft kann manchmal liebe überdauern.

Lange zeit hatten wir uns aus den augen verloren, bis wir uns mit 30/32 wiedertrafen.
Wo warst du so lange? war ihr erster satz.
Und du? fragte ich sie.
Nirgendwo und überall, antwortete sie. Seitdem schreiben wir uns fast regelmäßig oder treffen uns spätestens alle zwei drei jahre.

Los, geh in die knie, bück dich, du hure! Was lachst du so? Hast noch nicht genug? Warte …

Dann schlugen sie auf Hilde ein, bis sie stumm am boden lag, traten sie blau und blutig und rannten davon. Die umstehenden rückten näher und schauten auf sie hinab. Als der leblose körper plötzlich einmal zuckte, gingen sie weiter.

Ich mache mich auf den weg zum Briefzentrum 39.

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