24 Stunden - Von Musik, Kindern und exotischen Tieren

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allerleirauh
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Beitragvon allerleirauh » 19.12.2016, 19:25

Ich versuche, den Tango langsamer zu spielen. Schneckentempo. Als Vögel im Dunst vorbeifliegen, gerate ich aus dem Takt.

Die zwei Stühle sind endlich frei geworden. Ich überlege, ob eine Verbeugung angemessen ist.

Musik am Meer. Das Grammophon knarzt. Nur der Schimmel schaut zu und scheint die Tanzschritte zu kennen.

Wenn man sich anstrengt, kann man Schneewolken am Horizont erahnen.

Sein Geheimnis: er beugt den Kopf immer ein wenig nach vorn und stützt ihn mit der Hand. Als könne er nicht glauben, dass er selbst Stille hört.

Es hatte geschneit. Große Würfel, Halmafiguren und Schellen liegen vor dem Haus. Das Kind scheint nichts Seltsames daran zu finden. Ich kratze mich am Kopf und erwarte, verrückt zu werden. Ob eine Verbeugung angemessen ist?

Ein Löwe wohnt in unserem Haus. Die Fenster sind in der Zwischenzeit vergittert worden. Ich denke, ich werde einen gebührenden Abstand halten.

Der Mond leuchtet uns auch dann heim, wenn wir unser Zuhause verlassen. Selbst dann, wenn wir uns in der Nacht verlieren, nachdem wir eine Zeitlang im Schneckentempo aufeinander zugelaufen sind.

Wir hier – mit unseren gelben, hungrigen Augen. Und da drüben – eure Köpfe, in den Himmel gereckt. Dazwischen: Schnee, Eis und Dunst. You can’t always get what you want.

Es ist anstrengend, alle Bücher auf den Kahn zu laden. Aber nur dann kann man erleben, ob die Kapitel, die Sätze und Wörter tragen.

Kinderstaunen.

Der Mann mit dem weißen Gesicht steht direkt hinter mir. Er verschränkt seine Arme. Wir sehen in eine Richtung. Verrückt.

Elefanten laufen durch dichtes Schneetreiben. Das Grammophon knarzt.

Möwenschwärme bedunkeln den Himmel.

Der Koffer geht nicht mit auf die Reise. Ich halte den Vater im Arm. Ganz klein ist er geworden. Das Bettzeug ist frisch bezogen. Die Decken sind aufgeschlagen und duften nach Stärke und Kindheit.

Der Löwe hat sich vom Sockel gelöst. Er wandert auf die andere Seite. Nur bei Vollmond tut er das. Ich halte meinen Vater im Arm. Ich höre die Stille. Wir haben unser Zuhause verlassen.

Die Schreibmaschine ist mit einer Plastikplane abgedeckt, das Glas umgedreht. Ob die Kapitel, die Sätze und Wörter tragen? Der Stuhl lehnt am Tisch. Ein Zettel an der Tür. You can’t always get what you want.

Schneeschippen am Morgen. Jemand tippt mir auf die Schulter. Ich wage nicht, mich umzudrehen.

Nur die Kirchturmspitze ragt noch aus dem Schnee.

Kinderstaunen. Die Schafe drängen sich aneinander.

Die Gans legt ihren Kopf auf den Schneehaufen und schaut mich fragend an. Das Grammophon knarzt. Ich weiß nicht, was ich auf keine Frage antworten soll.

Er spielt eine Sonate auf der Violine. Nur bei Vollmond tut er das.

Wir halten das Buch wie einen Schirm über unsere Köpfe. Es schützt uns vorm Sturm. Das Kind scheint nichts Seltsames daran zu finden.

Esel laufen über die Klippen. Ich versuche, den Tango langsamer zu spielen. Schneckentempo.

Klara
Beiträge: 4508
Registriert: 23.10.2006

Beitragvon Klara » 19.12.2016, 20:27

... schön...

nicht zu wissen, was man auf eine Frage antworten soll, scheint mir eine sehr weibliche Frage zu sein.
Interessant fänd ich auch, wenn der Himmel statt das Grammophon knarzte. Überhaupt hätte dieses Knarzen Potenzail für eine verborgene Mitte.
Die fraglicher- oder möglicherweise angemessene Verbeugung ins Ungenannte macht mich mindestens so neugierig wie die Fähigkeit, NICHT der Neugier zu gehorchen, indem einesich NICHT umdreht, wenn ihr einer (oder eine?) auf die Schulter tippt.

Doch weiß ich nicht, ob die Stones wirklich über das pubertäre Maßlose hinaus recht haben oder ob es auch damals schon nichts als cooles pathetisches Gerede ist/war, denn entweder ist dieser Spruch redundant - oder er stimmt nicht mal. Wenn er redundant ist, erübrigt er sich, wenn er nicht stimmt, auch.

danke fürs Teilen.

klara

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birke
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Beitragvon birke » 20.12.2016, 14:06

toller text, surreal, wie ein traum. oder chagall.
kann man mehrmals lesen und entdeckt neue perspektiven.
gefällt mir sehr!
herzlich,
birke
tu etwas mond an das, was du schreibst. (jules renard)

https://versspruenge.wordpress.com/

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 27.12.2016, 08:15

Das Wort knarzen kannte ich nicht.

Aber im Kontext wusste ich, was es bedeutet.

So könnte eigentlich mit jedem neuen Wort geschehen.


Das ist reine lyrische Prosa, wie Baudelaire sie erfand.

Einmal steht da "Schimmel", wo man Himmel erwartet.

Vers 12 lässt mich an "Blow up" denken, an die Schlussszene.


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