Ein kleiner Philosoph

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Kurt
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Beitragvon Kurt » 14.09.2016, 19:14

Irgendwann im Leben tangiert wohl jeder die Philosophie; Fragen über die Wahrheit oder den Sinn des Daseins suchen nach Antwort. Als Junge drängte es mich eines Tages, die Bücher unserer großen Denkergenies zu lesen. Ich glaubte, darin alle Fragen beantwortet zu bekommen. Allerdings waren die Texte für mich kaum zu verstehen. Ich verschob also deren weitere Lektüre auf einen späteren Zeitpunkt, von dem ich annehmen durfte, über ein gereifteres Auffassungsvermögen zu verfügen.

An einige Inhalte erinnere ich mich aber, mit denen ich als Junge doch etwas anzufangen glaubte. So die Beispiele über die schwarzen Raben; und wenn nur ein weißer …; und so weiter und so fort. Und ich stieß auf eine Infragestellung, die mir ungeheuerlich erschien. Für mich war es bis dahin selbstverständlich und gewiss gewesen, dass die Sonne den nächsten und die folgenden Tage aufging. Für die Philosophen jedoch nicht. Und ich war ganz aufgeregt, mich nun plötzlich mit diesen Gedanken zu tragen. Denn als mein Freund Ben mich wie jeden Mittwoch daran erinnerte, dass wir am folgenden Tag Fussballtraining hätten, widersprach ich augenblicklich. Er könne doch gar nicht wissen, ob es überhaupt ein Morgen geben würde. Ben lachte und meinte, bisher hätte es ja immer geklappt. Und ich, der ich in philosophischer Erhabenheit schwelgte, entgegnete mürrisch, ich könne nicht versprechen, an dem Training teilzunehmen. Ben ging mit beleidigter Miene nach Hause. Er war eben noch nicht soweit, verstand rein gar nichts von Philosophie. So ein Depp.
"Wir befinden uns stets mitten im Weltgeschehen, tun aber gerne
so, als hätten wir alles im Blick." (Kurt)

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birke
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Beitragvon birke » 14.09.2016, 23:29

wunderbarst! :daumen:
weiß gar nicht, was ich noch schreiben soll, außer, dass dies für mich ein text ist, der in seiner "einfachheit" sehr tief geht. wie auch immer, spricht mich sehr an!
wer lyrik schreibt, ist verrückt (peter rühmkorf)

https://versspruenge.wordpress.com/

Kurt
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Beitragvon Kurt » 15.09.2016, 14:32

Liebe Birke,

es freut mich, dass du es offenbar so gelesen hast, wie ich es gemeint habe; den letzten Satz aus der erzählerischen Distanz dem LyrIch in den „Mund“ gelegt, soll natürlich nicht heißen, dass Ben wirklich ein Depp ist, sondern ist selbstironisch zu verstehen. LyrIch ordnet alles nur noch seinem Tunnelblick unter. Denn selbst ein Philosoph plant seine Termine fest im Voraus.

Das Verhalten des LyrIchs kommt durchaus auch bei Erwachsenen vor, und es muss nichts mit Philosophie zu tun haben. Ich vermute, liebe Birke, deswegen dein Empfinden von ein bisserl Tiefe; ist ja auch mehr indirekt benannt.

LG Kurt
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CPMan

Beitragvon CPMan » 16.09.2016, 16:46

Lieber Kurt,
das ist eine nette Posse mit einem verschmitzten Lächeln geschrieben. Auch die Hinfürhrung zur eigentlichen Pointe empfinde ich als recht gelungen. Es ist ein sehr kurzer Text. Ich frage mich, wie es wohl weiter ging mit Ben und dem Ich-Erzähler (Kurt?)

Liebe Grüße,

CPMan

Kurt
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Beitragvon Kurt » 16.09.2016, 19:25

Danke, CPMan. Es ist ja reine Fiktion. Als ehemaliger Fußballspieler würde ich annehmen, man trifft sich wieder auf dem Platz. Und der Prot. wird, wenn er ein bisserl runterkommt, und das wird er, feststellen, dass die Terminzusage nicht nur durch ein (philosophisches) Nichtaufgehen der Sonne, sondern auch durch andere Umstände, wie Erkrankung, nicht eingehalten werden könnte. Stillschweigend steht es ja immer im Raum, wenn man sich verabredet, und es wäre unökonomisch, dies jedesmal extra zu betonen. Am Ende könnte man sagen, dass der Junge erst durch die philosophischen Ansichten angeregt schneller zu den allgemeinen Alltagseinsichten gelangt sei. Also Philosophie lohnt sich. ;-))

LG Kurt
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KarolineJasper

Beitragvon KarolineJasper » 19.09.2016, 20:19

Hey Kurt,

...ist mir genauso passiert. Kein Fußball, nein, eine Verabredung.
Ich fragte sie, ob es nun bei unserer Verabredung am Dienstag im Cafe bliebe... mit leicht hoch gereckter Nase antwortete meine Freundin, ja so Gott will und ich noch lebe...

... hat mich ehrlich gesagt frustriert, sie kann nicht beweisen, dass es nicht passiert und ich kann nicht beweisen, dass es passiert. Und nun? Bin ich verabredet oder nicht?

Vermutlich wäre ich ein ziemlich unbrauchbarer Philosoph.

Schöner Text und was ich wunderbar finde ist die Gedankenfolge die er erzeugt, Erinnerung, Bilder, Sinnieren über des Lebens Sinn oder gar Un- Sinn.

Herzliche Grüße Karoline


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