Der Autist

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CPMan

Beitragvon CPMan » 05.07.2016, 16:47

Wer, wenn ich schrie, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? Und gesetzt selbst, es nähme mich einer plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein.

Rainer Maria Rilke

*

Es ist nicht hell, es ist nicht dunkel. Es ist weder tiefe Nacht, noch blühender Tag. Es ist ein Dazwischensein. Und dieser Zustand des Dazwischenseins überträgt sich auf das Gemüt. Als beneble ein grauer Dunst die Wahrnehmung, als drängen Laute nur gedämpft ans Ohr, Bilder nur verschwommen ans Auge, Berührungen nur wie durch Watte an die Haut.
Tastend erhebt sich Hagen Thien aus der Schlafposition. Er strampelt die Decke von sich, setzt sich aufrecht auf das Sofa, stützt den Kopf in den Händen ab. Aus einem Schlummer erwacht der junge Lehrer, die Wachträume kleben wie unsichtbar noch in der Luft, beschweren die so oft gerühmte Leichtigkeit seines Wesens. Ein Potpourri aus Menschen, Begebenheiten, Gerüchen und Gefühlen jagt ihm noch nach. Er muss jetzt zu sich kommen, sonst verfälschen die Empfindungen die nackte Kühle der Realität. Klar denken, sagt er zu sich selbst, erst leise, dann laut. Klar denken.

Doch an diesem kalten Wintermorgen hilft, wie so oft, die Dichte des Tagesplans, um sich nicht zu lange mit Gedanken der Trübseligkeit zu befassen. Bald klingeln die Schulglocken, bald herrscht geschäftiges Treiben auf den jetzt noch leeren Fluren, bald beseelen Pythagoras, Einstein, Shakespeare und Nietzsche die ach so kahlen und schmucklosen Räume des Gymnasiums. Bald wird Hagen Thien das Lehrerzimmer aufsuchen, sein Material für den Tag überfliegen, Kopien machen, Folien ausdrucken, Notizen lesen, Schülernoten eintragen, Paraphen setzen.

*

„Herr Thien, kann ich Sie kurz sprechen?“
Frau Ladert, eine alte Schrapnell. Militärisch ihr Drill bei den Kindern. Deutsch und Mathe.
„Selbstverständlich, Frau Ladert. Worum geht es?“
„Ich möchte Ihnen kurz etwas vorlesen: Da ist eine Frau L., die ist nicht besonders schnell, sie ist auch nicht gescheit, die Schüler, die sind’s leid, sie kaufen Dynamit, und eh man sich versieht, wirft ein junger Spund das dolle D. ins Rund, da macht es dann schnell wumm, und die Frau L. guckt ganz dumm, und überall ist’s rot, rot, rot, und Blut und Blut und Blut und Tod, Tod, Tod!“
Herr Thien schaut konsterniert.
„Ich verstehe nicht recht!“
„Das stand auf einem Zettel, den ich heute dem Sextaner Julius Schleicher genommen habe, weil er unerlaubterweise unter dem Tisch diese Pamphlete gegen mich verfasste! Dieser Junge ist gestört, wenn Sie mich fragen. Es muss etwas unternommen werden, und zwar bald!“
Herr Thien ist sich nun über den Kontext des Gesprächs im Klaren. Julius Schleicher, verhaltensauffälliger Schüler, mögliche bis wahrscheinliche Diagnose: Autismus. Die Eltern fürchten, er könne auf einer Spezialschule zugrunde gehen, verwelken, eingehen wie eine schöne Orchidee in einem Feld aus Kraut und Rüben. Und so haben sie ihn dann aufs Gymnasium geschmuggelt, ein scharfes Messer, das man nicht in den Griff bekommt, weil es keinen hat.
„Ich verstehe ihre Aufregung, Frau Ladert. Wir haben schon eine Konferenz bezüglich dieses Schülers abgehalten. Doch momentan ist da nichts zu machen. Der Schulleiter hält seine schützende Hand über Julius und glaubt an seine Sozialisierung. Wir müssen wohl oder übel warten, bis er sich so sehr daneben benimmt, dass selbst der Schulleiter nicht anders kann, als ihn zu entsorgen. Bis dahin, fürchte ich, müssen wir uns in Geduld üben.“
„Das ist nicht annehmbar. Ich werde die anderen Fachlehrer überreden, eine von mir verfasste Protestnote zu unterschreiben und an den Schulleiter weiterzuleiten. Wir sind nicht ausgebildet für solches Schülermaterial!“
Hagen Thien überlegt kurz.
„Sie haben Recht, Frau Ladert. Verfassen Sie den Brief, ich werde ihn unterzeichnen!“.
Sie hat Erfahrung, denkt Thien. Sie ist unmodern hart zu den Schülern, aber sie hat einen scharfen Blick für Problemschüler.

Weiter geht’s. Zwischen Tür und Angel vergeht die meiste Zeit. Denn da stehen sie: Die Lehrer, die einen dringend sprechen müssen, die Schüler, die ihre Hausaufgaben vergessen haben, die Primaner, die um Noten feilschen wollen, die Eleven, die Anwälte in eigener Sache sind. Die Hauptaufgabe eines Lehrers besteht darin, den Raum zwischen Tür und Angel nicht zum Daueraufenthaltsort werden zu lassen. Noch schafft Thien es, sich in die Klassenräume, vor das Pult zu kämpfen und für eine Unterrichtsstunde Schüler zu inspirieren.
„Good morning, my students!“
„Good morning, Mister Thien!“

*

In der großen Pause sitzt Hagen Thien am großen Tisch. Er unterhält sich meist mit der Fachkollegin Kürten, Englisch und Pädagogik. Doch heute ist sie abwesend, Klassenausflug mit der 6D.
Und so schweift der Blick scheinbar ziellos durch den Raum, rüber zum angrenzenden ‚Katzentisch‘, so genannt weil den Referendaren und Referendarinnen vorbehalten. Der Tisch und die an ihm stattfindenden Gespräche wecken meist unangenehme Erinnerungen an die eigene Ausbildungsphase, als man sich von meist schwachsinnigen Menschen, die dem Lehrerjob entflohen, um Fachleiter zu werden, erklären lassen musste, wie guter Unterricht abläuft. Noch immer erinnerte sich Hagen Thien an dieses didaktische Korsett, in das man ihn damals zu zwängen versuchte. Seine Überzeugung, dass Unterrichtsstunden kreativ und auf jede erdenkliche Weise genutzt werden können, dass die ihm zur Verfügung stehenden fünfundvierzig Minuten nicht immer nach dem Muster Einstieg, Erarbeitung, Transfer und Ergebnissicherung abzulaufen hatten, behielt er damals für sich. Heute sang er Lieder mit den Kindern, malte Bilder, schrieb Kurzgeschichten oder Comics und nahm Radiosendungen auf.
Am Katzentisch, inmitten einer Krähenschar aus gackernden Germanistinnen, aalglatten Anglisten, hölzernen Heimatkundlern und tratschenden Theologen, hatte sich ein goldener, blondgelockter Engel verirrt. Auch wenn das Lehrerzimmer nicht gerade vom Licht durchflutet wurde, schien es Hagen Thien jedesmal, wenn er sie erblickte, als ob ein durch dunkle Wolken stechender Lichtstrahl auf sie herabfiel, und ihr den Charakter des Irdischen streitig machte.
Sie war Galloromanistin, hieß Danièle Fortin, und wirkte still, zurückhaltend und sinnlich. Ihre feine, aber nicht betuliche Art, ihr zarter, aber nicht zerbrechlicher Körperbau ließen auf einen weltabgewandten, in sich gekehrten, stark abstrahierenden Charakter schließen. Zumindest vermutete Hagen Thien dies, wissen konnte er es nicht, denn er hatte noch so gut wie nie mit ihr gesprochen.
Er sah zu ihr hinüber, studierte unbewusst genau, aber bewusst heimlich ihr Gesicht und ihre feinen Hände. Das blonde Haar und die feine, wenn auch leicht blasse Haut verstärkten den Eindruck des Engelhaften.
Hagen Thien hatte gute Augen. Er erkannte auf die Entfernung von zwei, drei Metern einen Pigmentflecken auf ihrem rechten Handrücken.
Und eh Hagen Thien sich versah, verlor er sich in einem Strudel aus phantastischen Gedanken. Er malte sich aus, wie es wäre, mit Danièle Fortin liiert zu sein, eine Familie mit aufgeweckten, bildschönen Kindern zu haben. Und er stellte sich vor, wie seine geliebte Danièle eines Tages, in Tränen aufgelöst, vom Hautarzt käme, um ihm die schreckliche Diagnose mitzuteilen: Hautkrebs. Hagen Thien sah alles vor sich: Die Kinder am rustikalen Holztisch, die kleine Tochter noch mit dem Schlabberlätzchen auf dem Hochsitz, der quengelnde, blondgelockte Bub den Mund voll Spaghetti, die aufwändig eingerichtete Küche, die großen Fenster mit den weißen Gardinen. Er sah Danièle, seine Frau, in ihrem weißen Trenchcoat, der hellgrauen Anzughose und dem wollenen Pullover. Er sah ihre blonden Locken, ihren verschmierten Lidschatten, die von heißen Tränen glühenden Wangen, den ihn anflehenden Blick, sie aufzufangen. Er sah sich selbst, wie er vom Stuhl stürzte, und seinen Engel mit den gebrochenen Flügeln in die Arme nahm, stützte, aufmunterte, und er hörte, wie er immer wieder sagte: Mein Engel, ich bin bei dir, mein Engel, ich bin bei dir.

Dann, plötzlich, ein Klingeln. Die Pausenglöcke ertönte und Hagen kehrte zurück. Für einen kurzen Moment trafen sich Hagens und Danièles Blick. Sie lächelte ihm zu, Hagen lächelte zurück. Wenn ich schrie, so fragte er sich, würdest du mich hören?

*

In seinem Deutsch LK legte Hagen Thien die Folie mit dem ersten Satz aus Rilkes Elegie auf den Projektor. Er gab den Schülern einen Moment, um den an die Wand projizierten Satz zu lesen: Wer, wenn ich schrie, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? Und gesetzt selbst, es nähme mich einer plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein.
Dann fragte er, in einen sehr stillen Raum hinein: „Nun, was denkt ihr?“
Sarah antwortete als Erste.
„Es handelt sich um einen Konditionalsatz, oder nicht?“
Hagen Thien nickte zufrieden.
„Ganz recht, ein Konditionalsatz der besonderen Art! Warum?“
Jetzt schaltete sich Thorsten ein.
„Na, es kommt keine Form von würde darin vor! Also muss es literarisch sein, nicht alltagssprachlich!“
Auch Gero fühlt sich berufen, zu kommentieren. Damit waren Hagen Thiens Meinung nach die klügsten Köpfe bereits am Unterrichtsgespräch beteiligt.
„Und es ist als Frage formuliert. Wer würde mich wahrnehmen, wenn ich schrie.“
„Und was könnt ihr schon über die Person, die hören soll, sagen?“
„Na, dass es ein Engel sein muss. Aus der Engel Ordnungen, das klingt für mich wie aus der Gruppe von Engeln.“
„Aha, und wer ist das Ich in diesem Satz?“
„Ein normaler Mensch. Ein Mensch, der am Ende ist. Er schreit, weil er verzweifelt ist, weil er kaputt ist, am Ende. Und er hofft auf göttliche Hilfe, auf Erlösung von einer überirdischen Gestalt, einem Engel eben!“
„Sehr gut! Und weiter?!“
„Hmm. Also ein Mensch schreit um Hilfe, und er fragt sich, wer von den Engeln ihn hören würde, wenn er um Hilfe schrie. Und dann sagt er, dass selbst wenn ihn einer hört, also einer von den Engeln, dann vergeht er von dessen stärkerem Dasein. Keine Ahnung, was das bedeuten soll!“
„Vielleicht meint er, dass die Engel so toll sind, dass er sich noch erbärmlicher vorkommt, wenn er an sich und sein elendiges Leben denkt. Die Engel strahlen, und sind wunderschön, und er ist ein ganz gewöhnlicher Mann mit Alltagsorgen und Eheproblemen und..“
„Erektionsproblemen!“
Gelächter in der Jungenecke. Jochen, denkt Hagen, wer sonst?
„Also, was ist die Quintessenz dieses Textes?“
„Dass die Engel uns nicht helfen können?“
„Warum nicht?“
„Weil sie zu schön und zu rein sind. Sie können unsere Probleme nicht verstehen, sie sind im Himmel und wir auf Erden oder, krass interpretiert, in der Hölle. Und Menschen müssen unter sich bleiben, und Engel unter Engeln.“
„Es gibt also keine Rettung?“
„Naja, vielleicht doch, nur muss der Mensch sich selbst aus dem Dreck befreien, er darf sich nicht auf die Engel verlassen!“
„Gut, beenden wir das hier. Ich habe den ersten Teil der ersten Elegie kopiert, verteilt bitte das Blatt!“
„Herr Thien?“
„Ja?“
„Hatten wir Recht?“
„Womit?“
„Na, mit unserer Interpretation?“
„Ich habe euch schon mal gesagt: Es gibt keine richtige Interpretation. Literatur gibt euch das, was ihr euch daraus nehmt.“

*

Zwei Beschwerden an einem Tag. Das ist ein Novum, auch für einen so außergewöhnlichen Schüler wie Julius Schleicher.
Hagen Thien ist gerade auf dem Weg zur 10d, seiner etwas leistungsschwachen Deutschklasse, als Herr Jürgens ihn, zwischen Tür und Angel, beinahe am Arm festhält, um ihm seine Sorgen aufzuzwingen.
„Hör mal, Hagen“, sagt er in dem ihm eigenen jovialen Ton, „der Julius Schleicher ist doch nicht ganz dicht, oder?“
„Was hat er jetzt wieder gemacht“, fragt Thien resigniert.
„Er hat die Lisa beschuldigt, ihm die zehn Euro für den Ausflug nächste Woche gestohlen zu haben. Dann ist er in meiner Stunde wie wild zwischen seinem Platz und ihrem hin und her gelaufen und hat an ihrer Jacke gezerrt und an ihrem Pullover. Gottseidank hat die Lisa relativ ruhig reagiert, aber der Julius war nicht mehr ruhig zu stellen. Ich hab ihn dann rausgeschickt, frische Luft schnappen, aber ich weiß nicht, was der jetzt in der Stunde macht.“
„Danke, Konrad!“, sagt Hagen, weil ihm für den Moment nichts Besseres einfällt. Für einen Moment überlegt er, die Stunde in der 10d sausen zu lassen und den Julius direkt zur Rede zu stellen, dann aber siegt das Verantwortungsgefühl seiner 10d gegenüber. Schließlich kriegen diese heute eine Deutscharbeit über eine Kurzgeschichte von Kafka zurück.
„Ich kümmer mich drum“, sagt Hagen dem Kollegen noch.
Dieser nickt.
„Ich wollte dir nur Bescheid geben“.
Man sieht ihm an, dass er diese Geschichte gerne loswerden, mit jemandem teilen wollte, um sich selbst zu beruhigen, um die Verantwortung abzugeben, um Reaktionen hervorzurufen und zu analysieren. Denn bei jedem Vergehen eines Schülers fragt jeder Lehrer sich selbst: Wie reagiere ich angemessen? Ist das Verhalten dieses Schülers noch normal oder schon anormal? Soll ich wütend werden und ihn schimpfen oder zur Seite ziehen und das Gespräch suchen? Ist der Schüler offen oder verschlossen?
Schon ist der Kollege Jürgens verschwunden, mit der Gewissheit, rechtzeitig Alarm geschlagen zu haben. Hagen Thien hört schon wie er sagen wird: „Ich habe dem Kollegen Thien sofort Meldung gemacht!“. Und Hagen Thien sieht achtzig Lehrerköpfe, die auf ihn schwenken, und schweigend, mit Blicken fragen: Und wieso haben Sie nicht reagiert?

Hagen Thien besitzt die Fähigkeit, Gedanken vorerst ausschalten zu können. Er tritt vor seine 10d, holte den Packen Klassenarbeiten aus der Schultasche, knallt diesen effekt- und geräuschvoll auf den Tisch, positioniert sich mittig vor das Pult und lässt geduldig das Geschwätz der Klasse ersterben, um nach Eintreten der Stille zu einer freien Rede anzusetzen.

„Wie analysiere ich einen Text? Wie finde ich heraus, was die Quintessenz eines Textes ist? Die erste Frage, die ihr euch immer stellen müsst, ist diese: Was ist der Text in sich selbst? Was ist sein Kontext? Was ist die Kernaussage und wie kann ich diese in einem Satz zusammenfassen? Seht ihr, ich habe mir jetzt in zwei qualvollen Wochen eure Textanalysen durchgelesen und ich denke, dass Hauptproblem ist folgendes: Ihr lest zu wenig! Schlimmer noch, ihr könnt gar nicht richtig lesen. Ihr lest einen Text, Wort für Wort, und jedes einzelne Wort versteht ihr, aber mehr nicht. Der Zusammenhang, der Bezug geht euch verloren, weil ihr keinen Bezug habt zu Texten, die die Welt erklären. Lasst es mich mit einer Metapher erklären. Stellt Euch vor, ihr seid Archäologen. Ein Text ist wie ein Feld, das Geschichte atmet. Ihr seht ein Feld und ihr wisst, es befinden sich dort Schätze des Altertums. Von oben betrachtet, seht ihr nur ein gewöhnliches Feld mit Erde. Ihr müsst graben, um zu erkennen, was sich unter diesem Feld verbirgt. Die meisten von euch graben nicht. Sie schauen auf das Feld und sagen: Ja, da sind ein paar Blumen, da ist ein bisschen Unkraut, ich kann alles erkennen, ich sehe, es ist ein Feld. Dann gibt es ein paar, die wissen schon, dass sie graben müssen. Aber sie benutzen das falsche Werkzeug. Einer geht mit dem Spaten ran, pflügt das ganze Feld um, trampelt auf den zersplitterten Schädeln herum und haut alles kurz und klein. Am Ende bleibt nur ein Scherbenhaufen, kein Gesamtbild. Der andere wiederum ist übervorsichtig, er wedelt mit einem kleinen Pinsel wie ein Wahnsinniger auf dem Feld herum. Hier und da legt er mal den Ansatz einer Reliquie frei, aber zu einer umfassenden Erkenntnis gelangt auch er nicht. Er fischt im Trüben. Ihr müsst im Laufe eures Lebens das Lesen erlernen. Ihr müsst erkennen, dass jeder für alles, was er sagt, schreibt oder tut, ein Motiv hat. Und wie Kriminologen müsst ihr diesem Motiv auf die Schliche kommen. Das, meine lieben Schüler, ist Textanalyse, das, meine lieben Schüler, ist Geisteswissenschaft!“

*

Einige Räume weiter sitzt Julius unruhig auf seinem Stuhl. Zähe, dunkle Flüssigkeit durchströmt seine Blutbahnen. Schwarzgallig, denkt Julius, ich bin schwarzgallig. Er hat dieses Wort bereits vernommen, seine Bedeutung noch nicht vollständig durchdrungen, aber der Klang des Wortes gefällt ihm im Moment. Er fühlt sich umgeben von Bestien, Bestien mit schmalen, funkelnden Schlitzen statt Augen. Er sieht verzerrte Grimassen, fletschende Zähne mit Elfenbeinspitzen. Das Holz unter seinem Stuhl ist heiß, er verbrennt vor Wut. Dumpf und undeutlich dringen die donnernd dröhnenden Laute des Lehrers an sein Ohr. Er fühlt etwas in sich aufsteigen. Es ist Wut. Unbändige Wut. Plötzlich richten sich alle Blicke auf ihn. Er schaut in die Richtung des Rudelkönigs, der leiernde Lehrer hat nun seinen Blick auf ihn geheftet und scheint kommunizieren zu wollen. Was geschieht, was wird gesagt? Dieser Nebel, dieser Nebel, die Atmosphäre zieht sich zu, alles verschwimmt, alles wird zu einem Potpourri aus Menschen, Begebenheiten, Gerüchen und Gefühlen. Julius vermag nicht mehr klar zu denken. Ein Virus hat seinen Organismus befallen, wie Öl oder Pech liegt es auf seinen Synapsen. Keine Luft, keine Luft. Julius ahnt, was mit ihm geschieht, aber er kann es nicht ausdrücken. Er kann sich nicht verständlich machen. Er versucht zu sprechen, aber es gelingt nur ein Grunzen. Ich bin das Tier, ich bin die Bestie, nicht die anderen. Was tun sie? Sie lachen. Ein sehr synchrones Lachen. Julius verliert sich. Er merkt es.

Und das macht ihn rasend.

„Julius, wiederhole, was ich gerade gesagt habe!“
Herr Nöthges wird ungeduldig.
„Julius!?“
Die andern Schüler schauen.

Julius sitzt in einem fahrenden Klassenzimmer. Sie fahren an Räumen vorbei, an Lehrern, an Unterrichtsthemen. Das Klassenzimmer nimmt Fahrt auf, wird schneller. Mir ist schwindlig, denkt Julius.

„Julius, ich rede mit dir!“
Die Schüler schauen. Sie sind ruhig, gespannt. Der Schulalltag ist durchbrochen. Eine Situation ist entstanden. Was wird passieren? Wie wird der Lehrer reagieren? Wie wird Julius reagieren? Eine Seifenoper, mitten im Unterricht.

Herr Nöthges entscheidet sich für Ignoranz. Es bleiben nur fünf Minuten bis zum Ertönen der erlösenden Pausenglocke. Soll sich ein anderer um dieses Geschöpf kümmern.

„Patrick, liest du bitte den letzten Abschnitt?“

Die Spannung entweicht. Die Füchse kehren in ihren Bau zurück. Die Blicke wenden sich ab. Julius ist wieder allein in seiner Welt. Niemand versucht, zu ihm durchzudringen. Julius beruhigt sich. Eine schützende, unsichtbare Hülle umschließt Julius Körper. Er ist wieder allein inmitten seiner Mitschüler.

*

Zweite große Pause. Ein langer Tag, denkt Thien. Noch eine Stunde, dann Mittagessen, dann Nachmittagsunterricht. Die Schüler und auch die Lehrer verlieren an Energie, doch keine der beiden Parteien mag es der anderen eingestehen. Lehrer versuchen aus Pflichtgefühl den Schein der Motivation zu wahren, Schüler aus Angst um die Noten. Und so tun alle, als ginge es ihnen noch um die Schule, als glaubten sie alle an die Institution. Sie gehorchen ihr, innerlich verfluchen sie sie.
Oft hat Thien davon geträumt, eine neue Art der Schule zu erfinden. Ein System ohne Zwang, in dem Schüler im Monatsrhythmus Workshops angeboten bekommen. Praktisch orientierter Unterricht: Das Verfassen von Büchern in Englisch, die Herausgabe einer Zeitung in Deutsch, die Kooperation von Kunst und Französisch, um eine bande déssinée herzustellen. Die mathematische Ausmessung eines Hauses oder die Neuinterpretation eines Popschlagers mithilfe des Schulorchesters.
Seifenblasen, dachte Hagen Thien. Ich bin verloren im Klein-Klein eines bürokratisch ausgelegten Schulsystems. Wir Deutschen können nicht anders. Wir verwalten lieber, als dass wir neu denken.

Danièle Fortin kommt zum Ende der Pause ins Lehrerzimmer. Selbst in ihrer Hektik bewahrt sie sich ihre Eleganz. Grazil und behende bewegt sie ihre jungen Knochen. Thien kann den Blick nicht lösen.

Ein Gefühl unbändigen Verlangens steigt in ihm auf. Wie eine reißende Flut durchströmt es seinen Körper und bricht sich in Wellen an der Unterhaut. Ein Impuls durchzuckt den jungen Lehrer wie ein Blitz. Der Impuls gebietet ihm aufzustehen, sofort, hinzugehen, sofort, anzufassen, sofort, sofort. Und doch unterbindet Hagen Thien diesen Impuls mit aller Gewalt, bleibt sitzen und schaut verstohlen zu ihr hin. Sie ist ein Geschöpf des Himmels, denkt er, sie anzufassen käme ihrer Ermordung gleich. Sie ist erschaffen für die Kontemplation, die Menschheit darf sich an ihrem Anblick weiden, an ihrer Schönheit, aber sie darf sie nicht besitzen wollen.

*

Als Hagen Thien wieder in den Unterricht will, sieht er plötzlich den Schüler Julius Schleicher am Ende des Ganges, nahe dem Treppenhaus. Mit beiden Händen hält er die junge Lisa fest und schüttelt sie. Jungen und Mädchen laufen an ihnen vorbei und tun so, als ob nichts wäre.
Hagen Thien beschleunigt seinen Gang. Er bahnt sich einen Weg an Schülern vorbei, das Ziel fest im Blick. Schneller, schneller, denkt er, dann ist er da.
„Julius, was machst du?“, ruft er entgeistert in das Gesicht des Jungen, als er ihn zu packen bekommt und zu sich wendet. Das Mädchen Lisa nutzt den Moment und reißt sich von Julius los, verschwindet in den verwinkelten Gängen des Gymnasiums und wird von der Menge der auseinanderstobenden Eleven in eins der Klassenzimmer gespült.
Es macht Klack, und alle Türen sind verschlossen, die Flure leer, Hagen Thien steht alleine mit Julius Schleicher am oberen Treppenabsatz des ersten Stocks.
„Was ist los mit dir? Was ist bloß los mit dir?“, gerät Thien außer sich.

Julius registriert eine Berührung. Jemand hat ihn angefasst. Jemand hält ihn fest. Er ist gefangen. Ein Mann steht vor ihm, mit rotem Kopf und spuckt ihm vor Speichel triefende Worte ins Gesicht. Er ist in Gefahr, er muss sich wehren, man will ihm ans Leder. Einem Tier gleich versucht Julius sich an einer Angriffshaltung. Er stellt sein rechtes Bein nach vorne, das linke benutzt er als Plattform. In einer raschen Bewegung schleudert er die ganze Kraft seines Körpers in den Rotkopfmann hinein. Stirb, du Ungeheuer, stirb. Das Ungeheuer weicht zurück und fällt.

Hagen Thien verliert das Gleichgewicht. Er steht auf einem Bein, das andere fällt zurück, doch wo ein Boden sein soll, fängt die Treppe an und noch bevor der junge Lehrer sich wundern kann, warum er ins Nichts fällt, prallt sein Kopf schon auf die marmorne Kante einer Treppenstufe. Er fällt und fällt und fällt in einen steinernen Himmel. Er verliert das Bewusstsein, entschwindet ins Jenseits und lässt geschehen. Komm, süßer Tod, ich bin bereit.

Als er aufwacht, sieht er sich selbst auf dem Boden des Erdgeschosses. Erst weiß er nicht, wie ihm geschieht, dann erinnert er sich: Julius, der Junge, Lisa, das Mädchen, die Treppe, die Schmerzen. Alles kommt ihm vor wie ein Traum. Er ist in der Hölle, die sich Realität nennt. Die Schmerzen. Sein brechendes Auge schlägt nach oben. Die Schmerzen. Da sieht er sie. Die Schmerzen. Danièle Fortin. Sie steht oben auf der Treppe und schaut zu ihm hinunter. Mild. Sanftmütig. Mitleidig. Geschockt. Die Schmerzen. Die Schmerzen.

Hagen Thien fasst sich an den Kopf. Das verschwommene Bild der engelsgleichen Danièle Fortin ist das Letzte, was er sieht, bevor er erneut das Bewusstsein verliert. Ein Bild, eng verbunden mit diesem einen Gedanken: Wer, wenn ich schrie, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?
Zuletzt geändert von CPMan am 05.07.2016, 17:00, insgesamt 1-mal geändert.

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Beitragvon Pjotr » 05.07.2016, 16:58

Guten Tag, kurze Anfangsfrage, bevor die weiteren Details diskutiert werden:

„Patrick, liest du bitte den letzten Abschnitt!“

Sollte nicht auch bei bittenden Fragen immer ein Fragezeichen folgen? Oder hat sich das bei der letzten Reform geändert?


Ahoy

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CPMan

Beitragvon CPMan » 05.07.2016, 17:01

Danke für den Hinweis. Hab's soeben geändert.

LG,

CPMan

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Beitragvon Zefira » 05.07.2016, 17:10

Ich denke, das kann auch mit Ausrufezeichen da stehen. Der Form nach ist es eine Frage, aber der Tonfall, in dem sie gestellt wird, ist ein befehlender, oder jedenfalls ein auffordernder.
Tolle Geschichte, gefällt mir richtig gut. Ich melde mich später nochmal dazu, sage aber schon mal Danke fürs Einstellen.

Übrigens finde ich den Namen Hagen Thien so ungewöhnlich, dass ich mich dauernd frage, ob das ein Anagramm ist?

Grüße von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.

(Ikkyu Sojun)

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Beitragvon Pjotr » 05.07.2016, 17:26

Solche Stellen wie diese finde ich klasse:

Was tun sie? Sie lachen. Ein sehr synchrones Lachen. Julius verliert sich. Er merkt es.

Und das macht ihn rasend.

Es sind nur wenige Worte, aber ich bekomme sofort ein klares Bild -- nicht nur von der anatomischen Mimik, sondern auch vom Timing der Mimik.

Zum Fragezeichen: Laut Wahrig soll immer ein Fragezeichen stehen, abhängig von der Grammatik, unabhängig von der Rhetorik. Daher meine Frage.


P.

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 08.07.2016, 18:02

"Ihr müsst im Laufe eures Lebens das Lesen erlernen."

Schon zwei Mal habe ich die Erzählung gelesen, glaube, etwas sehr interessantes entdeckt zu haben, melde mich bald wieder, wenn ich es erst für mich formuliert habe.

LG

Carlos

Klimperer

Beitragvon Klimperer » 09.07.2016, 06:37

Die Quintessenz der Geschichte? Der Tod macht Autisten aus uns.

Aus acht Abschnitten besteht die Erzählung, in dem ersten ist Hagen Thien schon tot.


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