Die Fotografin
Verfasst: 08.05.2015, 00:46
Ich mache Bilder, das ist mein Beruf. Ich komme in Kindergärten, Schulen und Vereine, zu Hochzeiten und Taufen; ich mache Bewerbungsbilder, Passbilder und Führerscheinbilder; und auch sonst alles, was meine Kunden haben wollen. Ich setze auch Tattoos und Piercings, scheußliche Frisuren und unkleidsame Mode ins Bild und enthalte mich dabei jeder Bemerkung. Viele Jahre Praxis haben mich gründlich gelehrt, dass die Schönheit im Auge des Betrachters liegt.
Mit den Bauchbildern habe ich vor Jahren begonnen, als es Mode wurde, den dicken Schwangerschaftsbauch herzuzeigen. Als ich jung war, haben werdende Mütter den wachsenden Umfang unter weiten Kitteln versteckt. Heute kommen Schwangere in mein Atelier, rollen den elastischen Hosenbund nach unten und präsentieren den runden Babybauch stolz der Kamera. Manchmal kommen sie kurz nach der Geburt wieder, das Neugeborene im Arm, und lassen den ausgeleerten, schlaffen Leib ein zweites Mal ablichten. Ich mache Bilder; ein Urteil abzugeben, ist nicht meine Aufgabe.
Eines Tages, als ich gerade die Kamera in Anschlag gebracht hatte, kam der werdende Vater ins Bild, stellte sich neben die Kundin und entblößte seinen eigenen Oberkörper. Die Schwangere trug einen schwarzen Bandeau-BH und eine Jogginghose, die sie auf die Hüftknochen geschoben hatte. Der Mann hatte ebenfalls ausgeleierte Jogginghosen an und trug keinen BH, obwohl er ihn meiner Meinung nach mindestens so dringend brauchte wie seine Partnerin. Einträchtig lachend präsentierten sie ihre runden Bäuche der Kamera. Ich machte ein kontrastreiches Schwarzweißbild. Es war nicht gerade schön, aber die strahlenden Gesichter ließen es jedenfalls freundlich wirken, und originell war es allemal.
„Das sollten Sie in Ihr Schaufenster hängen!“, sagte der Mann, als er die Abzüge abholte. „Wetten, dass es die Kundschaft in Scharen herbeilockt!“ Ich hatte meine Zweifel, aber da es eine flaue Zeit war, hängte ich das vergrößerte Foto in einem schlichten Rahmen aus – nicht ins Fenster, sondern etwas seitlich in einem Schaukasten.
Es war ein voller Erfolg. In den nächsten Tagen gaben sich bei mir die Bäuche die Klinke in die Hand. (Die holprige Metapher stammt nicht von mir, sondern von meiner jungen Praktikantin.) Die meisten Kunden waren Paare, die Frau schwanger, der Mann einfach dick. Es gab auch einige gut durchtrainierte Bäuche unter den männlichen Kunden, aber sie waren in der Minderheit. Um noch eine holprige Metapher zu zitieren, der Speck überwog bei weitem. Und so begann sich ein ganz neuer Kundenstamm zu formieren: der dicke Mann, der allein kam. Um seinen Bauch fotografieren zu lassen. Es kamen Kerls mit tätowierten Armen und Lederweste; Männer in mittlerem Alter, die fürs Foto ihren Blaumann aufknöpften, und feiste Herren im Doppelreiher. Allen gemeinsam war der Wanst, der über die Hose quoll. Mit verzückten Mienen holten sie ihre Bilder ab: Ich hatte ihnen ihren Stolz zurückgegeben.
Meine Praktikantin war begeistert. Ich musste sie mehrmals aus dem Studio weg „nach hinten“ schicken, weil sie in Gegenwart der Kunden Bemerkungen machte. Im Jahr nachdem ich mit den Bauchfotos begonnen hatte, wurde eine überregionale Zeitschrift auf mich aufmerksam, und es gab einen großen bebilderten Bericht. Ich bekam sogar ein Angebot eines großen Buchverlags, einen Fotoband mit Bäuchen herauszubringen. Ich bezweifelte, ob meine Kunden für ein solches Projekt bereit seien, machte aber einen Versuch und schickte einen Formbrief herum. Erstaunlicherweise waren fast alle Kunden einverstanden, ihren Bauch zwischen Buchdeckeln zu verewigen – alle Männer und nicht wenige Frauen. Ja, ich hatte auch weibliche Bäuche unter meinen Kunden; zwar sind Frauen schwerer zufriedenzustellen und bestehen auf einer ästhetisierenden Darstellung ihres Specks, was problematisch sein kann, aber bisher sind keine Klagen gekommen. Den Fotoband habe ich dann trotzdem nicht gemacht, obwohl das Angebot finanziell gesehen sehr verlockend war. Warum nicht? Ich dachte nicht weiter darüber nach. Vielleicht wollte ich nicht bekannt werden, jedenfalls nicht mit Bauchfotos. Meine Praktikantin warf mir vor, ich sei „hoffnungslos in kleinbürgerlichem Denken verhaftet“. Schließlich ging sie weg. Ich nahm mir eine ganz junge Auszubildende, die so schüchtern war, dass sie nie Vorschläge machte.
Um diese Zeit hatte ich kurz hintereinander zwei Kunden, die mich baten, zu ihnen ins Haus zu kommen. Der erste war ein älterer Mann, so dick, dass er sich kaum noch von der Stelle rührte. Seine Haushälterin öffnete mir die Tür. Er saß auf einem Sofa, das wohl zweisitzig war, aber er füllte es allein aus. Natürlich trug er Gummizughosen und einen unförmigen Kittel. Er wolle sich ein Magenband legen lassen, erklärte er mir kurzatmig, und danach werde er endlich abnehmen, jedenfalls nach Meinung der Ärzte. Zuvor wollte er aber unbedingt noch ein Bauchbild. Mit Hilfe der Haushälterin rückte ich den Couchtisch aus dem Weg, und die Haushälterin half dem Kunden, seinen Kittel hochzuraffen. Sie verzog keine Miene. Ich machte vier Bilder aus verschiedenen Blickwinkeln. Der Kunde brummelte unwillig. Er wollte keinen „dokumentarischen Stil“, sondern „etwas Künstlerisches“, was er sich nachher an die Kühlschranktür hängen könne. Schließlich legte ich mich auf den Boden und fotografierte den Bauch von unten nach oben, samt dem Doppelkinn, das wie eine Kuppel darauf ruhte. Als ich die Fotos entwickelte, bemühte ich mich – zum ersten Mal in meiner beruflichen Laufbahn – nicht richtig hinzusehen.
Der zweite Hausbesuch fand bei einer jungen Frau statt, die (behauptete sie) hundertdreißig Kilo wog und ein Selbstbewusstsein ausstrahlte, dass man neidisch werden konnte. Sie war keineswegs schwerfällig, sondern öffnete mir selbst die Tür, kraxelte vor mir her die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer und öffnete die Kleiderschränke, um verschiedene leichte Gewänder herauszuholen, in denen ich sie fotografieren sollte. Ich fragte, warum sie nicht in ein Fotostudio ginge, wo man es mit Licht und farbigem Hintergrund einfacher hatte. Sie zeigte auf eine Kamera, die mit Stativ auf einer Kommode stand: Sie sei Webcamgirl und bräuchte die Bilder zu Reklamezwecken, daher müsste ihr Schlafzimmer darauf zu sehen sein. Nein, sie wolle keine Nacktfotos, fügte sie sofort hinzu. Sie wolle schöne Bilder. „Mit ästhetischem Anspruch“.
Ich machte die Bilder. Mit neckischem Hüftschwung stolzierte sie vor der Kamera auf und ab. Die Fußbodendielen knarrten, ihr gewaltiger Busen wogte bei jedem Schritt. Nach einiger Zeit gewöhnte ich mich daran; sie erinnerte mich ein wenig an die berühmten steinzeitlichen Figuren von Fruchtbarkeitsgöttinnen. Ein paar Tage später holte sie die Bilder ab. Sie hatte ein Tablet dabei, das sie benutzte, um mir ein Video zu zeigen: Während meines Besuchs hatte die Webcam ein paar Minuten aufgezeichnet, ohne dass ich es merkte. Zu sehen war die junge Frau, in durchsichtigen Stoff gehüllt, elegant trotz ihrer Massigkeit, und im Hintergrund eine schwerfällige, leicht übergewichtige Person in einem unkleidsamen grauen Pullover. Das war ich.
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt ein Bild von mir selbst gesehen hatte. Es war erschreckend, befremdend. Ich brachte es mühsam über mich, die Kundin um eine Kopie des Filmchens zu bitten. In den nächsten Tagen sah ich es immer wieder an, meistens am Abend, wenn das Fernsehprogramm vorbei war und ich schon ein paar Gläser Wein getrunken hatte. Da stand ich klobig und unbeholfen im Schlafzimmer meiner Kundin herum, während sie in einer Wolke aus schleierartigen Gewändern unter sanfter Beleuchtung posierte, aus jeder Speckfalte Glück und Verheißung ausstrahlend. So oft ich den Film ansah, die Anwesenheit dieser grauen Statistin im Hintergrund war immer wieder eine Überraschung; ich erkannte sie nicht. Schließlich legte ich meine Kamera auf den Boden, setzte mich breitbeinig davor aufs Sofa, rollte meinen Pullover hoch und fotografierte meinen eigenen Bauch.
Seitdem habe ich keinen Bauch mehr fotografiert. Um nicht mit den Kunden diskutieren zu müssen, erkläre ich einfach, dass es nach den letzten Bauchfotos rechtliche Probleme gegeben habe und ich deshalb nur noch ganz konventionelle Bilder mache. Die Kunden, die unbedingt ein Bauchbild möchten, gehen jetzt zu meiner ehemaligen Praktikantin, die inzwischen ein eigenes Studio eröffnet hat und als Spezialität „Körperporträts“ anbietet. Sie hat auch eine Auswahl ihrer Fotos in Buchform veröffentlicht. Ich habe mir das Buch angesehen und einige der abgebildeten Bäuche wiedererkannt, aber es ist kein schönes Buch, ich möchte es nicht im Bücherschrank haben.
Ich habe mein Studio verkleinert und bediene nur noch den soliden Grundstock von Aufträgen: Passfotos, Bewerbungsbilder, Fotos von Kindern mit Schultüte, von Hochzeitspaaren, von Großeltern im Kreis ihrer Familie. Ja, gerade die Großeltern machen mir zur Zeit viel Freude, oder vielmehr ganz allgemein alte Leute. Wenn ich Zeit habe, besuche ich ein Altenheim ein paar Straßen weiter und mache Fotos von den Insassen. Nur zu meinem Vergnügen, ohne Bezahlung; aber wer möchte, bekommt natürlich einen Abzug. Ich mag die abgenutzten Gesichter, das Flüchtige darin, den Hauch von Ewigkeit. Die straff über Knochen gespannte Haut, das durchsichtige Haar, den abwesenden, glasigen Blick in eine ungewisse Zukunft. Irgendwann, in ein paar Jahren, werde ich das nächste Bild von mir selbst machen. Bis dahin warte ich geduldig.
Änderung: "Jedes Mal, wenn ich den Film sah, fühlte ich ein peinliches Unbehagen, das ich mir nicht erklären konnte." - geändert in: "So oft ich den Film ansah, die Anwesenheit dieser grauen Statistin im Hintergrund war immer wieder eine Überraschung; ich erkannte sie nicht."
Weitere Änderung im vorletzten Absatz. Ursprünglicher Wortlaut: <Das Fotobuch mit den Bauchbildern ist übrigens inzwischen erschienen; meine ehemalige Praktikantin hat ein eigenes Studio eröffnet und bietet als besonderen Service „Körperporträts“ an. Ich habe ihr Buch bei Amazon bestellt, weil es mir peinlich gewesen wäre, es im Buchladen zu kaufen, wo man mich kennt. Wie vorherzusehen gefiel es mir nicht, obwohl ich einige der dargestellten Bäuche wiedererkannte; es waren ehemalige Kunden von mir. Ich blätterte das Buch durch und schickte es wieder zurück. Es soll ein großer Erfolg geworden sein.>
Mit den Bauchbildern habe ich vor Jahren begonnen, als es Mode wurde, den dicken Schwangerschaftsbauch herzuzeigen. Als ich jung war, haben werdende Mütter den wachsenden Umfang unter weiten Kitteln versteckt. Heute kommen Schwangere in mein Atelier, rollen den elastischen Hosenbund nach unten und präsentieren den runden Babybauch stolz der Kamera. Manchmal kommen sie kurz nach der Geburt wieder, das Neugeborene im Arm, und lassen den ausgeleerten, schlaffen Leib ein zweites Mal ablichten. Ich mache Bilder; ein Urteil abzugeben, ist nicht meine Aufgabe.
Eines Tages, als ich gerade die Kamera in Anschlag gebracht hatte, kam der werdende Vater ins Bild, stellte sich neben die Kundin und entblößte seinen eigenen Oberkörper. Die Schwangere trug einen schwarzen Bandeau-BH und eine Jogginghose, die sie auf die Hüftknochen geschoben hatte. Der Mann hatte ebenfalls ausgeleierte Jogginghosen an und trug keinen BH, obwohl er ihn meiner Meinung nach mindestens so dringend brauchte wie seine Partnerin. Einträchtig lachend präsentierten sie ihre runden Bäuche der Kamera. Ich machte ein kontrastreiches Schwarzweißbild. Es war nicht gerade schön, aber die strahlenden Gesichter ließen es jedenfalls freundlich wirken, und originell war es allemal.
„Das sollten Sie in Ihr Schaufenster hängen!“, sagte der Mann, als er die Abzüge abholte. „Wetten, dass es die Kundschaft in Scharen herbeilockt!“ Ich hatte meine Zweifel, aber da es eine flaue Zeit war, hängte ich das vergrößerte Foto in einem schlichten Rahmen aus – nicht ins Fenster, sondern etwas seitlich in einem Schaukasten.
Es war ein voller Erfolg. In den nächsten Tagen gaben sich bei mir die Bäuche die Klinke in die Hand. (Die holprige Metapher stammt nicht von mir, sondern von meiner jungen Praktikantin.) Die meisten Kunden waren Paare, die Frau schwanger, der Mann einfach dick. Es gab auch einige gut durchtrainierte Bäuche unter den männlichen Kunden, aber sie waren in der Minderheit. Um noch eine holprige Metapher zu zitieren, der Speck überwog bei weitem. Und so begann sich ein ganz neuer Kundenstamm zu formieren: der dicke Mann, der allein kam. Um seinen Bauch fotografieren zu lassen. Es kamen Kerls mit tätowierten Armen und Lederweste; Männer in mittlerem Alter, die fürs Foto ihren Blaumann aufknöpften, und feiste Herren im Doppelreiher. Allen gemeinsam war der Wanst, der über die Hose quoll. Mit verzückten Mienen holten sie ihre Bilder ab: Ich hatte ihnen ihren Stolz zurückgegeben.
Meine Praktikantin war begeistert. Ich musste sie mehrmals aus dem Studio weg „nach hinten“ schicken, weil sie in Gegenwart der Kunden Bemerkungen machte. Im Jahr nachdem ich mit den Bauchfotos begonnen hatte, wurde eine überregionale Zeitschrift auf mich aufmerksam, und es gab einen großen bebilderten Bericht. Ich bekam sogar ein Angebot eines großen Buchverlags, einen Fotoband mit Bäuchen herauszubringen. Ich bezweifelte, ob meine Kunden für ein solches Projekt bereit seien, machte aber einen Versuch und schickte einen Formbrief herum. Erstaunlicherweise waren fast alle Kunden einverstanden, ihren Bauch zwischen Buchdeckeln zu verewigen – alle Männer und nicht wenige Frauen. Ja, ich hatte auch weibliche Bäuche unter meinen Kunden; zwar sind Frauen schwerer zufriedenzustellen und bestehen auf einer ästhetisierenden Darstellung ihres Specks, was problematisch sein kann, aber bisher sind keine Klagen gekommen. Den Fotoband habe ich dann trotzdem nicht gemacht, obwohl das Angebot finanziell gesehen sehr verlockend war. Warum nicht? Ich dachte nicht weiter darüber nach. Vielleicht wollte ich nicht bekannt werden, jedenfalls nicht mit Bauchfotos. Meine Praktikantin warf mir vor, ich sei „hoffnungslos in kleinbürgerlichem Denken verhaftet“. Schließlich ging sie weg. Ich nahm mir eine ganz junge Auszubildende, die so schüchtern war, dass sie nie Vorschläge machte.
Um diese Zeit hatte ich kurz hintereinander zwei Kunden, die mich baten, zu ihnen ins Haus zu kommen. Der erste war ein älterer Mann, so dick, dass er sich kaum noch von der Stelle rührte. Seine Haushälterin öffnete mir die Tür. Er saß auf einem Sofa, das wohl zweisitzig war, aber er füllte es allein aus. Natürlich trug er Gummizughosen und einen unförmigen Kittel. Er wolle sich ein Magenband legen lassen, erklärte er mir kurzatmig, und danach werde er endlich abnehmen, jedenfalls nach Meinung der Ärzte. Zuvor wollte er aber unbedingt noch ein Bauchbild. Mit Hilfe der Haushälterin rückte ich den Couchtisch aus dem Weg, und die Haushälterin half dem Kunden, seinen Kittel hochzuraffen. Sie verzog keine Miene. Ich machte vier Bilder aus verschiedenen Blickwinkeln. Der Kunde brummelte unwillig. Er wollte keinen „dokumentarischen Stil“, sondern „etwas Künstlerisches“, was er sich nachher an die Kühlschranktür hängen könne. Schließlich legte ich mich auf den Boden und fotografierte den Bauch von unten nach oben, samt dem Doppelkinn, das wie eine Kuppel darauf ruhte. Als ich die Fotos entwickelte, bemühte ich mich – zum ersten Mal in meiner beruflichen Laufbahn – nicht richtig hinzusehen.
Der zweite Hausbesuch fand bei einer jungen Frau statt, die (behauptete sie) hundertdreißig Kilo wog und ein Selbstbewusstsein ausstrahlte, dass man neidisch werden konnte. Sie war keineswegs schwerfällig, sondern öffnete mir selbst die Tür, kraxelte vor mir her die Treppe hinauf in ihr Schlafzimmer und öffnete die Kleiderschränke, um verschiedene leichte Gewänder herauszuholen, in denen ich sie fotografieren sollte. Ich fragte, warum sie nicht in ein Fotostudio ginge, wo man es mit Licht und farbigem Hintergrund einfacher hatte. Sie zeigte auf eine Kamera, die mit Stativ auf einer Kommode stand: Sie sei Webcamgirl und bräuchte die Bilder zu Reklamezwecken, daher müsste ihr Schlafzimmer darauf zu sehen sein. Nein, sie wolle keine Nacktfotos, fügte sie sofort hinzu. Sie wolle schöne Bilder. „Mit ästhetischem Anspruch“.
Ich machte die Bilder. Mit neckischem Hüftschwung stolzierte sie vor der Kamera auf und ab. Die Fußbodendielen knarrten, ihr gewaltiger Busen wogte bei jedem Schritt. Nach einiger Zeit gewöhnte ich mich daran; sie erinnerte mich ein wenig an die berühmten steinzeitlichen Figuren von Fruchtbarkeitsgöttinnen. Ein paar Tage später holte sie die Bilder ab. Sie hatte ein Tablet dabei, das sie benutzte, um mir ein Video zu zeigen: Während meines Besuchs hatte die Webcam ein paar Minuten aufgezeichnet, ohne dass ich es merkte. Zu sehen war die junge Frau, in durchsichtigen Stoff gehüllt, elegant trotz ihrer Massigkeit, und im Hintergrund eine schwerfällige, leicht übergewichtige Person in einem unkleidsamen grauen Pullover. Das war ich.
Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt ein Bild von mir selbst gesehen hatte. Es war erschreckend, befremdend. Ich brachte es mühsam über mich, die Kundin um eine Kopie des Filmchens zu bitten. In den nächsten Tagen sah ich es immer wieder an, meistens am Abend, wenn das Fernsehprogramm vorbei war und ich schon ein paar Gläser Wein getrunken hatte. Da stand ich klobig und unbeholfen im Schlafzimmer meiner Kundin herum, während sie in einer Wolke aus schleierartigen Gewändern unter sanfter Beleuchtung posierte, aus jeder Speckfalte Glück und Verheißung ausstrahlend. So oft ich den Film ansah, die Anwesenheit dieser grauen Statistin im Hintergrund war immer wieder eine Überraschung; ich erkannte sie nicht. Schließlich legte ich meine Kamera auf den Boden, setzte mich breitbeinig davor aufs Sofa, rollte meinen Pullover hoch und fotografierte meinen eigenen Bauch.
Seitdem habe ich keinen Bauch mehr fotografiert. Um nicht mit den Kunden diskutieren zu müssen, erkläre ich einfach, dass es nach den letzten Bauchfotos rechtliche Probleme gegeben habe und ich deshalb nur noch ganz konventionelle Bilder mache. Die Kunden, die unbedingt ein Bauchbild möchten, gehen jetzt zu meiner ehemaligen Praktikantin, die inzwischen ein eigenes Studio eröffnet hat und als Spezialität „Körperporträts“ anbietet. Sie hat auch eine Auswahl ihrer Fotos in Buchform veröffentlicht. Ich habe mir das Buch angesehen und einige der abgebildeten Bäuche wiedererkannt, aber es ist kein schönes Buch, ich möchte es nicht im Bücherschrank haben.
Ich habe mein Studio verkleinert und bediene nur noch den soliden Grundstock von Aufträgen: Passfotos, Bewerbungsbilder, Fotos von Kindern mit Schultüte, von Hochzeitspaaren, von Großeltern im Kreis ihrer Familie. Ja, gerade die Großeltern machen mir zur Zeit viel Freude, oder vielmehr ganz allgemein alte Leute. Wenn ich Zeit habe, besuche ich ein Altenheim ein paar Straßen weiter und mache Fotos von den Insassen. Nur zu meinem Vergnügen, ohne Bezahlung; aber wer möchte, bekommt natürlich einen Abzug. Ich mag die abgenutzten Gesichter, das Flüchtige darin, den Hauch von Ewigkeit. Die straff über Knochen gespannte Haut, das durchsichtige Haar, den abwesenden, glasigen Blick in eine ungewisse Zukunft. Irgendwann, in ein paar Jahren, werde ich das nächste Bild von mir selbst machen. Bis dahin warte ich geduldig.
Änderung: "Jedes Mal, wenn ich den Film sah, fühlte ich ein peinliches Unbehagen, das ich mir nicht erklären konnte." - geändert in: "So oft ich den Film ansah, die Anwesenheit dieser grauen Statistin im Hintergrund war immer wieder eine Überraschung; ich erkannte sie nicht."
Weitere Änderung im vorletzten Absatz. Ursprünglicher Wortlaut: <Das Fotobuch mit den Bauchbildern ist übrigens inzwischen erschienen; meine ehemalige Praktikantin hat ein eigenes Studio eröffnet und bietet als besonderen Service „Körperporträts“ an. Ich habe ihr Buch bei Amazon bestellt, weil es mir peinlich gewesen wäre, es im Buchladen zu kaufen, wo man mich kennt. Wie vorherzusehen gefiel es mir nicht, obwohl ich einige der dargestellten Bäuche wiedererkannte; es waren ehemalige Kunden von mir. Ich blätterte das Buch durch und schickte es wieder zurück. Es soll ein großer Erfolg geworden sein.>