Überleben
Verfasst: 20.07.2014, 22:17
Überleben
I.
Maria steht alle fünf Minuten. Sie hat sehr unpraktische Schuhe an für einen langen Weg; flache Schuhe zwar, aber mit offener Ferse und so dünner Korksohle, dass sich alle Augenblicke ein Steinchen zwischen Fuß und Kork schiebt. Sie bleibt stehen, eine Hand an eine Hauswand gestützt, die andere Hand am graziös angehobenen Fuß. Sie schiebt einen Zeigefinger zwischen Schuh und Haut. Einbeinig stehend, mit Scheinwerferlicht im Rücken, das ihre mohnrote Jacke zum Glühen bringt, gibt sie ein interessantes Fotomotiv ab. »Achtung Aufnahme«, sagt Bente.
Maria: »Du, mach dich nicht lustig!«
Bente: »Elegante Dame der Gesellschaft auf dem Nachhauseweg vom Ball.«
Worauf beide lachen, denn Marias flache Latschen sind nicht ballgeeignet, und um den Hals trägt sie statt Perlen oder Diamanten eine gehäkelte Knopfkette. Perlmuttknöpfe, gefädelt auf stabile Kunstseide, feste Maschen und Luftmaschen. Die Knopfkette, das ist Maria.
Marias Schmuck hat sie zusammengeführt. Sie gehen seit fast einem Vierteljahr jeden Abend zusammen heim. Meistens erst nach sieben Uhr, und unterwegs kehren sie manchmal bei einem Inder ein und essen einen Teller Curry. Das letzte Stück Wegs gehen sie im Dunkeln, straßenlampenerhellt. Die Straße zieht sich endlos, immer bergab. Morgens, bergauf, nehmen beide den Bus. Abends fahren die Busse in so großen Abständen, dass man Zeit spart, wenn man läuft. Außerdem, versichern sie einander, ist es gut für die Fitness. Und man kann beim Inder Pause machen.
Maria, die Fünfzigjährige, hat einen Laden mit Flohmarktschmuck. Ohrringe und Ketten aus Kleinteilen gebastelt, meist Puppenhausinterieur oder Puppengeschirr; mit Mini-Teetässchen, Mini-Geigen, Mini-Hirschgeweihen. Manchmal abgespitzte Bleistiftstummel, mit Lack versiegelt; elektronische Bauteile, Köderfliegen aus dem Anglerbedarf und metallener Kleinkram, den sie bei Hornbach kauft.
Seit eine überregionale Zeitung über sie berichtet hat, ist ihr Laden ganz gut besucht. Sie arbeitet von morgens bis abends. Für Haushalt und Küche sorgt Robert. Bente, die ihm nie begegnet ist, stellt sich eine gedrungene, gartenzwergartige Gestalt mit Gießkanne vor. Robert, Frührentner.
Bente, halb so alt wie Maria, stämmig und freundlich mit dickem blondem Zopf, praktikantet im Biolabor an der Uni. Kennen gelernt haben sie sich auf dem Bürgersteig, als Bente ins Schaufenster blickte, just als Maria herauskam und ihren Laden für den Abend abschloss. Es stellte sich heraus, dass beide im gleichen Randbezirk wohnen. Maria in einer Parterrewohnung mit Gärtchen, Bente in einer Praktikantenbude. Der gemeinsame Heimweg wurde zur Gewohnheit. Immer wieder nehmen sich beide vor, einmal »pünktlich Feierabend zu machen«. Um sechs. Es klappt nie. Bis sie beim Inder angekommen sind, zeigt die Uhr meistens schon acht. Maria lässt sich bereitwillig auf »einen Happen zu essen« ein. Auf die Frage, ob Robert zu Hause auf sie warte, zuckt sie die Achseln.
Das Lokal ist bescheiden eingerichtet und viel zu hell erleuchtet. An der Theke sitzt eine verhutzelte Alte und trinkt Tee. Über Marias Stuhl hängt ein Fernseher an der Wand. Ein Bollywood-Film läuft ohne Ton. Maria stochert in ihrem Curry, schiebt die bunten Bohnen von einer Seite auf die andere.
»Nicht gut?«, fragt Bente und streut Pfeffer über ihren Salat.
»Doch, schon … Hast du dieses Armband noch, das du bei mir gekauft hast?«
»Klar doch.« Und Bente präsentiert zum Beweis ihr Handgelenk mit einem gefädelten Buddhakettchen.
»Ich weiß nicht, ob ich es dir damals erzählt habe, aber das sind auch Bohnen. Sieht man nicht, oder? Ich bohre sie immer quer an, wenn sie noch etwas elastisch sind. Dann kann man sie später gut auffädeln.«
Bente betrachtet erstaunt die Kette. »Das hätt ich nie geglaubt. Die sind doch blau!«
»Die blauen, das sind Cherokee Trail of Tears. Und die gemusterten sind Monstranzbohnen. Es gibt auch noch eine Sorte mit schwarzen Punkten, die heißt Nonnennabel. Die hatte ich auch schon im Garten, aber sie ist nichts geworden.« Sie nimmt einen Mundvoll und lässt die Gabel wieder sinken. »Robert ist Spezialist für Bohnen. Er treibt jedes Jahr andere Sorten auf.«
»Die sind wirklich sehr schön. Wie Perlen.«
»Es sind alte Sorten, die meisten werden in Deutschland gar nicht mehr verkauft. Robert tauscht sie bei Internetbörsen ein.«
Wenn Maria über ihren Mann spricht, sinkt ihr Tonfall zu angestrengter Neutralität ab, als gehöre ihre Privatmeinung nicht hierher. Bente kann nicht unterscheiden, ob es Gutes oder Schlechtes ist, was sie verschweigt.
»Du würdest dich wundern. In der EU darf amtlich nicht zugelassenes Saatgut nicht verkauft werden. Das gilt für fast alle alten und seltenen Sorten. Robert kann sich darüber endlos aufregen. Folge ist, dass sich Tauschbörsen für solche alten Bohnensorten entwickelt haben. Verkaufen ist nicht erlaubt. Aber tauschen darfst du noch … solange Monsanto dich lässt. Wir habe jedes Jahr Unmengen bunter Bohnen im Garten.«
»Faszinierend!« Bente dreht das Kettchen am Handgelenk. »Und diese gemusterte Bohne, wie heißt die noch mal?«
»Monstranzbohne. Weil das Muster wie eine Monstranz aussieht. Die Bauern haben früher oft eine solche Bohne an den Rand des Ackers gelegt, weil sie Segen zur Ernte erhofften. Man hat sie auch für Rosenkränze genommen … als Rosenkranzperlen, meine ich. Jetzt findet man sie kaum noch … naja, Robert findet alles.« Sie spricht mit müder Stimme.
»Es muss nett sein, einen Mann mit grünem Daumen zu haben«, bemerkt Bente. Ihr ist, als müsse sie den unbekannten Robert verteidigen. »Irgendwann möchte ich auch einen Garten haben …« Bente sieht Marias Küche vor sich: Sie, Maria, sitzt am Küchentisch und fädelt Bohnen, während ihr Gartenzwergmann mit grüner Schürze am Herd werkelt. »Nimm’s mir nicht übel, Maria, aber mir ist es immer noch ein Rätsel, wie du von diesem Laden leben kannst.«
Maria: »Kann ich auch nicht. Ohne Roberts Pension käme ich nie durch. Der Laden wirft kaum die Kosten ab.«
Bente übernimmt die Rechnung. Da sie ohnehin fast jeden Tag beim Inder einkehren, wechseln sie sich damit ab. Am Tresen stehend, zählt sie das Geld samt bescheidenem Trinkgeld auf ein Tellerchen, das ihr der Wirt hingeschoben hat. Der Wirt ist jung, untersetzt, hat einen angestrengten Blick wie ein Kurzsichtiger ohne Sehhilfe.
Maria steht abseits. Sie wechselt ein paar Worte mit der hutzeligen Teetrinkerin, reicht ihr die geöffnete Hand hin – gibt sie ihr Geld? Nein. Die Alte ergreift die Hand und streicht die Falten auf der Handfläche glatt.
Für einen Augenblick präsentieren sie sich Bente wie ein Ausschnitt aus einem alten Gemälde: konzentriert über Marias Handfläche gebeugt, die Alte angegraut und farblos in einem abgewetzten Parka, Maria mit ihrer mohnroten Jacke und einem bläulichen Lichtreflex im Haar. Dann nimmt der Wirt das Tellerchen mit einem »Dhanyavaad« an sich, und Maria zieht mit einem Ruck ihre Hand weg und wendet sich zur Tür.
II.
Maria steht nicht mehr, sie rennt beinahe. Ihr Kopf ist tief gesenkt, der Nacken drückt verkrampfte Abwehr aus. Bente folgt ihr. »Maria, was ist los? Bleib doch mal stehen!«
Dreißig Meter weiter bleibt Maria endlich stehen. Eine Hand an der Hauswand abgestützt, hebt sie den Fuß an und bohrt einen Finger zwischen Schuh und Haut. »Ach verdammt.«
»Maria, was ist mit dir? Was war mit der Alten in dem Lokal?«
Maria gräbt im Schuh, die Lippen zusammengepresst.
Bente: »Nun sag schon. Was wollte die denn?«
Ein Steinchen fällt aus dem Schuh. Endlich fängt sie an zu reden. »Sie hat mich an etwas erinnert … was im letzten Jahr passierte.«
»Du kennst sie also?«
»Wir waren auf Urlaub, Robert und ich. Wir waren wandern am Monte Generoso. Es war Anfang Juni. Wir sind eine Tour gelaufen, die wir schon mehrfach gemacht hatten … Es war wunderschön. Ganz blauer Himmel. Und krasses Tauwetter. Wo noch Schnee lag, gluckerte unter der Schneedecke das Tauwasser bergab. Und der Schnee war schwer, oben verkrustet, wie aufgefirnt. Wir sind auf der Schneedecke gelaufen. Ein paarmal haben wir den Weg verloren, weil die Markierungen nicht mehr zu sehen waren. Sie waren gelb. Gelbe Pfeile. Aber der Weg war immer mehr verschneit, je höher wir stiegen, nur manchmal guckten Steinbuckel aus dem Schnee, und wenn ein gelber Pfeil aufgemalt war, wussten wir, dass wir die Richtung noch hatten … eigentlich war es ja egal, wir hatten die Tour wie gesagt schon mehrmals gemacht, und man geht mehr oder weniger richtig, solange man steigt.« Sie stößt ein atemloses Lachen aus.
Die Straße zieht sich vor ihnen in einer langen Geraden bergab, hohe Häuser links und rechts, weit vorne liegt die Kreuzung, wo sich ihre Wege trennen werden.
»Die Tour ist verdammt anstrengend. Und ich kannte sie nur ohne Schnee. Es war heiß wie im Hochsommer, ich ging in kurzen Hosen, sogar Robert hatte die Buxen hochgekrempelt, macht er sonst nie. Und der Schnee lag hoch. Ich hatte Gehstöcke dabei, die auf einen Meter zwanzig eingestellt waren. Ich habe mal einen Stock probeweise reingestoßen, wo die gefrorene Schicht durchlässig war. Als ich mit der Spitze auf Stein stieß, guckte noch eben gerade der Griff raus. So hoch lag der Schnee. Unten drunter gluckerte das Tauwasser. Wir liefen da hoch, als gäbe es kein Morgen. Das war geradezu sträflicher Leichtsinn. Aber Leuten, die nicht denken können, passiert ja meistens nichts.« Sie versinkt in Murmeln. Es klingt wie unterdrückte Flüche.
»Und dann?«
Maria bleibt so abrupt stehen, dass Bente gegen sie prallt. »Ha! Dann hat Robert irgendwann gesagt, dass wir umkehren müssen. Er war ein Stück voraus. Auf diesem Schneebrett, unter dem das Wasser floss. Robert ist leichter als ich. Er ist ein Mann und fünf Zentimeter größer, aber trotzdem ist er leichter. Ich bin fett geworden in den letzten Jahren. Naja, ist ja egal. Eingebrochen bin ich trotzdem nicht und Robert erst recht nicht. Aber er sagte jedenfalls, dass wir umkehren müssten. Es sei zu gefährlich. Wenn was passiert, sagte er, sind wir am Arsch. Es gibt ja nicht mal ein verlässliches Handynetz so weit oben.« Erneutes stakkatoartiges Lachen, wie ein Interpunktionszeichen. »Gut, also drehen wir um. Umdrehen am Berg ist, wie soll ich sagen, ein Wechsel der Perspektive. Vorher guckt man Richtung Gipfel, danach guckt man nach unten in die Tiefe. Das war verdammt steil, alles mit Schnee bedeckt, und da mussten wir also wieder runter, ohne einen richtigen Weg. Ich hab die Stöcke reingebohrt und versucht, in meine Trittspuren vom Aufstieg zu treten. Ich weiß nicht, was Robert gemacht hat. Ich hab nach unten geschaut. Auf einmal hörte ich ihn rufen. Und im nächsten Moment rutschte er an mir vorbei. Auf dem Hintern. Er lag beinahe platt auf der Schneedecke. Die Beine gespreizt, die Arme hoch, und in den Händen die Stöcke. Die nützten ihm natürlich rein gar nichts. Er rutschte immer schneller den Hang abwärts, wie beim Schlittenfahren. Und gerade auf einen Steinbuckel zu, der noch gute zwanzig Meter unter ihm lag. Der hatte, naja, ein paar recht scharfe Kanten.«
Für Sekunden tritt Stille ein. Beide gehen bergab, in sportlichem Schritt wie Mitglieder einer Nordic-Walking-Truppe. Maria gibt das Tempo vor. Mit durchgedrückten Knien, die Arme schwingend, als ginge es ums Leben. Das liebe Leben.
Maria, mit leichtfertigem Lachen: »Bente. Du musst mich jetzt fragen: Und was dann?«
Bente: »Ja, und was dann?«
Maria schweigt. Wieder zehn Schritte. Maria: »Nein, anders. Frag mich: Was hast du gefühlt?«
Bente: »Was hast du gefühlt?«
»Hoffnung?« – sie zögert. »Ich denke darüber nach, seit wir zurückgekommen sind, Robert und ich. In fünf Wochen gehen wir wieder in Urlaub, ich habe eine Vertretung gefunden für meinen Laden, im Grunde kann ich es mir nicht leisten, aber ist ja egal. Nun also, ich stand da im Schnee, die Stöcke reingerammt, ich sah Robert rutschen, gerade auf diesen Felsbuckel zu, und dieser Felsbuckel markierte das Ende von allem. Mir ging es durch den Kopf, es dauerte nur Sekunden, aber ich hatte tausend Gedanken. Die Handyverbindung oben am Berg war bescheiden – ich wusste das, weil ich auf halber Höhe versucht hatte, das Restaurant unten anzurufen, ob der Gipfel gangbar wäre. Es gab keine Verbindung. Die Bergwacht anzurufen, wäre reine Glückssache gewesen. Und selbst wenn. Da war dieser Felsbuckel, und Robert rutschte darauf zu … ich sehe es noch … er fuchtelte mit den Stöcken in der Luft. Und was ich fühlte, ist Hoffnung.«
Ihre Schritte werden immer länger.
»Ich sah unsere Wohnung. Wir haben ein kleines ungenutztes Kinderzimmer, nicht wahr, da hat Robert seinen Schreibtisch drin, und sonst allerhand Kram. Ich würde mein Einzelbett in diesem Zimmer aufstellen und unser Schlafzimmer als Arbeitszimmer nehmen. Ich würde mir einen großen Brenner kaufen und lernen, selbst Glasperlen zu machen. Tiffanyperlen. Ich würde im Garten Rasen ansäen und höchstens zwei Apfelbäume pflanzen, Halbstämme, die machen nicht viel Arbeit. Und einen großen Freisitz ausbauen, damit ich im Sommer ein paar Leute zum Grillen einladen kann. Und ich würde … «, ihre Stimme vermurmelt sekundenlang. »Ja! Und dann würde ich einen Tangokurs besuchen. Ich möchte richtig tanzen lernen. Tango und Salsa. Davon habe ich immer geträumt. Ich möchte jeden Abend ausgehen und tanzen, oder ins Theater.«
Ihre Stimme versickert. Sie scheint vorläufig zum Schluss gekommen zu sein.
Bente: »Das hast du alles gedacht?«
Maria: »Wie ich sage.«
»In den paar Sekunden?«
»Sekundenbruchteilen. Das ging mir alles durch den Kopf, in Bildern, verstehst du, Schlag auf Schlag wie Peitschenknallen.«
Bente zögert, es klingt allzu ungehörig: »Du hast dir gewünscht, dass er auf den Stein prallt?«
»Sag sowas nicht. Ich hab mir gar nichts gewünscht.«
»Und was dann?«
»Ich hab es gesehen. Und alles andere. Meinen Glasbrenner. Den Freisitz im Garten, wenn ich diese ganzen Bohnenbeete plattgemacht habe. Und mich selbst, wie ich Tango tanze. Ich habe es gesehen.«
»Und Robert?«
»Er rutschte weiter, bis beinahe gegen den Felsbuckel, und dann schaffte er es, eine Ferse in den Schnee zu bohren … wie man beim Schlittenfahren lenkt. Er lenkte seitlich an dem Felsbuckel vorbei, und dabei verhakte er einen Stock an dem Felsen und hörte zu rutschen auf. Er kam sogar auf die Beine. Er hatte sich in die Hosen gemacht. Aber das wäre mir wohl genauso gegangen. Er lachte und meinte, er hätte Sternchen gesehen und die Engel singen gehört. Und so weiter. Die Sache war erledigt. Ich hatte das Handy schon in der Hand gehabt und steckte es wieder weg.«
Pause.
Bente: »Warst du enttäuscht?«
Pause.
Maria, verlegen lachend: »Ich weiß nicht. Es war irgendwie alles anders. Oder vielmehr, es war alles anders gewesen und nun war es wieder wie zuvor. Oder doch nicht. Eigentlich ist seitdem nichts mehr wie zuvor. Ich bin anders.«
Beide gehen eine Weile schweigend, bis Bente den Mut gefunden hat, in neutralem Ton zu fragen. »Warum lässt du dich nicht scheiden?«
»Was? Warum denn?«
»Es klingt, als sei es das Beste für dich.«
»Ich kann mich nicht scheiden lassen«, erwidert Maria schroff. »Du verstehst das nicht. Ich bin über fünfzig. Robert ist über sechzig. Wir sind dreißig Jahre verheiratet. Da lässt man sich nicht mehr scheiden. Und was sollte danach aus mir werden? Mit dem Laden? Den habe ich doch bloß, um nicht bei Robert zu Hause zu sitzen.«
»Ich dachte, du liebst den Laden.«
Maria sagt nichts mehr. Die Kreuzung rückt ständig näher. Dort muss Maria links gehen und Bente rechts.
»Aber du hast mir immer noch nicht gesagt«, fängt Bente wieder an, »was mit der Alten war. Der Alten, die bei dem Inder saß.«
»Die Alte!« Maria lacht. »Die wollte mir aus der Hand lesen. Ich dachte zuerst, was für ein Quatsch. Sie sagte allen Ernstes zu mir, ich sei eine schöne Frau, und ob sie mir aus der Hand weissagen solle.«
»Wollte sie Geld?«
»Nein. Davon war gar nicht die Rede.«
»Und was hat sie dir gesagt?«
»Nur einen Satz: Er wird dich überleben.«
Bente schaut Maria von der Seite an, die schmalen Lippen, die eingekniffenen Nasenflügel. Marias Stirn flammt feuerrot.
» Bist du sicher, dass du richtig gehört hast?«
»Ja.«
»Er wird dich überleben? Sonst nichts? Das ergibt doch keinen Sinn. Warum sollte sie so etwas sagen? Kennt sie dich?«
»Selbst wenn sie mich kennen würde – wäre das ein Unterschied? Wie kann sie wissen, was ich bis vor kurzem nicht mal selbst über mich wusste? Ich spreche doch nicht über diese Geschichte. Nicht mal mit mir.«
»Die hat einfach irgendwas geredet. Wahrscheinlich hast du sie falsch verstanden.«
Sie stehen vor der Kreuzung. Maria lehnt sich gegen eine Straßenlaterne, um wieder einmal an ihrem Fuß zu hantieren.
»Weißt du was«, bemerkt Bente leichthin, »lass uns morgen zum Inder gehen. Vielleicht sitzt sie wieder da. Dann soll sie mal aus meiner Hand lesen. Vielleicht sagt sie mir genau das gleiche.«
»Morgen ist Samstag«, erwidert Maria und zieht ihren Schuh aus. »Weißt du was, ich hab diese Schuhe satt. Ich gehe jetzt barfuß.«
»Du bekommst ganz dreckige Füße.«
»Und wenn schon.« Maria stopft die Schuhe in ihre Handtasche. »Eins musst du mir noch sagen, Bente. Es lässt mir keine Ruhe … sieht man mir irgendetwas an?«
»Was sollte ich dir denn ansehen?«
»Die Schuld«, sagte Maria. »Irgendwas muss man doch sehen in meinem Gesicht. Wie käme die Alte sonst darauf?«
Sie nähert sich Bente bis auf wenige Handbreit. Marias Gesicht ist so schuldbewusst, wie ein Gesicht nur sein kann. Stirn und Wangen glühen vor Hitze, kaum weniger rot als die mohnfarbene Jacke. Auf den Schläfen stehen Schweißperlen.
»Kann ich nicht beantworten«, sagt Bente zögernd. »Das wäre doch verrückt. Was erwartest du denn? So eine Art Kainsmal?«
»Ach, keine Ahnung.« Jetzt bewegen sich beide rückwärts, als erste Stufe des Abschiednehmens.
»Ich muss dann mal«, sagt Bente, und Maria gleichzeitig: »Gute Nacht.«
Bente: »Ich hab Samstag frei, weißt du ja. Aber Montag dann wieder.«
Maria: »Ja, bis Montag also.«
Sie gehen weiter rückwärts, mit zögernden Schritten, wie um einander so lange wie möglich im Auge zu behalten. Bente: »Schlaf gut, Maria.«
Maria nickt, und endlich wenden sie einander den Rücken zu. Es ist wie ein Abschied für sehr lange Zeit, wenn nicht für immer. Jede geht in ihre Richtung. Maria holt die Schuhe wieder aus der Tasche – sie wird sie an der nächsten Ecke, an eine Hauswand gelehnt, wieder anziehen. Und Bente bleibt an einer Bushaltestelle stehen, um den Fahrplan genauer anzusehen. Am Montagabend, nimmt sie sich vor, wird sie fahren.
I.
Maria steht alle fünf Minuten. Sie hat sehr unpraktische Schuhe an für einen langen Weg; flache Schuhe zwar, aber mit offener Ferse und so dünner Korksohle, dass sich alle Augenblicke ein Steinchen zwischen Fuß und Kork schiebt. Sie bleibt stehen, eine Hand an eine Hauswand gestützt, die andere Hand am graziös angehobenen Fuß. Sie schiebt einen Zeigefinger zwischen Schuh und Haut. Einbeinig stehend, mit Scheinwerferlicht im Rücken, das ihre mohnrote Jacke zum Glühen bringt, gibt sie ein interessantes Fotomotiv ab. »Achtung Aufnahme«, sagt Bente.
Maria: »Du, mach dich nicht lustig!«
Bente: »Elegante Dame der Gesellschaft auf dem Nachhauseweg vom Ball.«
Worauf beide lachen, denn Marias flache Latschen sind nicht ballgeeignet, und um den Hals trägt sie statt Perlen oder Diamanten eine gehäkelte Knopfkette. Perlmuttknöpfe, gefädelt auf stabile Kunstseide, feste Maschen und Luftmaschen. Die Knopfkette, das ist Maria.
Marias Schmuck hat sie zusammengeführt. Sie gehen seit fast einem Vierteljahr jeden Abend zusammen heim. Meistens erst nach sieben Uhr, und unterwegs kehren sie manchmal bei einem Inder ein und essen einen Teller Curry. Das letzte Stück Wegs gehen sie im Dunkeln, straßenlampenerhellt. Die Straße zieht sich endlos, immer bergab. Morgens, bergauf, nehmen beide den Bus. Abends fahren die Busse in so großen Abständen, dass man Zeit spart, wenn man läuft. Außerdem, versichern sie einander, ist es gut für die Fitness. Und man kann beim Inder Pause machen.
Maria, die Fünfzigjährige, hat einen Laden mit Flohmarktschmuck. Ohrringe und Ketten aus Kleinteilen gebastelt, meist Puppenhausinterieur oder Puppengeschirr; mit Mini-Teetässchen, Mini-Geigen, Mini-Hirschgeweihen. Manchmal abgespitzte Bleistiftstummel, mit Lack versiegelt; elektronische Bauteile, Köderfliegen aus dem Anglerbedarf und metallener Kleinkram, den sie bei Hornbach kauft.
Seit eine überregionale Zeitung über sie berichtet hat, ist ihr Laden ganz gut besucht. Sie arbeitet von morgens bis abends. Für Haushalt und Küche sorgt Robert. Bente, die ihm nie begegnet ist, stellt sich eine gedrungene, gartenzwergartige Gestalt mit Gießkanne vor. Robert, Frührentner.
Bente, halb so alt wie Maria, stämmig und freundlich mit dickem blondem Zopf, praktikantet im Biolabor an der Uni. Kennen gelernt haben sie sich auf dem Bürgersteig, als Bente ins Schaufenster blickte, just als Maria herauskam und ihren Laden für den Abend abschloss. Es stellte sich heraus, dass beide im gleichen Randbezirk wohnen. Maria in einer Parterrewohnung mit Gärtchen, Bente in einer Praktikantenbude. Der gemeinsame Heimweg wurde zur Gewohnheit. Immer wieder nehmen sich beide vor, einmal »pünktlich Feierabend zu machen«. Um sechs. Es klappt nie. Bis sie beim Inder angekommen sind, zeigt die Uhr meistens schon acht. Maria lässt sich bereitwillig auf »einen Happen zu essen« ein. Auf die Frage, ob Robert zu Hause auf sie warte, zuckt sie die Achseln.
Das Lokal ist bescheiden eingerichtet und viel zu hell erleuchtet. An der Theke sitzt eine verhutzelte Alte und trinkt Tee. Über Marias Stuhl hängt ein Fernseher an der Wand. Ein Bollywood-Film läuft ohne Ton. Maria stochert in ihrem Curry, schiebt die bunten Bohnen von einer Seite auf die andere.
»Nicht gut?«, fragt Bente und streut Pfeffer über ihren Salat.
»Doch, schon … Hast du dieses Armband noch, das du bei mir gekauft hast?«
»Klar doch.« Und Bente präsentiert zum Beweis ihr Handgelenk mit einem gefädelten Buddhakettchen.
»Ich weiß nicht, ob ich es dir damals erzählt habe, aber das sind auch Bohnen. Sieht man nicht, oder? Ich bohre sie immer quer an, wenn sie noch etwas elastisch sind. Dann kann man sie später gut auffädeln.«
Bente betrachtet erstaunt die Kette. »Das hätt ich nie geglaubt. Die sind doch blau!«
»Die blauen, das sind Cherokee Trail of Tears. Und die gemusterten sind Monstranzbohnen. Es gibt auch noch eine Sorte mit schwarzen Punkten, die heißt Nonnennabel. Die hatte ich auch schon im Garten, aber sie ist nichts geworden.« Sie nimmt einen Mundvoll und lässt die Gabel wieder sinken. »Robert ist Spezialist für Bohnen. Er treibt jedes Jahr andere Sorten auf.«
»Die sind wirklich sehr schön. Wie Perlen.«
»Es sind alte Sorten, die meisten werden in Deutschland gar nicht mehr verkauft. Robert tauscht sie bei Internetbörsen ein.«
Wenn Maria über ihren Mann spricht, sinkt ihr Tonfall zu angestrengter Neutralität ab, als gehöre ihre Privatmeinung nicht hierher. Bente kann nicht unterscheiden, ob es Gutes oder Schlechtes ist, was sie verschweigt.
»Du würdest dich wundern. In der EU darf amtlich nicht zugelassenes Saatgut nicht verkauft werden. Das gilt für fast alle alten und seltenen Sorten. Robert kann sich darüber endlos aufregen. Folge ist, dass sich Tauschbörsen für solche alten Bohnensorten entwickelt haben. Verkaufen ist nicht erlaubt. Aber tauschen darfst du noch … solange Monsanto dich lässt. Wir habe jedes Jahr Unmengen bunter Bohnen im Garten.«
»Faszinierend!« Bente dreht das Kettchen am Handgelenk. »Und diese gemusterte Bohne, wie heißt die noch mal?«
»Monstranzbohne. Weil das Muster wie eine Monstranz aussieht. Die Bauern haben früher oft eine solche Bohne an den Rand des Ackers gelegt, weil sie Segen zur Ernte erhofften. Man hat sie auch für Rosenkränze genommen … als Rosenkranzperlen, meine ich. Jetzt findet man sie kaum noch … naja, Robert findet alles.« Sie spricht mit müder Stimme.
»Es muss nett sein, einen Mann mit grünem Daumen zu haben«, bemerkt Bente. Ihr ist, als müsse sie den unbekannten Robert verteidigen. »Irgendwann möchte ich auch einen Garten haben …« Bente sieht Marias Küche vor sich: Sie, Maria, sitzt am Küchentisch und fädelt Bohnen, während ihr Gartenzwergmann mit grüner Schürze am Herd werkelt. »Nimm’s mir nicht übel, Maria, aber mir ist es immer noch ein Rätsel, wie du von diesem Laden leben kannst.«
Maria: »Kann ich auch nicht. Ohne Roberts Pension käme ich nie durch. Der Laden wirft kaum die Kosten ab.«
Bente übernimmt die Rechnung. Da sie ohnehin fast jeden Tag beim Inder einkehren, wechseln sie sich damit ab. Am Tresen stehend, zählt sie das Geld samt bescheidenem Trinkgeld auf ein Tellerchen, das ihr der Wirt hingeschoben hat. Der Wirt ist jung, untersetzt, hat einen angestrengten Blick wie ein Kurzsichtiger ohne Sehhilfe.
Maria steht abseits. Sie wechselt ein paar Worte mit der hutzeligen Teetrinkerin, reicht ihr die geöffnete Hand hin – gibt sie ihr Geld? Nein. Die Alte ergreift die Hand und streicht die Falten auf der Handfläche glatt.
Für einen Augenblick präsentieren sie sich Bente wie ein Ausschnitt aus einem alten Gemälde: konzentriert über Marias Handfläche gebeugt, die Alte angegraut und farblos in einem abgewetzten Parka, Maria mit ihrer mohnroten Jacke und einem bläulichen Lichtreflex im Haar. Dann nimmt der Wirt das Tellerchen mit einem »Dhanyavaad« an sich, und Maria zieht mit einem Ruck ihre Hand weg und wendet sich zur Tür.
II.
Maria steht nicht mehr, sie rennt beinahe. Ihr Kopf ist tief gesenkt, der Nacken drückt verkrampfte Abwehr aus. Bente folgt ihr. »Maria, was ist los? Bleib doch mal stehen!«
Dreißig Meter weiter bleibt Maria endlich stehen. Eine Hand an der Hauswand abgestützt, hebt sie den Fuß an und bohrt einen Finger zwischen Schuh und Haut. »Ach verdammt.«
»Maria, was ist mit dir? Was war mit der Alten in dem Lokal?«
Maria gräbt im Schuh, die Lippen zusammengepresst.
Bente: »Nun sag schon. Was wollte die denn?«
Ein Steinchen fällt aus dem Schuh. Endlich fängt sie an zu reden. »Sie hat mich an etwas erinnert … was im letzten Jahr passierte.«
»Du kennst sie also?«
»Wir waren auf Urlaub, Robert und ich. Wir waren wandern am Monte Generoso. Es war Anfang Juni. Wir sind eine Tour gelaufen, die wir schon mehrfach gemacht hatten … Es war wunderschön. Ganz blauer Himmel. Und krasses Tauwetter. Wo noch Schnee lag, gluckerte unter der Schneedecke das Tauwasser bergab. Und der Schnee war schwer, oben verkrustet, wie aufgefirnt. Wir sind auf der Schneedecke gelaufen. Ein paarmal haben wir den Weg verloren, weil die Markierungen nicht mehr zu sehen waren. Sie waren gelb. Gelbe Pfeile. Aber der Weg war immer mehr verschneit, je höher wir stiegen, nur manchmal guckten Steinbuckel aus dem Schnee, und wenn ein gelber Pfeil aufgemalt war, wussten wir, dass wir die Richtung noch hatten … eigentlich war es ja egal, wir hatten die Tour wie gesagt schon mehrmals gemacht, und man geht mehr oder weniger richtig, solange man steigt.« Sie stößt ein atemloses Lachen aus.
Die Straße zieht sich vor ihnen in einer langen Geraden bergab, hohe Häuser links und rechts, weit vorne liegt die Kreuzung, wo sich ihre Wege trennen werden.
»Die Tour ist verdammt anstrengend. Und ich kannte sie nur ohne Schnee. Es war heiß wie im Hochsommer, ich ging in kurzen Hosen, sogar Robert hatte die Buxen hochgekrempelt, macht er sonst nie. Und der Schnee lag hoch. Ich hatte Gehstöcke dabei, die auf einen Meter zwanzig eingestellt waren. Ich habe mal einen Stock probeweise reingestoßen, wo die gefrorene Schicht durchlässig war. Als ich mit der Spitze auf Stein stieß, guckte noch eben gerade der Griff raus. So hoch lag der Schnee. Unten drunter gluckerte das Tauwasser. Wir liefen da hoch, als gäbe es kein Morgen. Das war geradezu sträflicher Leichtsinn. Aber Leuten, die nicht denken können, passiert ja meistens nichts.« Sie versinkt in Murmeln. Es klingt wie unterdrückte Flüche.
»Und dann?«
Maria bleibt so abrupt stehen, dass Bente gegen sie prallt. »Ha! Dann hat Robert irgendwann gesagt, dass wir umkehren müssen. Er war ein Stück voraus. Auf diesem Schneebrett, unter dem das Wasser floss. Robert ist leichter als ich. Er ist ein Mann und fünf Zentimeter größer, aber trotzdem ist er leichter. Ich bin fett geworden in den letzten Jahren. Naja, ist ja egal. Eingebrochen bin ich trotzdem nicht und Robert erst recht nicht. Aber er sagte jedenfalls, dass wir umkehren müssten. Es sei zu gefährlich. Wenn was passiert, sagte er, sind wir am Arsch. Es gibt ja nicht mal ein verlässliches Handynetz so weit oben.« Erneutes stakkatoartiges Lachen, wie ein Interpunktionszeichen. »Gut, also drehen wir um. Umdrehen am Berg ist, wie soll ich sagen, ein Wechsel der Perspektive. Vorher guckt man Richtung Gipfel, danach guckt man nach unten in die Tiefe. Das war verdammt steil, alles mit Schnee bedeckt, und da mussten wir also wieder runter, ohne einen richtigen Weg. Ich hab die Stöcke reingebohrt und versucht, in meine Trittspuren vom Aufstieg zu treten. Ich weiß nicht, was Robert gemacht hat. Ich hab nach unten geschaut. Auf einmal hörte ich ihn rufen. Und im nächsten Moment rutschte er an mir vorbei. Auf dem Hintern. Er lag beinahe platt auf der Schneedecke. Die Beine gespreizt, die Arme hoch, und in den Händen die Stöcke. Die nützten ihm natürlich rein gar nichts. Er rutschte immer schneller den Hang abwärts, wie beim Schlittenfahren. Und gerade auf einen Steinbuckel zu, der noch gute zwanzig Meter unter ihm lag. Der hatte, naja, ein paar recht scharfe Kanten.«
Für Sekunden tritt Stille ein. Beide gehen bergab, in sportlichem Schritt wie Mitglieder einer Nordic-Walking-Truppe. Maria gibt das Tempo vor. Mit durchgedrückten Knien, die Arme schwingend, als ginge es ums Leben. Das liebe Leben.
Maria, mit leichtfertigem Lachen: »Bente. Du musst mich jetzt fragen: Und was dann?«
Bente: »Ja, und was dann?«
Maria schweigt. Wieder zehn Schritte. Maria: »Nein, anders. Frag mich: Was hast du gefühlt?«
Bente: »Was hast du gefühlt?«
»Hoffnung?« – sie zögert. »Ich denke darüber nach, seit wir zurückgekommen sind, Robert und ich. In fünf Wochen gehen wir wieder in Urlaub, ich habe eine Vertretung gefunden für meinen Laden, im Grunde kann ich es mir nicht leisten, aber ist ja egal. Nun also, ich stand da im Schnee, die Stöcke reingerammt, ich sah Robert rutschen, gerade auf diesen Felsbuckel zu, und dieser Felsbuckel markierte das Ende von allem. Mir ging es durch den Kopf, es dauerte nur Sekunden, aber ich hatte tausend Gedanken. Die Handyverbindung oben am Berg war bescheiden – ich wusste das, weil ich auf halber Höhe versucht hatte, das Restaurant unten anzurufen, ob der Gipfel gangbar wäre. Es gab keine Verbindung. Die Bergwacht anzurufen, wäre reine Glückssache gewesen. Und selbst wenn. Da war dieser Felsbuckel, und Robert rutschte darauf zu … ich sehe es noch … er fuchtelte mit den Stöcken in der Luft. Und was ich fühlte, ist Hoffnung.«
Ihre Schritte werden immer länger.
»Ich sah unsere Wohnung. Wir haben ein kleines ungenutztes Kinderzimmer, nicht wahr, da hat Robert seinen Schreibtisch drin, und sonst allerhand Kram. Ich würde mein Einzelbett in diesem Zimmer aufstellen und unser Schlafzimmer als Arbeitszimmer nehmen. Ich würde mir einen großen Brenner kaufen und lernen, selbst Glasperlen zu machen. Tiffanyperlen. Ich würde im Garten Rasen ansäen und höchstens zwei Apfelbäume pflanzen, Halbstämme, die machen nicht viel Arbeit. Und einen großen Freisitz ausbauen, damit ich im Sommer ein paar Leute zum Grillen einladen kann. Und ich würde … «, ihre Stimme vermurmelt sekundenlang. »Ja! Und dann würde ich einen Tangokurs besuchen. Ich möchte richtig tanzen lernen. Tango und Salsa. Davon habe ich immer geträumt. Ich möchte jeden Abend ausgehen und tanzen, oder ins Theater.«
Ihre Stimme versickert. Sie scheint vorläufig zum Schluss gekommen zu sein.
Bente: »Das hast du alles gedacht?«
Maria: »Wie ich sage.«
»In den paar Sekunden?«
»Sekundenbruchteilen. Das ging mir alles durch den Kopf, in Bildern, verstehst du, Schlag auf Schlag wie Peitschenknallen.«
Bente zögert, es klingt allzu ungehörig: »Du hast dir gewünscht, dass er auf den Stein prallt?«
»Sag sowas nicht. Ich hab mir gar nichts gewünscht.«
»Und was dann?«
»Ich hab es gesehen. Und alles andere. Meinen Glasbrenner. Den Freisitz im Garten, wenn ich diese ganzen Bohnenbeete plattgemacht habe. Und mich selbst, wie ich Tango tanze. Ich habe es gesehen.«
»Und Robert?«
»Er rutschte weiter, bis beinahe gegen den Felsbuckel, und dann schaffte er es, eine Ferse in den Schnee zu bohren … wie man beim Schlittenfahren lenkt. Er lenkte seitlich an dem Felsbuckel vorbei, und dabei verhakte er einen Stock an dem Felsen und hörte zu rutschen auf. Er kam sogar auf die Beine. Er hatte sich in die Hosen gemacht. Aber das wäre mir wohl genauso gegangen. Er lachte und meinte, er hätte Sternchen gesehen und die Engel singen gehört. Und so weiter. Die Sache war erledigt. Ich hatte das Handy schon in der Hand gehabt und steckte es wieder weg.«
Pause.
Bente: »Warst du enttäuscht?«
Pause.
Maria, verlegen lachend: »Ich weiß nicht. Es war irgendwie alles anders. Oder vielmehr, es war alles anders gewesen und nun war es wieder wie zuvor. Oder doch nicht. Eigentlich ist seitdem nichts mehr wie zuvor. Ich bin anders.«
Beide gehen eine Weile schweigend, bis Bente den Mut gefunden hat, in neutralem Ton zu fragen. »Warum lässt du dich nicht scheiden?«
»Was? Warum denn?«
»Es klingt, als sei es das Beste für dich.«
»Ich kann mich nicht scheiden lassen«, erwidert Maria schroff. »Du verstehst das nicht. Ich bin über fünfzig. Robert ist über sechzig. Wir sind dreißig Jahre verheiratet. Da lässt man sich nicht mehr scheiden. Und was sollte danach aus mir werden? Mit dem Laden? Den habe ich doch bloß, um nicht bei Robert zu Hause zu sitzen.«
»Ich dachte, du liebst den Laden.«
Maria sagt nichts mehr. Die Kreuzung rückt ständig näher. Dort muss Maria links gehen und Bente rechts.
»Aber du hast mir immer noch nicht gesagt«, fängt Bente wieder an, »was mit der Alten war. Der Alten, die bei dem Inder saß.«
»Die Alte!« Maria lacht. »Die wollte mir aus der Hand lesen. Ich dachte zuerst, was für ein Quatsch. Sie sagte allen Ernstes zu mir, ich sei eine schöne Frau, und ob sie mir aus der Hand weissagen solle.«
»Wollte sie Geld?«
»Nein. Davon war gar nicht die Rede.«
»Und was hat sie dir gesagt?«
»Nur einen Satz: Er wird dich überleben.«
Bente schaut Maria von der Seite an, die schmalen Lippen, die eingekniffenen Nasenflügel. Marias Stirn flammt feuerrot.
» Bist du sicher, dass du richtig gehört hast?«
»Ja.«
»Er wird dich überleben? Sonst nichts? Das ergibt doch keinen Sinn. Warum sollte sie so etwas sagen? Kennt sie dich?«
»Selbst wenn sie mich kennen würde – wäre das ein Unterschied? Wie kann sie wissen, was ich bis vor kurzem nicht mal selbst über mich wusste? Ich spreche doch nicht über diese Geschichte. Nicht mal mit mir.«
»Die hat einfach irgendwas geredet. Wahrscheinlich hast du sie falsch verstanden.«
Sie stehen vor der Kreuzung. Maria lehnt sich gegen eine Straßenlaterne, um wieder einmal an ihrem Fuß zu hantieren.
»Weißt du was«, bemerkt Bente leichthin, »lass uns morgen zum Inder gehen. Vielleicht sitzt sie wieder da. Dann soll sie mal aus meiner Hand lesen. Vielleicht sagt sie mir genau das gleiche.«
»Morgen ist Samstag«, erwidert Maria und zieht ihren Schuh aus. »Weißt du was, ich hab diese Schuhe satt. Ich gehe jetzt barfuß.«
»Du bekommst ganz dreckige Füße.«
»Und wenn schon.« Maria stopft die Schuhe in ihre Handtasche. »Eins musst du mir noch sagen, Bente. Es lässt mir keine Ruhe … sieht man mir irgendetwas an?«
»Was sollte ich dir denn ansehen?«
»Die Schuld«, sagte Maria. »Irgendwas muss man doch sehen in meinem Gesicht. Wie käme die Alte sonst darauf?«
Sie nähert sich Bente bis auf wenige Handbreit. Marias Gesicht ist so schuldbewusst, wie ein Gesicht nur sein kann. Stirn und Wangen glühen vor Hitze, kaum weniger rot als die mohnfarbene Jacke. Auf den Schläfen stehen Schweißperlen.
»Kann ich nicht beantworten«, sagt Bente zögernd. »Das wäre doch verrückt. Was erwartest du denn? So eine Art Kainsmal?«
»Ach, keine Ahnung.« Jetzt bewegen sich beide rückwärts, als erste Stufe des Abschiednehmens.
»Ich muss dann mal«, sagt Bente, und Maria gleichzeitig: »Gute Nacht.«
Bente: »Ich hab Samstag frei, weißt du ja. Aber Montag dann wieder.«
Maria: »Ja, bis Montag also.«
Sie gehen weiter rückwärts, mit zögernden Schritten, wie um einander so lange wie möglich im Auge zu behalten. Bente: »Schlaf gut, Maria.«
Maria nickt, und endlich wenden sie einander den Rücken zu. Es ist wie ein Abschied für sehr lange Zeit, wenn nicht für immer. Jede geht in ihre Richtung. Maria holt die Schuhe wieder aus der Tasche – sie wird sie an der nächsten Ecke, an eine Hauswand gelehnt, wieder anziehen. Und Bente bleibt an einer Bushaltestelle stehen, um den Fahrplan genauer anzusehen. Am Montagabend, nimmt sie sich vor, wird sie fahren.