Das Armband
Verfasst: 07.05.2014, 18:57
Sie saß an der alten Pfaff, die im Alter immer größer werdende Nase über den Kissenbezug gebeugt, in den sie mit rasendem Pedaltritt einen kunstvollen Hohlsaum hineinratterte, und das mit rheumatisch völlig verbogenen Fingern, die Grundgelenke rot angeschwollen. „Und dann wird er im Abendrot kommen und mich zum Herrgott emportragen!“ Sie sprach von ihrem zweiten Mann; am Ringfinger der linken Hand trug sie zwei Eheringe. Von ihrem ersten sprach sie nie, gerade als wäre er eine Art bedauerlicher Irrtum gewesen. Den zweiten aber hatte sie jahrelang als seine Haushälterin stumm geliebt, während die gelähmte Frau aus ihrem Rollstuhl heraus eifersüchtig über ihn wachte. Als sie schließlich starb, war es gerade noch früh genug, um ihn zu heiraten. Nur drei Jahre Eheglück waren ihnen beschieden. Er vermachte ihr, bevor er starb, ein schweres goldenes Armband: „Für den Fall, dass du einmal Geld brauchst.“ Ja, er hatte sie wirklich geliebt. Der Gedanke an ihn verschmolz mit ihrem Glauben zur unbedingten Gewissheit eines Wiedersehens im Himmel.
Ich liebte Frau Schmal, die seit Jahren dreimal wöchentlich zu uns putzen, nähen und kochen kam, auch wenn ich ihren Glauben nicht teilte. Begann sie dann zu singen: „Herrscher über Tod und Leben,/mach einmal mein Ende gut,/lass mich meinen Geist aufgeben/mit recht wohlgefasstem Mut./Hilf, dass ich ein ehrlich Grab/neben frommen Christen hab/und auch endlich in der Erde/nimmermehr zuschanden werde!“, so wurde mir ganz wunderlich zumute, und ich musste ihr im Stillen recht geben, wenn sie von mir sagte, ich sei „ein armes Heidenkind“.
Von meinem Bruder, der sich mit Schönschrift auskannte, ließ sie sich das Pauluswort „Denen aber, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Rechten dienen“ mit Ausziehtusche auf ein weißes Blatt schreiben, das sie rahmte und an die Wand ihres Zimmers in der Oberstadt hängte. Ihr Glaube wurde geprüft, als sie erkrankte; aber auch die Erkrankung kam vom Herrn, sie nahm sie hin, war aber nicht ausreichend versichert, um die Therapien, denen sich zu unterziehen sie sich schon unseretwegen für verpflichtet hielt, zu bezahlen. Da gab sie meiner Mutter das Armband ihres zweiten Mannes und bat sie, es zum Juwelier zu bringen und zu verkaufen.
Auf die Weise war sie nun aller Sorgen ledig, konnte den Arzt und die Therapie aus eigener Tasche bezahlen, und es war sogar noch genug übrig für ihre Beerdigung. Sie litt noch einige Wochen lang, wurde ganz gelb, ihre Hände wurden zu riesigen Klauen, die auf dem Bettbezug ruhelos hin und her webten, als sei noch das Sterben eine Arbeit, die mit unermüdlichem Fleiß getan werden musste.
Nach der Beerdigung kam es heraus, und es führte zu einer Krise zwischen meinen Eltern. Mein Vater war Richter, und der Juwelier war sein Beisitzer. Er hatte mit einem Augenzwinkern von dem Goldarmband erzählt, das meine Mutter ihm zum Kauf angeboten hatte. Wir hatten gerade im Physikunterricht gehabt, wie Archimedes herausgefunden hatte, ob die Krone seines Auftraggebers aus massivem Gold war oder nicht. Er war zum Baden in eine Wanne gestiegen, hatte gesehen, wie sie überlief – und hatte „Heureka!“ gerufen.
Darüber, dass meine Mutter eignes Geld eingesetzt hatte, um Arzt, Therapie und Begräbnis zu bezahlen, war mein Vater nicht sauer. Das war ihr gutes Recht, schließlich hatte Frau Schmal uns über ein Jahrzehnt mit unermüdlicher Treue gedient, sie hatte diese Anerkennung verdient. Nein, was meinen Vater aufregte, war, dass meine Mutter Frau Schmal in dem Glauben hatte sterben lassen, das Armband sei aus massivem Gold gewesen – obgleich es in Wahrheit aus vergoldetem Blei bestand. „Du hast sie sterben lassen in ihrem Zuckerbäcker-Wolkenkuckucksheim und hättest die Chance gehabt, sie in die einzige, die unerbittliche Wahrheit zu führen, dass nach dem Tod nichts aufs wartet als derselbe einsame und mit Millionen geteilte Schlummer, in dem wir Jahrtausende lagen, bevor wir geboren wurden.“
„Aber der wartet doch auf jeden Fall auf sie!“, erwiderte meine Mutter. „Warum sollte sie sich vorher nicht mit Illusionen trösten? Warum soll es mir verboten sein, diese Illusionen zu stützen? Es wäre mir grausam erschienen, sie kurz vor ihrem Tod zu zerstören. Hinzu wäre gekommen, dass es sie in ihrem Stolz gekränkt hätte. Sie wollte wenigstens am Ende ihres Lebens nicht Lohnempfängerin sein, sondern für sich selbst aufkommen.“
Für diesen Konflikt gibt es keine Lösung. Er dauert bis heute in mir fort, auch nachdem die Streitenden längst in den Schlummer der Millionen zurückgekehrt sind. Aber immer, wenn ich sehe und höre, wie jemand sich mit einer frommen Lüge tröstet, trete ich zurück und ermahne mich: „Respektiere es!“ Nur wenn im Namen frommer Lügen gemordet wird – dann widerlege und verhöhne ich sie mit Genuss!
Ich liebte Frau Schmal, die seit Jahren dreimal wöchentlich zu uns putzen, nähen und kochen kam, auch wenn ich ihren Glauben nicht teilte. Begann sie dann zu singen: „Herrscher über Tod und Leben,/mach einmal mein Ende gut,/lass mich meinen Geist aufgeben/mit recht wohlgefasstem Mut./Hilf, dass ich ein ehrlich Grab/neben frommen Christen hab/und auch endlich in der Erde/nimmermehr zuschanden werde!“, so wurde mir ganz wunderlich zumute, und ich musste ihr im Stillen recht geben, wenn sie von mir sagte, ich sei „ein armes Heidenkind“.
Von meinem Bruder, der sich mit Schönschrift auskannte, ließ sie sich das Pauluswort „Denen aber, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Rechten dienen“ mit Ausziehtusche auf ein weißes Blatt schreiben, das sie rahmte und an die Wand ihres Zimmers in der Oberstadt hängte. Ihr Glaube wurde geprüft, als sie erkrankte; aber auch die Erkrankung kam vom Herrn, sie nahm sie hin, war aber nicht ausreichend versichert, um die Therapien, denen sich zu unterziehen sie sich schon unseretwegen für verpflichtet hielt, zu bezahlen. Da gab sie meiner Mutter das Armband ihres zweiten Mannes und bat sie, es zum Juwelier zu bringen und zu verkaufen.
Auf die Weise war sie nun aller Sorgen ledig, konnte den Arzt und die Therapie aus eigener Tasche bezahlen, und es war sogar noch genug übrig für ihre Beerdigung. Sie litt noch einige Wochen lang, wurde ganz gelb, ihre Hände wurden zu riesigen Klauen, die auf dem Bettbezug ruhelos hin und her webten, als sei noch das Sterben eine Arbeit, die mit unermüdlichem Fleiß getan werden musste.
Nach der Beerdigung kam es heraus, und es führte zu einer Krise zwischen meinen Eltern. Mein Vater war Richter, und der Juwelier war sein Beisitzer. Er hatte mit einem Augenzwinkern von dem Goldarmband erzählt, das meine Mutter ihm zum Kauf angeboten hatte. Wir hatten gerade im Physikunterricht gehabt, wie Archimedes herausgefunden hatte, ob die Krone seines Auftraggebers aus massivem Gold war oder nicht. Er war zum Baden in eine Wanne gestiegen, hatte gesehen, wie sie überlief – und hatte „Heureka!“ gerufen.
Darüber, dass meine Mutter eignes Geld eingesetzt hatte, um Arzt, Therapie und Begräbnis zu bezahlen, war mein Vater nicht sauer. Das war ihr gutes Recht, schließlich hatte Frau Schmal uns über ein Jahrzehnt mit unermüdlicher Treue gedient, sie hatte diese Anerkennung verdient. Nein, was meinen Vater aufregte, war, dass meine Mutter Frau Schmal in dem Glauben hatte sterben lassen, das Armband sei aus massivem Gold gewesen – obgleich es in Wahrheit aus vergoldetem Blei bestand. „Du hast sie sterben lassen in ihrem Zuckerbäcker-Wolkenkuckucksheim und hättest die Chance gehabt, sie in die einzige, die unerbittliche Wahrheit zu führen, dass nach dem Tod nichts aufs wartet als derselbe einsame und mit Millionen geteilte Schlummer, in dem wir Jahrtausende lagen, bevor wir geboren wurden.“
„Aber der wartet doch auf jeden Fall auf sie!“, erwiderte meine Mutter. „Warum sollte sie sich vorher nicht mit Illusionen trösten? Warum soll es mir verboten sein, diese Illusionen zu stützen? Es wäre mir grausam erschienen, sie kurz vor ihrem Tod zu zerstören. Hinzu wäre gekommen, dass es sie in ihrem Stolz gekränkt hätte. Sie wollte wenigstens am Ende ihres Lebens nicht Lohnempfängerin sein, sondern für sich selbst aufkommen.“
Für diesen Konflikt gibt es keine Lösung. Er dauert bis heute in mir fort, auch nachdem die Streitenden längst in den Schlummer der Millionen zurückgekehrt sind. Aber immer, wenn ich sehe und höre, wie jemand sich mit einer frommen Lüge tröstet, trete ich zurück und ermahne mich: „Respektiere es!“ Nur wenn im Namen frommer Lügen gemordet wird – dann widerlege und verhöhne ich sie mit Genuss!