Sie saß an der alten Pfaff, die im Alter immer größer werdende Nase über den Kissenbezug gebeugt, in den sie mit rasendem Pedaltritt einen kunstvollen Hohlsaum hineinratterte, und das mit rheumatisch völlig verbogenen Fingern, die Grundgelenke rot angeschwollen. „Und dann wird er im Abendrot kommen und mich zum Herrgott emportragen!“ Sie sprach von ihrem zweiten Mann; am Ringfinger der linken Hand trug sie zwei Eheringe. Von ihrem ersten sprach sie nie, gerade als wäre er eine Art bedauerlicher Irrtum gewesen. Den zweiten aber hatte sie jahrelang als seine Haushälterin stumm geliebt, während die gelähmte Frau aus ihrem Rollstuhl heraus eifersüchtig über ihn wachte. Als sie schließlich starb, war es gerade noch früh genug, um ihn zu heiraten. Nur drei Jahre Eheglück waren ihnen beschieden. Er vermachte ihr, bevor er starb, ein schweres goldenes Armband: „Für den Fall, dass du einmal Geld brauchst.“ Ja, er hatte sie wirklich geliebt. Der Gedanke an ihn verschmolz mit ihrem Glauben zur unbedingten Gewissheit eines Wiedersehens im Himmel.
Ich liebte Frau Schmal, die seit Jahren dreimal wöchentlich zu uns putzen, nähen und kochen kam, auch wenn ich ihren Glauben nicht teilte. Begann sie dann zu singen: „Herrscher über Tod und Leben,/mach einmal mein Ende gut,/lass mich meinen Geist aufgeben/mit recht wohlgefasstem Mut./Hilf, dass ich ein ehrlich Grab/neben frommen Christen hab/und auch endlich in der Erde/nimmermehr zuschanden werde!“, so wurde mir ganz wunderlich zumute, und ich musste ihr im Stillen recht geben, wenn sie von mir sagte, ich sei „ein armes Heidenkind“.
Von meinem Bruder, der sich mit Schönschrift auskannte, ließ sie sich das Pauluswort „Denen aber, die Gott lieben, müssen alle Dinge zum Rechten dienen“ mit Ausziehtusche auf ein weißes Blatt schreiben, das sie rahmte und an die Wand ihres Zimmers in der Oberstadt hängte. Ihr Glaube wurde geprüft, als sie erkrankte; aber auch die Erkrankung kam vom Herrn, sie nahm sie hin, war aber nicht ausreichend versichert, um die Therapien, denen sich zu unterziehen sie sich schon unseretwegen für verpflichtet hielt, zu bezahlen. Da gab sie meiner Mutter das Armband ihres zweiten Mannes und bat sie, es zum Juwelier zu bringen und zu verkaufen.
Auf die Weise war sie nun aller Sorgen ledig, konnte den Arzt und die Therapie aus eigener Tasche bezahlen, und es war sogar noch genug übrig für ihre Beerdigung. Sie litt noch einige Wochen lang, wurde ganz gelb, ihre Hände wurden zu riesigen Klauen, die auf dem Bettbezug ruhelos hin und her webten, als sei noch das Sterben eine Arbeit, die mit unermüdlichem Fleiß getan werden musste.
Nach der Beerdigung kam es heraus, und es führte zu einer Krise zwischen meinen Eltern. Mein Vater war Richter, und der Juwelier war sein Beisitzer. Er hatte mit einem Augenzwinkern von dem Goldarmband erzählt, das meine Mutter ihm zum Kauf angeboten hatte. Wir hatten gerade im Physikunterricht gehabt, wie Archimedes herausgefunden hatte, ob die Krone seines Auftraggebers aus massivem Gold war oder nicht. Er war zum Baden in eine Wanne gestiegen, hatte gesehen, wie sie überlief – und hatte „Heureka!“ gerufen.
Darüber, dass meine Mutter eignes Geld eingesetzt hatte, um Arzt, Therapie und Begräbnis zu bezahlen, war mein Vater nicht sauer. Das war ihr gutes Recht, schließlich hatte Frau Schmal uns über ein Jahrzehnt mit unermüdlicher Treue gedient, sie hatte diese Anerkennung verdient. Nein, was meinen Vater aufregte, war, dass meine Mutter Frau Schmal in dem Glauben hatte sterben lassen, das Armband sei aus massivem Gold gewesen – obgleich es in Wahrheit aus vergoldetem Blei bestand. „Du hast sie sterben lassen in ihrem Zuckerbäcker-Wolkenkuckucksheim und hättest die Chance gehabt, sie in die einzige, die unerbittliche Wahrheit zu führen, dass nach dem Tod nichts aufs wartet als derselbe einsame und mit Millionen geteilte Schlummer, in dem wir Jahrtausende lagen, bevor wir geboren wurden.“
„Aber der wartet doch auf jeden Fall auf sie!“, erwiderte meine Mutter. „Warum sollte sie sich vorher nicht mit Illusionen trösten? Warum soll es mir verboten sein, diese Illusionen zu stützen? Es wäre mir grausam erschienen, sie kurz vor ihrem Tod zu zerstören. Hinzu wäre gekommen, dass es sie in ihrem Stolz gekränkt hätte. Sie wollte wenigstens am Ende ihres Lebens nicht Lohnempfängerin sein, sondern für sich selbst aufkommen.“
Für diesen Konflikt gibt es keine Lösung. Er dauert bis heute in mir fort, auch nachdem die Streitenden längst in den Schlummer der Millionen zurückgekehrt sind. Aber immer, wenn ich sehe und höre, wie jemand sich mit einer frommen Lüge tröstet, trete ich zurück und ermahne mich: „Respektiere es!“ Nur wenn im Namen frommer Lügen gemordet wird – dann widerlege und verhöhne ich sie mit Genuss!
Das Armband
Hallo Quoth,
das ist eine schöne, stimmige und runde Geschichte, in einem Rutsch gut zu lesen.
Zwei Einwände habe ich allerdings: Zum ersten kommt der Hinweis, dass Frau Schmal in den Diensten der Familie des Erzählers stand, für mein Gefühl zu spät. Da es früher heißt, dass sie die Haushälterin ihres zweiten Mannes war, habe ich automatisch angenommen, sie sei eine Nachbarin oder Bekannte der Familie gewesen, oder eine entfernte Verwandte ... Oder habe ich etwas überlesen?
Und dann diese Stelle:
Das ist für mich nicht wirklich logisch - nach meiner Erfahrung wird bei tief gläubigen Menschen der Glaube durch solche unangenehmen Wahrheiten, die aber der Sache nach ins Diesseits gehören, nicht erschüttert. Eher im Gegenteil. Ich weiß nicht, ob Du "Der veruntreute Himmel" von Franz Werfel kennst. Die Heldin Teta Lienek hat nach einer ähnlichen Erfahrung zwar die Erkenntnis gewonnen, aufs falsche Pferd gesetzt zu haben, aber das mindert ihren Glauben an das bessere Jenseits nicht. Irgendwie macht für mich die Logik des Richter-Vaters an dieser Stelle einen Bocksprung.
Aber meiner Meinung nach sind ohnehin Männer das unlogischere Geschlecht ;o)
Grüße von Zefira
das ist eine schöne, stimmige und runde Geschichte, in einem Rutsch gut zu lesen.
Zwei Einwände habe ich allerdings: Zum ersten kommt der Hinweis, dass Frau Schmal in den Diensten der Familie des Erzählers stand, für mein Gefühl zu spät. Da es früher heißt, dass sie die Haushälterin ihres zweiten Mannes war, habe ich automatisch angenommen, sie sei eine Nachbarin oder Bekannte der Familie gewesen, oder eine entfernte Verwandte ... Oder habe ich etwas überlesen?
Und dann diese Stelle:
Nein, was meinen Vater aufregte, war, dass meine Mutter Frau Schmal in dem Glauben hatte sterben lassen, das Armband sei aus massivem Gold gewesen – obgleich es in Wahrheit aus vergoldetem Blei bestand. „Du hast sie sterben lassen in ihrem Zuckerbäcker-Wolkenkuckucksheim und hättest die Chance gehabt, sie in die einzige, die unerbittliche Wahrheit zu führen, dass nach dem Tod nichts aufs wartet als derselbe einsame und mit Millionen geteilte Schlummer, in dem wir Jahrtausende lagen, bevor wir geboren wurden.“
Das ist für mich nicht wirklich logisch - nach meiner Erfahrung wird bei tief gläubigen Menschen der Glaube durch solche unangenehmen Wahrheiten, die aber der Sache nach ins Diesseits gehören, nicht erschüttert. Eher im Gegenteil. Ich weiß nicht, ob Du "Der veruntreute Himmel" von Franz Werfel kennst. Die Heldin Teta Lienek hat nach einer ähnlichen Erfahrung zwar die Erkenntnis gewonnen, aufs falsche Pferd gesetzt zu haben, aber das mindert ihren Glauben an das bessere Jenseits nicht. Irgendwie macht für mich die Logik des Richter-Vaters an dieser Stelle einen Bocksprung.
Aber meiner Meinung nach sind ohnehin Männer das unlogischere Geschlecht ;o)
Grüße von Zefira
Vor der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
(Ikkyu Sojun)
Nach der Erleuchtung: Holz hacken, Wasser holen.
(Ikkyu Sojun)
Hallo Quoth,
was Frau Schmal angeht, ging es mir wie Zefi. Ich verstand zuerst nicht, wer sie ist in diesem Zusammenhang.
Hier:
frage ich mich, warum die Nase im Alter immer größer wird? Sie wirkt vllt. optisch größer, weil das Gesicht im Alter etwas zusammenfällt, meintest du das? Dann ist es ok.
Liebe Grüße
Gabi, die auch ne alte Pfaff hat. Diese Nähmaschinen sind sowas von robust, die halten ewig. ,-)
was Frau Schmal angeht, ging es mir wie Zefi. Ich verstand zuerst nicht, wer sie ist in diesem Zusammenhang.
Hier:
Quoth hat geschrieben:die im Alter immer größer werdende Nase über den Kissenbezug gebeugt
frage ich mich, warum die Nase im Alter immer größer wird? Sie wirkt vllt. optisch größer, weil das Gesicht im Alter etwas zusammenfällt, meintest du das? Dann ist es ok.
Liebe Grüße
Gabi, die auch ne alte Pfaff hat. Diese Nähmaschinen sind sowas von robust, die halten ewig. ,-)
Für die Nase hätte ich eine Lösung: "die im Alter immer größer wirkende Nase".
Die Geschichte schildert das Leben, wie es wirklich ist.
Ich finde auch, dass sie rund ist und perfekt geschrieben.
Man liest sie in einem Rutsch.
Und dann, wie fast immer, ist man mit der Moral beschäftigt. Die Literatur wird von der Moral verdrängt.
Es ist so. Es geht nicht anders. Neulich las ich Gedichte von einem spanischen Dichter, der sich immer offen zu den Falangisten im Bürgerkrieg bekannte. Ich habe eiln paara Gedichte gelesen, als solche waren sie nicht schlecht: Im Gegenteil, aber ich konnte nicht umhin, ihn zu verwerfen.
Ich persönlich finde wunderbar, was die Mutter des Autors gemacht hat. Die "Wahrheit" wäre nur grausam gewesen.
Einem sterbenden Menschen darf man nicht eine Illusion rauben.
Die Geschichte schildert das Leben, wie es wirklich ist.
Ich finde auch, dass sie rund ist und perfekt geschrieben.
Man liest sie in einem Rutsch.
Und dann, wie fast immer, ist man mit der Moral beschäftigt. Die Literatur wird von der Moral verdrängt.
Es ist so. Es geht nicht anders. Neulich las ich Gedichte von einem spanischen Dichter, der sich immer offen zu den Falangisten im Bürgerkrieg bekannte. Ich habe eiln paara Gedichte gelesen, als solche waren sie nicht schlecht: Im Gegenteil, aber ich konnte nicht umhin, ihn zu verwerfen.
Ich persönlich finde wunderbar, was die Mutter des Autors gemacht hat. Die "Wahrheit" wäre nur grausam gewesen.
Einem sterbenden Menschen darf man nicht eine Illusion rauben.
Hallo Zefira und Gabriella, hab etwas eingefügt, um die Stellung von Frau Schmal früher zu klären.
Die immer größer werdende Nase beruht nat+rlich auf dem immer kleiner werdenden Gesicht - wie es das höhere Alter so mit sich bringt ...
Den logischen "Bocksprung" des Vaters lasse ich so stehen, Zefira. Auch der Atheismus hat seine ihm eigene Intoleranz!
Hallo Klimperer,
einen Schock der von Dir beschriebenen Art habe ich erlebt, als ich jetzt las, dass die von mir bewunderte Gertrude Stein Reden von Marschall Pétain übersetzte, um sie dem amerikanischen Publikum näher zu bringen. Vergleichbar den Ansprachen von Ezra Pound, die dieser zugunsten von Mussolinis Italien hielt. Oder von Knut Hamsun, der auf seine alten Tage ein Quisling wurde ... Aber alle drei Autoren kann ich deshalb nicht endgültig fallen lassen. Ich rechtfertige ihre Abirrungen nicht, finde aber, dass sie - als sie jünger waren - tolle Texte geschrieben haben.
Gruß
Quoth
Die immer größer werdende Nase beruht nat+rlich auf dem immer kleiner werdenden Gesicht - wie es das höhere Alter so mit sich bringt ...
Den logischen "Bocksprung" des Vaters lasse ich so stehen, Zefira. Auch der Atheismus hat seine ihm eigene Intoleranz!
Hallo Klimperer,
einen Schock der von Dir beschriebenen Art habe ich erlebt, als ich jetzt las, dass die von mir bewunderte Gertrude Stein Reden von Marschall Pétain übersetzte, um sie dem amerikanischen Publikum näher zu bringen. Vergleichbar den Ansprachen von Ezra Pound, die dieser zugunsten von Mussolinis Italien hielt. Oder von Knut Hamsun, der auf seine alten Tage ein Quisling wurde ... Aber alle drei Autoren kann ich deshalb nicht endgültig fallen lassen. Ich rechtfertige ihre Abirrungen nicht, finde aber, dass sie - als sie jünger waren - tolle Texte geschrieben haben.
Gruß
Quoth
Barbarus hic ego sum, quia non intellegor ulli.
Wer ist online?
Mitglieder in diesem Forum: 0 Mitglieder und 10 Gäste